Die beiden Autoren kennen sich noch aus einstigen Hallenser Zeiten. Da war der eine – Andreas Kühne – Archivar an der Deutschen Akademie für Naturforscher Leopoldina in Halle – und der andere, Christoph Sorger, arbeitete bei einer Tageszeitung in Halle. Den einen verschlug es nach der Wiedervereinigung nach München an die LMU, den anderen schon vorher als Verlagslektor nach Leipzig und später ins Pressereferat der Stadt. Ein Thema verbindet beide bis heute: die Liebe zur Mythologie.

Das kann man wie ein Forschungsgebiet behandeln und sich an die trockenen Überlieferungen halten. Oder man nähert sich dem Thema literarisch, auch weil man weiß, dass Mythologien eben nicht nur alte Göttergeschichten sind, sondern tatsächlich Geschichten vom Menschsein. Womit sie ja nicht die Ersten sind. Das hat begabte Autoren schon immer gereizt, die alten, so bilderreichen Geschichten, immer wieder neu zu erzählen, sich hineinzufühlen in den alten Stoff und das darin zu suchen, was auch heute das Leben als Menschen so verwirrend, abenteuerlich und voller Rätsel macht.

Man denke nur an Eyvind Johnsons Roman „Die Heimkehr des Odysseus“ oder Franz Fühmanns Neuerzählungen der Irrfahrten des Odysseus. Womit wir beim Thema sind. Denn genau diesem Homerischen Epos widmet sich auch Andreas Kühne in seinen drei Berichten des Eurylochos, welche in diesem Band enthalten sind, in dem die beiden einfach mal alle ihre mehr oder weniger mythologischen Texte zusammengeschmissen haben.

Ohne mich, Odysseus!

Wobei Kühne mit seiner Eurylochos-Figur versucht, den Odysseus-Mythos vom Helden und listenreichen Krieger aufzubrechen. Denn bekanntlich kehrt Odysseus nach all seinen Irrfahrten ohne die Flotte und die hunderte Krieger nach Ithaka zurück, mit denen er einst nach Troja aufgebrochen war. Ein alter Mann, den die feiernden Bewerber um Penelopes Gunst für einen Bettler halten, ahnungslos, dass er sie am Abend der Feier allesamt erschlagen wird.

Da geht dann fast schon unter, dass Odysseus mit den Männern, die ihn einst nach Troja begleiteten, auch nicht anders umgegangen ist. Auf seinen zehnjährigen Irrfahrten über das Meer von einer sagenumwobenenen Küste zur anderen büßt er sie alle nacheinander ein – die Schiffe und die Männer. Nur Eurylochos sagt irgendwann: Es reicht. Noch ein Abenteuer, noch ein wilder Überfall auf eine der verlockenden Inseln, noch eine wilde Geschichte von Heldenmut – er will nicht mehr. Lässt sich von Kirke lieber ein kleines Grundstück zum Beackern geben, sucht sich eine gute Frau und erzählt nun als einzig Überlebender, was er von Odysseus und seinem Machotum hält.

Und er holt ihn – zumindest motivisch – auch in die Gegenwart. Dieser Odysseus ist kein Vorbild, eher einer, der sich lieber in der Welt herumtreibt, als nach Hause zurückzukehren und ein Leben ohne Abenteuer zu führen. Einer, der seine Männer opfert, als wäre ihm der Blutzoll egal, der bezahlt werden muss, wenn er jedes Mal mit Waffengewalt über einen neuen Hafen herfällt.

Was Orpheus nicht besingt

Tatsächlich ist Kühnes Variante der Odyssee ein Gegenstück zu Christoph Sorgers Aneignung einer anderen griechischen Sage: der von den Argonauten. Die er ebenfalls nicht aus der Heldenperspektive erzählt. Man merkt schon, wie sehr diese beiden Autoren mit den alten und den heutigen Heldenbildern hadern. Sie können an ihnen nichts Positives entdecken. Sie sind eher „die Leute“, die auf den „Heldenfahrten“ der Muskelprotze mitfahren und die Dinge mit dem kritischen Blick deren sehen, die sich von Lorbeeren und Protzereien nicht beeindrucken lassen. Sondern die Dinge so sehen, wie sie sind.

In diesem Fall ist es ein Bursche namens Philammon, „der zweite Sänger“ an Bord der Argo. Den ersten Sänger kennt alle Welt: Orpheus, der mit seinem Gesang die Stadien füllte. Und den Burschen, der da ohne viel nachzudenken in die sagenhafte Volksrepublik Kolchis aufbrach, kennt auch jeder: Jason, der nur mal eben das Goldene Vlies stehlen wollte und dann die Königstochter Medea mit nach Hause brachte. Der ja dann bekanntlich ein bitteres Schicksal bevorstand. Denn zum treuen Ehemann war Jason, der Draufgänger, nicht gemacht.

