Es gibt Bücher, die tun einem gut beim Lesen. Weil sie gut geschrieben sind, der Autor tatsächlich was zu erzählen hat und dabei auch so klar formuliert, dass es wie ein schönes Gespräch auf der Terrasse eines Cafés ist. Mit Kaffee, neugierigen Zwischenfragen und dem Gefühl, dass man nicht ganz allein ist mit dem Gefühl, dass Menschen eigentlich nicht fähig sind, miteinander gute und fruchtbare Gespräche zu führen.

Ein schöner Widerspruch in sich. Aber genau darum geht es in Reto U. Schneiders Buch, das seinen Ursprung in einer Redaktionskonferenz im Jahre 2018 hatte. Damals saß die Redaktionskonferenz der „NZZ Folio“, des Magazins der „Neuen Zürcher Zeitung“, beisammen und trug die Themen für das nächste Schwerpunktthema zusammen. Und als die Kollegen schon dachten, jetzt hätten sie alles beieinander, funkte wieder der stellvertretende Chefredakteur Reto U. Schneider dazwischen und fragte: „Warum sind wir eigentlich nicht alle einer Meinung?“

Solche Fragen liebt er. Solche Fragen hassen andere Leute. Aus guten Gründen. Für Schneider war es der Beginn einer intensiveren Beschäftigung mit dem Thema Meinung. Es entstanden erst zwei längere Artikel, die das Thema umkreisten. Und am Ende wurde es dieses Buch, das eigentlich den Titel nicht bestätigt, auch wenn der wie ein Rettungsanker klingt in Zeiten zunehmender Verstörung, Aggression und ganz offensichtlicher menschlicher Unfähigkeit, wirklich fruchtbar miteinander zu streiten.

Warum Meinungen trennen und nicht verbinden

Das war auch schon früher so. Aber da gab es noch nicht die Kommunikationsplattformen, die ein paar selbstverliebte Herren (von denen sich zwei demnächst im Käfig prügeln wollen) auch noch „Social Media“ genannt haben – gar noch mit der Behauptung, diese Plattformen würden Menschen verbinden.

Das Gegenteil ist der Fall. Gerade die ganzen Behauptungen um die „Social Media“ beweisen, dass all die Leute, die damit zu tun haben, von menschlicher Kommunikation und von menschlicher Meinungsbildung keine Ahnung haben.

Darüber musste auch Reto U. Schneider erst einmal lange nachdenken, jede Menge Studien und Bücher zum Thema lesen und das Ganze dann herunterbrechen auf uns arme Würstchen, die mit überdimensionierten Gehirnen durch die Welt laufen, aber oft gar nicht wissen, wie diese Gehirne funktionieren und wie wir uns unser eigenes Selbstbild konstruieren.

Wir sind in den seltensten Fällen rationale Geschöpfe, die vernunftgeleitete Entscheidungen fällen und mit anderen Menschen klug und empathisch reden. Dazu ist der Elefant, auf dem unser kleines bisschen Rationalität reitet, viel zu mächtig. Da kann sich Schneider auf Berge von Forschungsergebnissen der letzten Jahrzehnte stützen, die belegen, wie sehr wir von unseren Emotionen bestimmt werden, Entscheidungen meist schon lange vorher treffen, bevor wir im Kopf alle Entscheidungsvarianten rational abgewogen haben.

Gehört der zu uns oder ist der gefährlich?

Und das ist nichts Schlechtes. Denn das hat uns über hunderttausende Jahre in der Wildnis das Überleben gesichert. Zumindest denen von uns, die sich auf diese schnellen und instinktiven Signale verlassen und schnellstens reagiert haben, wenn irgendetwas in unserer Umgebung nach Gefahr aussah. Die anderen wurden in der Regel von Tigern und anderen hungrigen Geschöpfen verspeist.

Die Tiger werden bei Schneider mal nicht erwähnt. Aber darauf läuft es trotzdem hinaus: Unser Gehirn ist so „konstruiert“, dass es möglichst viel Energie spart. Es wertet nicht ständig, löst auch nicht ständig quadratische Gleichungen und hat in der Regel auch keine Lust, sich mit nervenden Gesprächspartnern in anstrengende Problemlösungen zu vertiefen. Oder gar verstehen zu wollen, wie der andere tickt.

Deswegen blenden wir fast alles aus, was uns in unserer Selbstwahrnehmung irritieren könnte. Verlassen uns auf die Schablonen von der Welt in unserem Kopf, die uns das immer neue Wahrnehmen ersparen. Weshalb wir meist nur ein bisschen Mühe darauf verwenden, den anderen einzuordnen nach dem uralten Überlebensprinzip einer Horde: Gehört der zu uns oder ist der gefährlich?

