Der Untertitel irritiert ein wenig: „Wie Menschen mit Bedrohungen umgegangen sind und was wir daraus lernen können“. So weit ist man auch am Sonderforschungsbereich „Bedrohte Ordnungen“ an der Universität Tübingen noch nicht. Schön wär’s. Aber was dieses Buch in fünf beispielreichen Kapiteln zeigt, ist tatsächlich eine bunte Auswahl historischer Ereignisse, in denen Menschen mit Krisen umgehen mussten. Das taten sie meist ohne großen Plan.

Weshalb das „was wir daraus lernen können“ sehr vorsichtig gebraucht werden müsste. Denn hier geht es noch gar nicht um Lösungen, gar ein Handwerkszeug für aktuelle und kommende Krisen. Einmal ganz davon zu schweigen, dass Krisen zur Geschichte der Menschheit gehören. Sie sind quasi ihr Normalzustand. Nichts bleibt so, wie es war. Wer glaubt, den bestehenden Zustand konservieren zu können, sorgt in der Regel dafür, dass Krisen sich verschärfen und der neue Zustand sich an einem Kipppunkt katastrophenartig einstellt.

So betrachtet, sind viele Krisenbewältigungen der Vergangenheit auch exemplarische Beispiele dafür, wie Menschen mit ihren (Nicht-)Lösungsversuchen erst recht die Katastrophe auslösten.

Unerhörte Kassandra

Aber im Grunde geht es den vielen Autorinnen und Autoren in diesem Band, welche die einzelnen Fallbeispiele verfasst haben, noch um etwas anderes. Denn dass Krisenbewältigung oft so chaotisch, brutal und auch völlig blind für die Folgen geschah, hat mit dem menschlichen Gehirn zu tun, das eigentlich nicht gebaut ist für komplexe gesellschaftliche Lösungsansätze. Es lässt sich viel zu leicht in Panik versetzen und trifft dann nur zu gern irrationale Entscheidungen.

Aber auch das Gegenteil ist seit den vergeblichen Mahnungen der trojanischen Königstochter Kassandra bekannt: Berechtigte Warnungen vor echten Bedrohungen werden einfach nicht ernst genommen, ignoriert, verlacht. Selbst dann, wenn schon die Wälder brennen, das Wasser versiegt und die Städte in der Hitze kochen.

Die Gegenwart selbst hält genug Beispiele bereit, wie sehr sich Menschen vor den falschen Dingen fürchten. Und die, die sie wirklich als Bedrohung begreifen sollten, einfach nicht ernst nehmen.

Das Buch beschäftigt sich also (noch) nicht mit Lösungen, sondern mit der menschlichen Wahrnehmung von Bedrohungen. Wobei Veränderungen eben erst einmal als Bedrohung wahrgenommen werden müssen, damit Menschen reagieren. Frie und Meier sprechen von „kommunikativen und sozialen Dynamiken, die entstehen, wenn Alarm geschlagen wird.“

Wobei die vielen Beispiele aus 2.000 Jahren Menschheitsgeschichte eben auch zeigen, dass das, was die einen als Bedrohung empfanden, für andere eine Chance war. Ganz in dem Sinn, wie die alten Griechen Krise wirklich dachten. Denn während wir darin heute vor allem eine „gefährliche Konfliktentwicklung“ sehen, war es für die Griechen eine Phase der Scheidung, der Entscheidung, der Trennung.

Der alte Zustand war nicht mehr zu halten. Etwas Neues zeichnete sich ab.

Wer fühlt sich eigentlich bedroht?

Doch zwangsläufig empfinden alle, die vom alten Zustand profitieren, jede Veränderung als Bedrohung. Was sehr schön deutlich wird, wenn am Beispiel römischer landbesitzender Eliten gezeigt wird, wie sie den möglichen Mangel an Landarbeitern als Bedrohung ihrer Macht und ihres Lebensstandards verstanden – und entsprechend agierten und Gesetze schufen, die dann schon erstaunlich an die Leibeigenschaft des Mittelalters erinnern.

Im Grunde wird Beispiel für Beispiel klar: Das Gefühl der Bedrohung ist nie allgemein. Jede gesellschaftliche Gruppe empfindet Veränderungen anders, fürchtet andere Bedrohungen. Und reagiert entsprechend, erst recht dann, wenn diese die Macht dazu hat. Weshalb in den meisten Beispielen herrschende Gruppen ins Bild rücken, die ihre meist uralten Rezepte der Krisenbewältigung anwendeten.