Eine gewisse Europa

Schon allein dieser mit Sprachfreude und dennoch tiefem Ernst gegen den Strich gebürsteten griechischen Epen wegen lohnt sich, dieses Buch zu lesen. Aber es steckt noch mehr drin. Denn in der Rezeption der Mythen fanden diese beiden Autoren schon in DDR-Zeiten ihr Feld, auf dem sie die verordnete Ernsthaftigkeit eines ganz und gar nicht mythischen Ländchens hinterfragten. Gern auch in Gedichten und Falt-Gedichten.

Aber auch in einer gemeinsam neu erzählten Legende: „Die Entführte“. Die natürlich von einer gewissen Europa handelt, die sich freiwillig von einem gewaltigen Stier entführen lässt, um hernach ein Leben in wildem Sex zu erleben. Auch das ein durchaus deutliches Statement zur Gegenwart: Am Anfang eines Erdteils, für den ein Werbeplakat mit der stierreitenden Europa die Attraktivität der Europäischen Union zeigen soll, steht – so erzählt es ja der Mythos – „gewalttätiger, ungezügelter Sex“.

Was die Leser daraus machen, ist natürlich ihre Sache. Aber deutlich wird gerade in diesem drastischen Neuerzählen der alten Mythen, wie sehr auch die in der Gegenwart Lebenden die Vergangenheit nur zu gern verklären, glorifizieren und die Geschichten nicht einmal mehr entschlüsseln, die in den alten Helden- und Göttererzählungen stecken. Denn dahinter entdeckt man – wie die beiden es hier tun – meist nur allzu menschliches, falsches Heldentum, falschen Glanz und verklärte Brutalität.

Auch wenn ganz bestimmt viele dieser Erzählungen – auch die Homerischen – entstanden sein werden, weil Menschen durchaus staunten darüber, wie ihnen Geschichte passierte. Und darüber, dass sie – zum Glück – überlebt haben. Sonst könnten sie ja nicht mehr lustvoll dem (angeblich) blinden Sänger lauschen, der von Odysseus und seinen wilden Irrfahrten erzählt.

Wer weiß, wie’s ausgeht

So einen Moment erlebte auch Christoph Sorger. Darüber schreibt er in einem im Band enthaltenen Brief, in dem er von dem seltsamen Moment am 13. November 1989 erzählt, als er den Freund in einem Westberliner Café wieder trifft, der sich erst jüngst auf die gefahrvolle Reise über die Grenze gemacht hatte. Und nun ist diese Grenze nicht mehr da, die Welt offen. Ein „ganzes Land auf den Beinen“, ein „euphorisches Durcheinander ohnegleichen, nur die Ordnungshüter sehen belämmert aus. Wer weiß, wie’s ausgeht.“

Das weiß man nämlich nie, wenn man zum Dienstantritt auf der Argo oder einem von Odysseus’ Schiffen verdonnert wird und eben halt nur der dritte Ruderer oder der zweite Sänger ist. Da kann man nicht widersprechen. Nur Goethes bekloppter Spruch geht einem da durch den Kopf, den der Dichter als Beobachter der Schlacht von Valmy niederschrieb: „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.“

So etwas können nur Leute sagen, die das Gemetzel aus der Kutsche heraus beobachtet haben. Wer aber mitmuss auf der Argo, der ist am Ende froh, einigermaßen heil nach vielen Jahren in die Heimat zurückkehren zu können, die aber völlig fremd geworden ist. Denn das Leben geht weiter. Und wer in der Fremde verloren ging, der wird schnell vergessen.

Und auch wenn sieben Künstlerinnen und Künstler aus Mitteldeutschland ihre eigenen mythischen Interpretationen für das Buch beigesteuert haben, ist es weder ein Kinderbuch noch ein Bilderbuch. Sondern eher eines für Menschen, die berechtigterweise mit sehr viel Misstrauen auf die berühmten Helden schauen. Und die ganzen Lobreden auf spannende Zeiten für das nehmen, was die in der Regel sind: Einladungen zu kopflosen Abenteuern, aus denen am Ende nur der eine zurückkommt, während die Gebeine der Mannschaft in fremder Erde liegen.

Das klingt, so formuliert, wieder sehr gegenwärtig. Die listenreichen Draufgänger sterben nicht aus. Nur zu bereit, mal wieder Häfen und fremde Städte in Schutt und Asche zu legen. Damit die Sänger was zu besingen haben. Auch wenn die heldenhaften Lieder mit dem, was wirklich passiert ist, meist nur noch wenig zu tun haben.

Andreas Kühne, Christoph Sorger „Strandgut am Acheron“, Morio Verlag, Heidelberg 2023, 26 Euro.

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