Wer die Augen aufmacht, sieht: Genau so wird heute politisch diskutiert. Und in den „Social Media“ erst recht. Praktisch alle Menschen sind fortwährend dabei, sich ihres Platzes in der Welt zu vergewissern. Zu welcher Horde gehöre ich? Werde ich von der Horde akzeptiert? Stellt jemand meine Sicht auf die Welt infrage – dann muss ich wohl aggressiv werden …

Alles ganz schrecklich, nicht wahr?

Natürlich geht Schneider systematischer vor, denn er will ja seinen Lesern zeigen, warum Kommunikation so oft und erwartbar schiefgeht. Was auch an drei Phänomenen liegt, die die meisten Menschen gar nicht auseinander halten können: Wissen, Meinen und Glauben. Wobei selbst die Vorstellungen über Wissen und Wissenschaft oft erschütternd falsch sind.

Was Folgen hat – bis hin zu der Tatsache, dass so gut wie alle Menschen ihr eigenes Wissen völlig überschätzen. Es ist ein köstliches Kapitel, in dem Schneider das erläutert.

Köstlich und erhellend. Etwa wenn Schimpansen in Wissenstests, in denen sie einfach wild die Kästchen ankreuzen, besser abschneiden als Menschen, die zu allen abgefragten Dingen eine gut begründete Meinung haben. Wie falsch die ach so gebildeten Zweibeiner mit den großen Gehirnen liegen, wenn es selbst um ganz simple Vorstellungen von der Welt geht, macht Schneider mit ein paar kleinen Beispielen von Hans Rosling deutlich, der mit seinen Büchern ja schon demonstriert hat, wie sehr falsche Vorstellungen von der Welt das Denken der Menschen bestimmen.

Das hat viele Gründe. Auch mediale. Denn Zeitungen und Nachrichtensendungen berichten eben eher selten über die positiven Entwicklungen in der Welt, sondern lieber über Katastrophen, Morde, Kriege, Putsche und andere Unglücksfälle. Denn das interessiert Menschen naturgegeben sehr viel stärker, erweckt Aufmerksamkeit und schafft Reichweite. Dass die „Social Media“ das sogar tief in ihren Algorithmen stecken haben, ist für jeden offenkundig, der dort regelmäßig unterwegs ist.

Und auch so tragen sie natürlich dazu bei, in den Köpfen der Nutzer die Vorstellung zu verstärken, dass alles immer schlimmer wird, Krisen immer unbeherrschbarer – und alles den Bach heruntergeht.

Zu welchem Verein gehören Sie eigentlich?

So nebenbei aber bestärken die „Social Media“ das, was Menschen sowieso schon schwer macht, miteinander offen und sensibel zu kommunizieren: Meinungen. Denn Meinungen sind eben nicht nur persönliche Weltansichten, die durch nichts begründet sein müssen (auch wenn wir im Nachhinein haufenweise Gründe für unsere Meinung finden können), sie sind auch ein Kanon von Ansichten, die uns einer sozialen Gruppe zugehörig sein lassen. Oder uns zumindest das Gefühl geben, dazuzugehören. Und kein Mensch möchte nicht dazu gehören. Das macht Angst.

Und das Phänomen kennen nicht nur Fußballfans, die ihrer Mannschaft auch dann treu bleiben, wenn sie alle Spiele verliert und vier Ligen absteigt. Die Fan-Gesänge erzählen genau davon. Von außen wirkt das bedrohlich. Wer drin ist in der Masse, der fühlt sich eins mit tausend anderen, die den Fangesang antimmen.

Aber dieselben Phänomene findet man, wie Schneider deutlich macht, überall in unserer Gesellschaft. Bis hinein in die Politik, wo sich Parteivorsitzende inzwischen benehmen wie Vorsitzende eines Fanverbandes. Und auch sie spielen mit dem Schüren der Angst, dass all die nicht mehr mitspielen dürfen, die die heiligen Meinungen des Fanverbandes nicht (mehr) teilen.