So wie die portugiesischen Kolonialherren in Manila, der US-Präsident nach den Anschlägen von 9/11, König Karlmann im 9. Jahrhundert, als die Wikinger im Frankenreich wüteten, oder die theologischen Machthaber im 16. Jahrhundert, die schon die Medien ihrer Zeit nutzen, um Bedrohungsszenarien in die Köpfe der Menschen zu pflanzen.

Immer wieder aber auch rückt der menschliche Unverstand ins Bild, der um des Profits willen landwirtschaftliche Strukturen in Sierra Leone zerstört, fruchtbare Böden mit falscher Bewässerung versalzt und unfruchtbar macht, ganze Wirtschaften der Börsenspekulation zum Fraß vorwirft oder glaubt, man könne mit militärischen Feldzügen Frieden und Stabilität begründen. Was dann logischerweise jedes Mal neue Bedrohungen schafft für die Menschen, die von diesen falschen Problemlösungen betroffen sind.

Die Vorliebe für katastrophale Lösungen

Was dann in der Regel für die Steigerung des Konfliktpotenzials sorgt: Denn wenn sich immer mehr Menschen, Völker und Regierungen in Bedrohungen verstrickt sehen, wächst die Gefahr für irrationale Handlungen. Unter dem Aspekt wird zwar der Erste Weltkrieg nicht diskutiert. Doch hier wird gezeigt, dass der Weltkrieg letztlich die falsche Lösung für ein Phänomen war, das wir heute Globalisierung nennen.

Liberale Wirtschaftstheoretiker diskutierten damals schon (und auch in den 1920er Jahren intensiv), wie eigentlich eine Weltordnung beschaffen sein müsste, welche die zunehmende wirtschaftliche Verflechtung rund um den Globus auch politisch abbildet. Der Völkerbund und später die EU waren tatsächlich echte Lösungsansätze. Doch was passiert mit einer noch immer halbfeudalen Gesellschaft, die es – wie hier – mit einem völlig neuen Phänomen zu tun bekommt?

Sie reagiert mit falschen Lösungsansätzen, die uns bis heute zu schaffen machen: Nationalismus, Kolonialismus und Rassismus. Was man auch so interpretieren kann: Menschen greifen am liebsten zu nahe liegenden und „populären“ Lösungen, mit denen sie versuchen, die scheinbar gefährlichen Symptome der Gefahr zu bekämpfen. Für die Lösung der meist komplexen Bedrohungslagen aber braucht man Zeit, Geduld, Wissen und die Fähigkeit, die Folgen des eigenen Tuns auch für die weitere Zukunft abschätzen zu können.

Immer wieder begegnen einem Fallbeispiele, in denen Gesellschaften hektisch zu vertrauten, alten Verhaltensmustern griffen oder auch gar nicht reagierten, weil sie die Folgen ihres Tuns gar nicht abschätzen konnten. Und wenn diese Folgen dann sichtbar wurden, hatten oft selbst die Kassandras keine Chance. Denn damit etwas überhaupt als Bedrohung die Aufmerksamkeit eines größeren Teils der Gesellschaft erreicht, braucht es jede Menge Resonanzraum.

Den es z. B. in Diktaturen kaum gibt – man denke nur an den Augenarzt Li Wenliang aus Wuhan, dessen Warnungen vor Covid-19 von den chinesischen Machthabern unterdrückt wurden. Sie behandelten die Wahrheit über die neue Viruserkrankung so, als wäre sie ein Angriff auf die regierende Partei.

Wenn man die Gefahr nicht sehen kann

Das Beispiel kommt im Buch nicht vor. Wollte man alle Beispiele falschen Umgangs von Regierenden mit echten Bedrohungen in Bücher packen, bekäme man eine riesige Bibliothek zusammen. Und den größten Teil dabei würden die „verzwickten schleichenden Katastrophen’“ einnehmen – so wie die Bodenversalzung in Südrussland oder jene in Australien. Gesellschaften tun sich unheimlich schwer, sich wieder zu korrigieren, wenn sie merken, dass ihre genialen technischen Lösungen der Vergangenheit mehr Unheil anrichten, als sie eigentlich verhindern sollten.

