Wie kommt die Dichtung in die Welt? Und was hat sie mit Gesang zu tun? Wie kann einer Dichter werden? Oder braucht man dazu ein Naturtalent? Oder einen besonderen Met, damit die Sache süffig wird? Alles Fragen, um die sich ein Essay von Dieter Kalka aus dem Jahr 2001 dreht, den er jetzt leicht überarbeitet veröffentlicht hat, angereichert mit Gedichten eines deutsch-polnischen Arbeitstreffens.

Das fand als Orpheus-Projekt 1999 und 2001 in Breslau und Bad Muskau statt. Und natürlich machen sich die vier in diesem Bändchen vertretenen Dichter Gedanken darüber, wie Dichtung wirkt, welche Rolle Dichter spielen, was sie zu sagen haben und ob es überhaupt wichtig ist. Hört denn einer zu?

Oder werden die Worte nur in die Nacht gesprochen. Sind nur für den wichtig, der sie aufschreibt und spricht?
Natürlich geht es an die Wurzeln, wenn Dieter Kalka versucht, den Ursprung der Dichtung in zwei verschiedenen Mythen zu finden, von denen – so sieht er es – der griechische Mythos vom Sänger Orpheus bis heute der bekanntere ist.

Während die Beziehung Odins zur germanischen Dichtung fast unbekannt ist. Eigentlich so unbekannt, wie die gesamte germanische Mythologie, die zwar in einer isländischen Variante als „Edda“ überliefert ist. Aber die kennt – außer emsigen Germanisten – kaum einer.

Das hat durchaus auch damit zu tun, dass die deutsche Klassik vor allem die Mythen der Antike rezipierte und eben nicht gerade Anschluss suchte an die Glaubenswelt der alten Germanen, sondern an die Maßstäbe antiker Dichtung. Auch wenn dann so manche Figur aus dem griechischen Sagenkosmos falsch interpretiert wurde.

So auch der Sänger Orpheus, der „mit seinem Gesang sogar die Sirenen übertönt“ haben soll. Das klingt nicht wirklich nach einem Dichter, der sich im Kämmerlein daran macht, seine Gedanken über die Welt in kunstvoll gearbeiteten Versen zu Papier zu bringen.

Verlorene Mythen

Aus der Perspektive von Dieter Kalka ein echtes Dilemma. Denn er hat ja auch beide Seelen in der Brust – die des Sängers, der in den späten Jahren der DDR seine widerspenstigen Lieder sang, und die des Dichters, der nach dem Ende der DDR eine neue Rolle als Literat suchte. 2018 z. B. veröffentlichte er mit „Sudička“ einen Roman über die slawische Vorzeit jenes Gebietes, das heute Ostdeutschland ist und dessen slawische Vorgeschichte nur wenigen noch präsent ist.

Auch in diesem Roman tangierte Kalka das Thema der Mythen, wohl wissend, dass von den einstigen slawischen Vorstellungen der Götterwelt erst recht kaum etwas überliefert ist. Die christlichen Eroberer haben gründlich aufgeräumt mit dem alten „Heidentum“, das eben auch immer das Problem hatte, dass es dazu keine schriftliche Überlieferung gab. Anders als bei den griechischen und römischen Mythen.

Wer da also zur Feder greift oder zur Computertastatur, der steckt in einem Dilemma, wenn er nach einem Ort sucht, an dem er sich wirklich heimisch fühlen kann. Denn all die vielen Gedichte und Lieder, in denen sich in der Vergangenheit deutsche Dichter quasi zu Adepten des griechischen Sängers erklärten, waren ja – bei genauem Hinschauen – immer nur kunstvolle Aneignungen.

Der Versuch, ein fremdes Gewand anzuziehen und den eigenen Versen Bedeutung zu geben, indem man darin seine klassische antike Bildung zelebrierte. Wirklich zu Herzen geht das alles nicht.

Die Fährnisse des Schreibens

Wobei Kalkas Frage offenbleiben muss, was Goethe auf die Beine gestellt hätte, wenn er sich mit der germanischen Mythologie und der Rolle Odins beschäftigt hätte. Eine leider müßige Frage. Denn Dichter sind eigenwillige Köpfe, Eigenbrötler und Arbeiter in der Einsamkeit sowieso. Die machen, was sie machen müssen.

Darauf kommt Kalka durchaus zu sprechen. Denn das hat mit der Suche des Dichters nach sich selbst und seinem Tun zu tun. Denn Dichtung liegt nicht auf der Zunge. Wer es wirklich versucht, wesentlich zu werden beim Scheiben, der muss sich verwandeln und Fährnisse eingehen.