Schneider schreibt dazu: „Für viele ist der Preis, den sie für eine falsche Meinung bezahlen, kleiner als die Gefahr, in ihrer sozialen Gruppe isoliert zu werden, wenn sie die Meinung wechseln.“

Dazu muss man nämlich mutig sein und bereit, sein komplettes soziales Umfeld zu verlieren. Was Aussteigerprogramme so schwierig macht. Und es aggressiven Weltanschauungen so leicht, ganze Regionen mit ihrer herrschenden Meinung zu okkupieren. Was einen natürlich etwas intensiver darüber nachdenken lässt, warum so viele Menschen ausgerechnet in der ostdeutschen Provinz den Angstmachern einer blauen Partei hinterher laufen.

Kleine Pause zum Nachdenken.

Die Rolle von Medien

Nachdenken kann man da auch über die Rolle des Journalismus, der aktuell durch die hemmungslose Übermacht der Internet-Giganten an die Wand gedrückt wird. Natürlich stört Journalismus, denn er stellt in der Regel festgefügte Meinungen infrage, verunsichert scheinbar profundes Wissen, zeigt – wenn er gut ist – mit wie vielen Irrtümern Menschen durch die Welt gehen und was sie über die Welt alles nicht wissen. Obwohl sie felsenfest glauben, es zu wissen und selbst über die kompliziertesten Themen mitreden zu können.

Und das mit vollster Überzeugung, in blindem Vertrauen darauf, dass sie im Besitz des einzig gültigen Wissens sind.

Und das kann fatale Folgen haben, gerade in Bereichen, in denen Menschen folgenreiche Entscheidungen treffen müssen. Schneider benennt den Staatsanwalt, der es nicht aushält, dass ein von ihm einst ins Gefängnis gebrachter Mensch frei kommt, weil sich die Beweisführung als fehlerhaft erwies. Und der dann wieder Anklage erhebt, weil er diesen Menschen nicht auf freiem Fuß sehen kann, denn das gefährdet sein eigenes Weltbild. Es wird fatal, wenn z. B. Staatsanwälte ihrer „Blindheit für die eigene Voreingenommenheit“ nicht bewusst werden.

Was gleichzeitig der Schlüssel zu einer gelingenden Kommunikation ist, so seltsam das klingt. Denn die beginnt mit der für manchen Mitmenschen durchaus erschütternden Erkenntnis, dass wir als Menschen die Welt gar nicht objektiv sehen. Das ist uns faktisch unmöglich. Wir interpretieren alles, was wir wahrnehmen – durch unsere Emotionen und unsere (vorgefassten) Meinungen. Und wir gehen in Gespräche höchst selten mit dem tapferen Vorsatz, wirklich zuhören zu wollen und vielleicht sogar etwas zu lernen dabei, wenn wir dem anderen wirklich zuhören.

Doch die meisten Streitgespräche sind von Anfang an einer Katastrophe – nicht nur im Bundestag oder im Leipziger Stadtrat. Denn wir reden eigentlich nur, um zu gewinnen. Um am Ende den anderen mit unseren ach so tollen Argumenten besiegt zu haben.

Irren ist menschlich

Denn unsere Meinungen sind uns heilig (und überlebenswichtig, siehe oben). Irgendwann im Leben haben wir welche und rücken auch nicht wieder davon ab, wo wir uns durch emsige Argumentation doch schon lange davon überzeugt haben, dass nur diese eine Meinung die einzig richtige ist. Alle anderen Meinungen sind demnach falsch und inakzeptabel. Die anderen Leute begreifen es nur nicht. Nicht mal, wenn wir sie mit unseren besten Argumenten überfallen und niedermachen.

So freilich, stellt Schneider fest, hat noch nie jemand seine Meinung geändert. Ganz abgesehen davon, dass auch die Einbildung, unsere aktuellen Meinungen hätten wir schon immer gehabt, eine Einbildung ist.

Was wir uns alles einbilden. Das ist schon erstaunlich.

Dabei ändern wir auch unsere Meinungen im Lauf der Zeit. Die meisten von uns würden sich mit ihrem früheren Ich wahrscheinlich genauso prügeln wie Musk und Zuckerberg. Keiner ist sich dessen wirklich bewusst, dass das scheinbar so eindeutige und feste Bild, das wir von uns haben, so stabil gar nicht ist. Mal von den vielen Trugschlüssen zu schweigen, die wir mit uns schleppen und lieber gar nicht erst hinterfragen.

Schneider gibt natürlich trotzdem Tipps, wie wir den Knoten im Gespräch dann doch auflösen können. Nicht, indem wir den anderen ermahnen, jetzt bitte mal zuzuhören. Sondern selbst zuhören. Und zumindest erst einmal von der Möglichkeit ausgehen, dass wir selbst uns irren könnten. Und an dem, was der andere sagt, etwas dran sein könnte. Was nicht heißt, dass wir alles so akzeptieren müssen, schon gar nicht Bullshit, der uns aufgenötigt wird wie esoterisches Geheimwissen. Oder gar mit der unverblümten Forderung, wir sollten gar beweisen, dass der Redner falsch liegt.