Und oft ist es purer Eigennutz, der Lösungen verhindert oder gar zu Lösungen führt, die aus diesem Eigennutz langfristig eine Katastrophe machen. So, wie man es im Beitrag zum Mangel an Landarbeitern im spätrömischen Reich zumindest ahnen kann. Über die Ängste der Latifundienbesitzer sind wir durch überlieferte Gesetze und Gerichtsurteile unterrichtet. Sie hatten die Macht, ihre gefühlten Bedrohungen mit juristischen Mitteln anzupacken.

Aber wie sahen das die vielen freien und unfreien Landarbeiter, die auf einmal mit staatlicher Gewalt und harten Strafen konfrontiert waren, wenn sie den Arbeitgeber wechseln wollten?

Eine Frage für die Historiker. Aber es betrifft eben auch den Kern des Buches. Denn die vielen Beispiele zeigen eben auch, dass die Mächtigen eigentlich immer erst dann gehandelt haben, wenn die Krise akut wurde und von ihnen und den jeweils herrschenden Eliten tatsächlich als Bedrohung empfunden wurde. Dann veränderte sich ganz augenscheinlich auch der Ton, in dem über die (drohenden) Veränderungen gesprochen wurde, entstand „eine überwältigende Dynamik. Bedrohungen drängen sich in den Vordergrund, stecken an, emotionalisieren, mobilisieren, personalisieren, stereotypisieren, ziehen und überschreiten Grenzen.“

Auf einmal wird das bis eben noch Undenkbare sagbar und machbar. Genauso wie bei den diversen Flutkatastrophen in Deutschland in der letzten Zeit: Auf einmal regnet es Milliarden, um die Flutschäden zu beseitigen.

Während deutlich weniger Geld vorher ausgereicht hätte, den erwartbaren Schäden vorzusorgen.

Die Rolle alarmierender Bilder

Aber das ist – leider – menschlich: „Weil Menschen soziale Wesen sind, sorgen sie sich um sich selbst und andere, wenn sie Gefahren wahrnehmen“, schreiben Ewald Frie und Boris Nieswand im abschließenden Resümee „Bedrohungen“. Betonung in diesem Fall auf „wenn sie Gefahren wahrnehmen“. Denn der menschliche Geist ist darauf eingerichtet, auf akute und eindeutige Gefahren schnell zu regieren. Was ihm aber nicht „eingebaut“ ist, ist die Fähigkeit, schleichende Veränderungen als Bedrohung aufzufassen.

Oder eben erst dann, wenn die dramatischen Folgen – wie bei Corona – nicht mehr zu übersehen sind und mit den Bildern von gestapelten Leichensärgen in Norditalien mit voller Wucht in deutsche Wohnzimmer branden.

Es braucht immer diesen Moment der Mobilisierung, sonst passiert einfach nichts und die Mahner und Rufer können sich heiser schreien. Niemand hört zu. Niemand nimmt sie ernst. Wobei eben diese „Wucht der Bilder“ auch missbraucht werden kann, wenn man an die Aufnahmen vom Attentat auf die Zwillingstürme in New York denkt. Eine ganze Gesellschaft war alarmiert, fühlte sich zutiefst bedroht – und ließ dem amerikanischen Präsidenten freie Hand zu reagieren, auch wenn der gleich mal zwei Kriege anfing, die an dem als Bedrohung empfundenen Problem aber gar nichts änderten. Im Gegenteil: Sie schufen neue Bedrohungen, die noch mehr Todesopfer forderten.

Es ist eben leider nicht gesagt, dass die Wahrnehmung einer Bedrohung die Herrschenden dann auch dazu bringt, das Richtige zu tun. Denn das steckt ja schon in Worten wie „emotionalisieren, mobilisieren, personalisieren, stereotypisieren“. Personalisieren heißt ja: Es wird ein Feind gesucht, ein möglichst tauglicher, den man nun für alles verantwortlich machen kann, was zur katastrophalen Lage geführt hat. Ein Osama bin Laden, der Islam oder „die Juden“, was schon andeutet, wie falsch und stereotyp diese Lösungsansätze auch in historischer Zeit schon waren.