„Der Dichter schöpft aus dem Mangel“, schreibt Kalka. „Aus den schweißigen Mühen des Fleißes muss er, ähnlich wie Odin, etwas opfern. Ein Auge für etwas Weisheit oder ein Bein vielleicht. Schließlich ist der Poet kein Gott, nur ein Mensch.“

Was übrigens ein wesentlicher Teil heidnischer Glaubensvorstellungen ist: dass Menschen immer in einer Tauschbeziehung stehen mit ihrer lebendigen und beseelten Umwelt. Davon zeugen Opferkulte genauso wie die Schenkriten um die Weihnachtszeit. Bei denen auch die Tiere im Stall nicht vergessen wurden.

Man achtete noch auf seine Mitwelt, denn man war auf sie angewiesen. Dass wir heute glauben, wir seien es nicht mehr, ist ein Irrtum. Aber so benehmen wir uns. Und sehen Gedichte und Lieder auch nicht mehr als Geschenk. Und die Sänger unter uns nicht mehr als Mittler.

Sodass Dichtung durchaus eine brotlose Kunst ist, wenn manche der Schreibenden nicht – wie Kalka es nennt – zu „Staatsdichtern“ werden, mit Stipendien und Druckkostenzuschüssen gefördert.

Ganz bestimmt kein Broterwerb

Aber zur Wahrheit gehört auch: Wir bekämen sonst vieles nicht zu lesen. Auch manch Gutes und Bleibendes nicht. Aber recht hat Kalka: Wer unter solchen Bedingungen zum Dichter werden will, der muss wissen, worauf er sich einlässt, wenn er daneben nicht einen Brotberuf hat, der ihn über Wasser hält.

Was ganz bestimmt keine leichte Kunst ist. Denn die Zeit für den Broterwerb fehlt beim Arbeiten an sich selbst. Den Ruhm der Gegenwart ernten die Dichter in der Regel nie. Höchstens einen der vielen Preise, die sich dann in der Biografie so schön machen.

„Was Orpheus als Ruhm in seinen besten Jahren des Lebens versüßte, ist den Poeten der Nachruhm. Wo Orpheus während des Gesanges in der Menge badete, kasteien sich Dichter in der Einsamkeit“, schreibt Kalka. Schön singen können sie meistens auch nicht.

Und trotzdem stimmt für Kalka das alte Vorbild Orpheus nicht mehr: „Orpheus ist längst nicht mehr der Held des Mythos. Nur die einseitige Sicht erlaubt es, die Geschichte so patriarchal weiterzuerzählen.“ Denn seine Frau Eurydike hat er daheim allein sitzen lassen, wollte unbedingt mit den Argonauten zum Beutezug aufs Schwarze Meer. Um Kriegsgesänge anzustimmen, wie Kalka ihm attestiert.

Da ist ihm dieser Odin, der mit Tricks und Lügen an den geheimnisvollen Dicher-Met zu kommen versucht, lieber. Oder näher. Auch wenn er mit dem Jahr 2022 einen neuen Zweifel hinzufügen muss, denn auch das vom Odin-Met trunkene Dichten hat sich wohl erledigt in einer Zeit, in der ein paar fertige Programme es der „Künstlichen Intelligenz“ ermöglichen, Gedichte jeder Art in unendlicher Menge zu fabrizieren.

„Kippen wir das Odin-Gesöff in die Gosse? / Bald wird’s keiner mehr brauchen. / Oder gibt es tatsächlich Hoffnung für menschgemachte Poesie?“

Wo steckt er eigentlich, der Dichter?

Die Hoffnung gibt es natürlich. Denn nicht alles, was wie ein Gedicht aussieht, ist auch ein gutes Gedicht. Regeln und Algorithmen reichen allein nicht dazu. Wenn der wütende, knurrende, gurrende oder auch vom Met trunkene Schreiber als Mensch darin und dahinter nicht spürbar wird, darf man das Ausgedruckte durchaus nehmen und im Papierkorb entsorgen.

Denn mit Odins Schlängel-Weg zum Met erzählt Kalka ja die Mühe des Schreibenden, zu einem wirklich lebendigen Text zu kommen. Der eben nicht nur ein Orpheusscher Schlacht-Gesang ist. Und auch kein postmodernes Buchstabengebilde, an dem nur noch das Technische interessiert.

Das hätte auch in den alten germanischen Ländern nicht funktioniert, als tatsächlich noch die Skalden als Vorläufer der späteren Minnesänger von Hof zu Hof zogen. Nur so haben ja auch die Edda-Lieder überlebt – jahrhundertelang mündlich vorgetragen und weitergesagt, bis sie einmal aufgezeichnet wurden.

Diese Tradition ist ja in Griechenland schon 1.600 Jahre vorher abgebrochen. Bei Homer ist sie noch sichtbar. Aber die Schriftkultur beendet nun einmal auch die Zeit der Sänger im ganz klassischen Sinn. Der Weiter-Sager, die zum Gedächtnis der eigenen Geschichte und Kultur wurden, solange es sie gab.