Nein, das ist gar nicht unsere Pflicht. Oder wie es Schneider formuliert: Wer Beweise verlangt, soll erst mal selber welche bringen. Und zwar Beweise im wissenschaftlichen Sinn. Nicht irgendwelche dubiosen Quellen, die nichts anderes tun, als die Meinung des so von sich Überzeugten zu bestärken.

Wer wird sich denn mit Fakten quälen?

Denn so funktionieren ja die Blasen in unserer schönen neuen Internet-Welt: Die meisten Leute suchen im Internet nicht nach belastbarem Wissen, geprüften Fakten und gut belegten Informationen. Sie suchen nur nach Stoff, der ihre eigene Meinung bestärkt und bestätigt. Das sieht für die Meisten dann so aus, als wären sie bestens aufgehoben in einer großen Gemeinschaft von Leuten, die das ach so geheime Wissen teilen.

Da man einander selbst bestätigt und jeden, der „dumme“ Fragen stellt, niederbrüllt und cancelt, ist die Welt rund (oder auch flach, wie einige Leute meinen), man ist auf der richtigen Seite. Und indem man die Störenfriede, die einem sagen, dass man falsch liegt, einfach niederbrüllen kann, verringert man auch die „unangenehme kognitive Dissonanz“.

„Die kritische Menge an Gegenargumenten, bei der man die grundsätzliche Abwehrhaltung aufgibt, wird nie erreicht“, schreibt Schneider. „Das Problem sind nicht Fake News, das Problem ist, dass die Menschen in einem nie dagewesenen Maß selber kontrollieren, welche Informationen sie konsumieren.“

Ein direkter Effekt der Algorithmen, welche die großen Plattformen anwenden, um die störenden Nachrichten professioneller Medienanbieter auszufiltern. Die meisten Nutzer bekommen die gar nicht mehr angezeigt, sondern nur die Aufreger aus der eigenen Bubble. Und das formt natürlich die Sicht auf die Welt.

Die Lust auf keine Meinung

So nebenbei hat Schneider also, indem er den Weg zu vielleicht doch gelingenden Streitgesprächen zeigt, auch deutlich gemacht, wie die „neuen Medien“ die Gesprächskultur in unserer Gesellschaft systematisch zerstören und aus Menschen, die eigentlich gut miteinander reden könnten, Mitglieder randalierender Fan-Blöcke macht, die die anderen Fans nur noch für des Teufels halten.

Meinungsverschiedenheiten wurden „zunehmend nicht über Argumente ausgetragen, sondern über gefühlte Wahrheiten“, schreibt Schneider in Bezug auf die völlig enthemmten Diskussionen in der Corona-Zeit. „Wut und Ressentiments hatten die Rolle von Erklärungen und Begründungen eingenommen.“

Vorbei ist das noch immer nicht. Der Streit um Masken und Impfungen macht nur deutlich, dass die zunehmende Spaltung in der Gesellschaft in lauter Leute, die nicht mehr bereit sind, miteinander zu reden, in Krisenzeiten nur noch in unlösbare Konflikte führt. Das Thema war 2018 schon hoch virulent. Seitdem hat sich an der Brisanz nichts geändert.

Aber das Buch ist trotzdem ein guter Ratgeber für alle, die keine Lust mehr haben, sich ständig mit endlos wiederholten Argumenten zu streiten, sondern wieder Gespräche zu führen, die für beide Seiten fruchtbar werden. Was auch eine überraschende Erkenntnis mit sich bringt, die Schneider schon früh verrät: „Das Buch ist so gesehen ein Plädoyer für mehr Meinungsschwäche. Wenige Dinge im Leben sind entspannender, als nicht zu allem eine Meinung zu haben. Mit dieser Haltung werden Sie zu jenem offenen Gesprächspartner, der Sie sein möchten.“

Aber man versteht dieses Plädoyer besser, wenn man sich durch die zehn beherzt formulierten Kapitel in diesem Buch gelesen hat bis zu jenem schönen, das betitelt ist mit „Alles Vollidioten außer Ihnen“.

Nicht wahr?

Reto U. Schneider „Die Kunst des klugen Streitgesprächs“, Kösel Verlag, München 2023, 20 Euro.

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