Aber auch das Stereotypisieren gehört in diese Rubrik – der oft geradezu peinliche Versuch, neue Krisen mit alten Deutungsmustern verstehen und lösen zu wollen. Mit dem Ergebnis, dass menschliche Geschichte oft genug zu stagnieren scheint, im Kreis läuft, die alten Fehler immer wieder wiederholt werden, obwohl die überlieferten Lösungsansätze völlig untauglich sind.

Wer profitiert von Bildern der Bedrohung?

Und Frie und Nieswand benennen dann einen Punkt, der durchaus auch Angst machen darf: „Bleibt man den Bedrohungen und den von ihnen ausgelösten Ordnungsdynamiken auf der Spur, stellt sich der Eindruck ein, dass sie produktiv sind. Sie erzeugen soziale und emotionale Energien, die manchmal eine neuartige Bedrohungswirklichkeit schaffen, in der nichts mehr aussieht, wie es war.“ Nur spielt das nicht immer denen in die Hände, die dann mit Begeisterung daran gehen, das Neue auch Wirklichkeit werden zu lassen.

Stattdessen ist die Geschichte voller „Bedrohungsunternehmer und Bedrohungsprofiteure“. Denn auch das gehört dazu: Dass viele Bilder von Bedrohungen erst von Menschen geschaffen wurden, um damit ihre eigenen Ziele zu erreichen und die anderen zum Reagieren oder Einknicken zu zwingen.

Weshalb eben nicht immer stimmt, dass, wer alarmiert, „auch Abhilfe“ vorschlägt. Das liegt oft gar nicht im Interesse derer, die von Bedrohungsdynamiken profitieren. Denn verängstigte Gesellschaften sind ihr Geschäft. Damit kann man Waffen verkaufen, Medikamente, Versicherungspolicen, Bunker, Nudeln, Masken, Alarmanlagen, Stacheldraht, Messer, gepanzerte Autos usw.

Es sind so ein paar Sätze aus diesem Nachwort, die einen völlig neuen Bereich der Bedrohungsforschung eröffnen, der eben nicht einfach dadurch zu definieren ist, dass wir andere Menschen so leichtfertig in gut und böse teilen und diese Stereotype dann auch in politischen Debatten immer wieder verwenden und verstärken. Mit der Erzeugung von Bedrohungsbildern (z. B. „Das Boot ist voll“) wird eben auch Politik gemacht, werden Menschen verängstigt, wird eine scheinbare Bedrohung für sie zur Existenzangst aufgeblasen.

Bedrohungsprofiteure wissen, wie sie Menschen derart manipulieren können. Viel besser als Politiker, die so gern davon reden, dass Krisen auch Chancen sind.

Warum Bedrohungsprofiteure mehr Aufmerksamkeit bekommen

Wer von Chancen redet, dringt nicht durch, wenn die Gegenseite lauter Bedrohungsszenarien an die Wand malt. Ohne sich darum kümmern zu müssen, wie realistisch diese Bilder sind. Es geht um die pure Angst. Und die ist jetzt. „Die Dynamik der Bedrohung entfaltet sich vor einem intensiv düster ausgemalten Horizont“, schreiben Frie und Nieswand. „Die Gespenster von morgen greifen auf das Heute zu.“

Und verstellen den Blick darauf, was tatsächlich getan werden kann, um in der Gegenwart Lösungen für Krisen und Konflikte zu finden. Oder gar den Blick auf die tatsächlich brennenden Probleme. Im wahrsten Sinne des Wortes. Wirklich gelernt, mit Krisen produktiv umzugehen, haben wir Menschen in den letzten Jahrhunderten nicht wirklich. Was eben auch mit der ganz emotionalen Reaktion auf Bilder der Bedrohung zu tun hat. Da neigen viele von uns nach dem einen, glorreichen „Helden“ zu suchen, der sich als Lösung für alle Probleme anpreist. Ein uraltes, mythisches Motiv. Was bis jetzt aber noch jedes Mal schief gegangen ist.

Sodass als Botschaft dieser vielen Geschichten stehen bleibt: Wir müssen tatsächlich lernen, mit Krisen und (empfundenen) Bedrohungen anders umzugehen. Denn: „Bedrohungen machen Geschichte.“ Sie prägen Gesellschaften. Und sie verändern sie. Die Frage ist nur: In wessen Sinn? Und wer profitiert eigentlich dabei?

Ewald Frie, Mischa Meier (Hrsg.) „Krisen anders denken“, Propyläen Verlag, Berlin 2023, 32 Euro.

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