Mit ihnen ist auch diese Kultur verschwunden. Und die Art der Menschen, Dichtung aufzunehmen, zuzuhören, sich einzulassen auf erzählte Geschichten.

Da sind es dann wohl eher Kino, Fernsehen, Radio und Internet, die den Dichtern von heute endgültig das Wasser abgraben und die Aufmerksamkeit entziehen. Ein Orpheus musste nicht um Aufmerksamkeit buhlen. Er hatte sie, weil er keine Konkurrenz hatte.

Dichtung als Ware

Heute müssen selbst die Dichter zu Selbstvermarktern werden. Im Grunde wetterleuchet genau das hinter Kalkas Essay, indem er die Leser immer wieder neckt mit dem Hinweis: Sie wollen doch Poet werden?

Natürlich ist das eine Unterstellung. Denn so etwas wird man nicht. Man kann das auch nirgendwo lernen. Außer dass man lernt, die eigene Sprache zu finden, das Unverwechselbare. Genau das, was die Arbeit im stillen Kämmerlein so frustrierend macht.

Denn nach Schablone schreiben kann jeder, selbst die dümmste KI. Aber der Zweifel steht wirklich, auch wenn er sich in Kalkas Frage versteckt: „Die letzte Dekade der Poesie ist eingeleitet. / Was wird’s wohl werden?“

Natürlich keine Elfenreime. Nichts von dem, was in die Schubladen der verbliebenen Kritiker passt, die sich überhaupt noch mit veröffentlichten Gedichtbänden beschäftigen und selbst keine Dichter sind.

Denn worauf es ankommt, das merkt jede Leserin und jeder Leser, auch wenn viele, viel zu viele sich mit Schmalkost und Massenware zufriedengeben. Es muss berühren. Immernoch. Direkt beim Lesen.

Wenn Literatur nichts zum Klingen bringt beim Lesen, ist sie überflüssig und wird auch keinem helfen, sich selbst zu entdecken, die eigenen Gefühle und das eigene Verwurzeltsein in der Welt.

Wobei die Wahl zwischen Odin und Orpheus natürlich eine durchaus beschränkte Wahl ist. Eine, die aber deutlich macht, wie schwer es einem gemacht werden kann, wenn man den Zwiespalt zwischen Sänger und Dichter in sich fühlt.

Da geht es einem dann wie Buridans Esel und man weiß nicht, was man zuerst ausfressen soll. Das kann ziemlich belastend sein, wenn man sich nicht selbst am Schopf packt und eins von beidem dann einfach mit Gebrüll auf sich nimmt.

Hinter der Farbe

Denn die Wahl, überhaupt nichts von beidem zu sein, ist natürlich die schlechtere. Was Kalka dann in einem kleinen Beitrag zu den in Band abgedruckten Bildern von Bernd Kerkin auch anklingen lässt: „Woher er sein spezielles Auge hat und diese Formen, bleibt sein Rätsel. Er fängt damit meinen Blick, und ich spüre das Leben hinter der Farbe. So einfach kann das sein.“

So einfach ist das manchmal.

Es braucht den Betrachter. Und den Zuhörer. Oder Leser. Der ist es, der sagen kann, ob er „Leben hinter der Farbe“ spürt. Oder nur Oberfläche. Oder dann doch lieber eine Flasche Met am Stand holt, weil ihm der Ruhm des Orpheus schon immer egal war. Aber gute Geschichten nicht. Und gute Lieder auch nicht.

Auch solche, an denen er merkt, wie sich da einer abgeschunden hat in Einsamkeit. Und nun zittert, weil er befürchtet, es interessiere wieder keinen. Oder mit den Worten von Marek Sniecinski, dessen Gedicht „Gedichte“ im Buch zu finden ist:

„Anfangs / sind sie wehrlos / mit weit geöffneten Schnäbeln / warten sie blind und taub / auf ihre Futterportion / sie sind Allesfresser / schlucken gierig / Wort- und Grammatikfetzen …“

Auch so kann man die Arbeit des Dichters sehen: Als Wortebändiger und Dompteur, als Kämpfer mit wilden Bestien, dem die Sprache ganz und gar nicht friedlich und fügsam ist, sondern sich wehrt.

Wer will da Poet werden?

Natürlich keiner, der den Ruhm noch zu Lebzeiten will. Und möglichst ohne Mühe. Am besten aus der Rechenmaschine. Knopfdruck, und fertig sind tausend Dinger, die man als Gedichte bezeichnen könnte. Wäre auch nur irgendetwas drin, was ein „Leben dahinter“ vermuten ließe.

Dieter Kalka Odins Met & Orpheus’ Gesang AndreBuchVerlag 2022, 9 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar