Kann der Mensch tatsächlich eine Künstliche Intelligenz konstruieren? Eine, die von menschlicher Intelligenz ununterscheidbar wäre, sie gar überträfe? Manche Apologeten der modernen Rechentechnik sind ja vollkommen davon überzeugt und füllen die Nachrichtenkanäle mit ihren Verheißungen. Aber der Philosoph und Softwareunternehmer Jörg Phil Friedrich hält all das für die Folge eines völlig falschen Verständnisses von Intelligenz und Vernunft.

Und auch von einer völlig degenerierten Vorstellung davon, was menschliche Kreativität eigentlich ausmacht. Er holt schön weit aus in seinem Essay, denn natürlich kann er nicht davon ausgehen, dass die Leser auch nur ansatzweise wissen, wie sehr sich die Vorstellung von menschlichem Denken und dem, was unter Intelligenz verstanden wird, in den vergangenen Jahrhunderten verändert hat – geradezu verengt.

Bis hin zur Verwaschung der Unterschiede zwischen Vernunft und Intelligenz. Dass Intelligenz ganz und gar nicht bedeuten muss, dass der Denkende auch vernünftig ist und sich im Sinne Kants der eigenen Vernunft auch bedient, führt Friedrich sehr anschaulich aus. Er will ja, dass seine Leser verstehen, worum es geht.

Und er weiß, dass sie alle aus derselben – verengten – Denktradition kommen. Eine Tradition, die mit dem Siegeszug des technischen Denkens zu tun hat. Denn selbstredend kann man nicht abstreiten, dass das moderne technische Denken enorme Ergebnisse mit sich gebracht hat – eine technologisierte Welt, welche die Bewohner derselben immer wieder in Verzückung versetzt. Kaum zu glauben, wozu menschlicher Erfindergeist in der Lage ist. Im Guten wie im Dummen.

Getrimmt auf formalisiertes „Wissen“

Dahinter aber steckt eine zunehmend standardisierte Welt des Denkens und Schreibens. Was jeder weiß, der mit technischen Anleitungen zu tun hat. Aber es steckt auch in sämtlichen Formalien für wissenschaftliche Arbeiten, politische Analysen, Schulaufsätze – eigentlich sämtlichen Bereichen, wo es um abfragbares, nachvollziehbares und vereinheitlichtes Wissen geht.

Und das Faszinierende an Friedrichs Herleitung ist, wie er zeigt, dass nicht nur all diese formalisierten Texte, auf die der moderne Mensch längst konditioniert ist, auch den Weg hin zur Computertechnik geradezu vorgezeichnet, wenn nicht gar erzwungen haben. Denn nichts ist formalisierter als das Rechenprogramm eines Computers. Daran hat sich seit den Zeiten von Alan Turing nichts geändert, der vielen vor allem durch seinen Turing-Test bekannt ist.

Dass dieser von Turing gedanklich ausformulierte Test meistens falsch wiedergegeben wird, ist letztlich egal. Denn er dreht sich trotzdem um die entscheidende Frage. Nicht, ob wir erkennen können, ob uns da nun ein Computer gegenüber sitzt (und sei es einer, der mit KI gefüttert ist), sondern ob wir überhaupt wissen, was eigentlich künstliches „Denken“ von unserem eigenen Denken unterscheidet. Und Friedrich deutet berechtigterweise an, dass die meisten Menschen überhaupt nicht (mehr) verstehen würden, wo da der Unterschied ist, weil doch die heute so gehypte Künstliche Intelligenz augenscheinlich immer mehr Dinge besser kann als selbst menschliche Profis auf dem Gebiet.

Was dann natürlich all die Ängste schürt, aus denen Leute, die mit Aktien Geld verdienen, ihre Profite machen. Werden durch die KI nun also auch Rechtsanwälte, Bürokräfte und Journalisten ihren Job los, weil die KI das alles besser kann? Natürlich kann sie das. Auch der so gern gerühmte Journalismus lebt zu einem riesigen Teil von formalisierten Texten, die eine trainierte KI viel schneller in derselben „Qualität“ liefern kann.

Denn „Qualität“ ist da gar nicht gefragt. Egal, ob Sport- oder Polizeimeldungen oder Börsennachrichten – das schafft ein eingespielter Algorithmus in Sekundenbruchteilen hinzurotzen. Dazu braucht es keine Kreativität und eigentlich auch keine Recherche. So wie eben auch ein Großteil des Journalismus heute aussieht.

In einer Welt aus strikten Formalien

Die meisten Menschen bekommen gar nicht mit, wie formalisiert die Texte in ihrer Welt längst sind. Darauf werden sie alle geschult. Denn das lernt man – nicht nur im deutschen Schulsystem – zuallererst und bis zum Abitur oder dem Studienabschluss: Wie man formalisierte Texte zu formalisierten Aufgabenstellungen schreibt. Selbst „kreative“ Fächer wie Literatur, Musik und Kunst sind da keine Ausnahme.

Und dass die Lehrerinnen und Dozentinnen nicht jeden Tage heulend aus der Schule und der Uni rennen, hat natürlich damit zu tun, dass die meisten von ihnen darüber schon lange nicht mehr nachdenken.

Auch nicht darüber, was so eine Formalisierung des Denkens mit dem Denken, der Fantasie, der Kreativität der Kinder und jungen Leute anrichtet.

Das Wort degeneriert taucht bei Friedrich nicht zufällig auf. Es ist dieses formalisierte – also verengte und damit deutlich degenerierte Denken, das auch die heutigen Algorithmen hervorgebracht hat. Und wir haben es nach wie vor mit Algorithmen – also formalisierten Rechenprozessen -– zu tun, wenn uns jemand versucht, seine KI anzudrehen. Leistungsfähig ist sie nur deshalb, weil dahinter ungeheure Rechenkapazitäten stecken und – was Friedrich geradezu genüsslich darlegt – eine unendliche Menge formalisierter Texte, die Menschen ganz freiwillig ins Internet gestellt haben. Und weiterhin stellen. Denn an diesen Texten werden die modernen KIs „trainiert“.

Wobei Friedrich auch darauf hinweist, dass das Wort trainiert hier in die Irre führt. Es ist einer der vielen Begriffe, mit denen wir technische Systeme und das, was sie tun, vermenschlichen – und damit selbst wieder dazu beitragen, die Illusion eines intelligenten Gegenübers zu schaffen, der so etwas wie eine Persönlichkeit entwickelt. Aber genau dazu sind diese „lernfähigen“ Algorithmen nicht in der Lage. Noch nicht. Da ist auch Friedrich nicht so sicher, ob die Menschen nicht doch noch einen Weg finden, der heutigen „schwachen KI“ irgendwann einmal eine „starke KI“ folgen zu lassen, welche die Fähigkeit der Selbsterkenntnis besitzt.

Computer sind das Produkt formalisierten Denkens

Denn die heute schwache KI kann zwar in Sekunden Aufsätze zusammenschreiben, die Lehrer nicht mehr von den möglichen tatsächlichen Ergüssen ihrer Schüler unterscheiden können, auch Bilder kreieren, über die eine völlig vernarrte Kunstwelt „staunt“, Gedichte und Romane nach formalisierten Regeln schaffen, bei denen keiner mehr weiß, ob sie von einem Menschen oder einer KI stammen.

Aber genau diese Deckungsgleichheit macht erst deutlich, wie viel formalisierter Müll unsere Galerien und Buchhandlungen füllt, wie viele nach billigen Formeln verfasste Romane die Leute lesen, wie viele idiotische Filme, die von vorn bis hinten keine einzige Idee beinhalten, aber nach bewährten Formalien abgedreht wurden. Und wenn es eben an Spannung fehlt, wird geballert, geprügelt, gemordet. In dieser Hinsicht sind schwachsinnige Regisseure dann „erfindungsreich“.

Das ist jetzt meine Emotion. Friedrich ist da wesentlich zurückhaltender. Aber das Fazit ist eindeutig: „Es ist offensichtlich, dass die Entwicklung des formal-logischen, wissenschaftlich-technischen Denkens zur vorherrschenden Weise und zur Norm des menschlichen Denkens überhaupt die Entwicklung der digitalen Computertechnik nicht nur möglich gemacht hat, sondern sogar gefordert hat.“

Womit der Mensch also ein weiteres Werkzeug geschaffen hat, das ihm letztlich langweilige, weil formalisierte Aufgaben abnehmen kann. Nicht nur das Rechnen, sondern auch das Abfassen formaler Texte.

Wo bleibt der Mensch?

Nur eine Frage bleibt: Wo bleibt dann der Mensch? Wenn er nur aus all dem formalisierten Denken bestünde, das die von ihm entwickelte KI viel fehlerfreier abwickeln kann, wäre er ja überflüssig. Oder?

Wäre die KI nicht so strohdumm. Denn da sie keine eigene Persönlichkeit besitzen kann und damit auch keine Wertungsmaßstäbe für richtig und falsch hat, hat all das, was sie produziert, auch keinen Sinn. Sie „weiß“ nicht, was sie tut. Ihr ist egal, was die Menschen dann mit ihren Erzeugnissen anfangen. So egal, wie es Mark Zuckerberg und Elon Musk ist, was ihre „social media“ anrichten, hinter denen ja bekanntlich auch nur „intelligente“ Algorithmen stecken.

„Die KI selbst hat – jedenfalls auf dem gegenwärtigen Stand – keine Ziele und Absichten, sie will sich nicht weiterentwickeln, sie will auch nicht pausieren, sie will nicht besser werden“, schreibt Friedrich, dem diese „lernenden Systeme“ schon vor 30 Jahren zum ersten Mal begegneten. Das heißt: Wenn Menschen sich über die Ergebnisse der KI freuen, freuen sie sich eigentlich darüber, dass ein von Menschen programmiertes Werkzeug so gut funktioniert. Aber eine Intelligenz steckt eben nicht darin, Vernunft schon mal gar nicht.

Denn dazu braucht es die Fähigkeit der Selbsterkenntnis, die Fähigkeit, über das eigene Denken (und Fühlen) nachdenken zu können. Der Mensch ist nämlich nicht nur darauf „programmiert“, formale Dinge abzuarbeiten und Lösungen für Probleme zu finden. Er sucht auch in allem, was er tut und was ihm begegnet, einen Sinn. Eine Welt ohne Sinn ist für ihn sinnlos. Friedrich schreibt von der „wilden Schönheit der natürlichen Vernunft“, die er im letzten Kapitel dem entgegensetzt, was uns heute so gern als (Künstliche) Intelligenz angedreht wird: „Es ist eine künstlich beschnittene Form von Vernunft, die zuerst die Dominanz in der technischen Welt erlangt hat und nun von den neuesten Produkten dieser Vernunft selbst reproduziert werden kann.“

Wo steckt der Sinn?

Die Lösung liegt in der Besinnung, stellt er fest. Ein schönes Wort, mit dem er auch ein wenig spielt. Denn natürlich steckt da auch wieder das Wort Sinn drin. Indem wir uns auf uns selbst besinnen, geben wir unserem Handeln auch einen Sinn. Meist einen guten und richtigen, denn darüber denken die meisten von uns zumindest nach, wenn man von den formalisierten Hohlköpfen absieht, die glauben, Nicht-Nachdenken wäre auch eine Form von Meinungsbildung.

Der Essay macht gerade deshalb, weil er die Schwächen der künstlich erschaffenen „Intelligenz“ sichtbar macht, eben auch deutlich, dass wir alle in einer Welt der degenerierten Vernunft leben, in welcher der Sinn unseres Daseins immer wieder technokratischen Machbarkeitsmustern geopfert wird. Muster, die Politiker genauso verinnerlicht haben wie die Konstrukteure, Manager und Aktienhändler. In den formalisierten Abläufen kommt das Wohl des Menschen genauso wenig vor wie die Schönheit und Bedrohtheit der Welt.

Das Ergebnis sind sinnlose Abläufe, die gerade unsere Lebensgrundlagen zerstören. Eifrig unterstützt von stur nach Formalien arbeitenden Bürokraten, Richtern, Politikern. Wenn man das erst einmal sieht, wird einem manches klarer. Nur: Wo schaltet man die Maschine wieder aus? Und wo bringt man wieder Sinn in das, was Menschen tun?

Dazu braucht man eine Vernunft, die (wieder) fähig ist, über sich selbst zu reflektieren.

Das Werk von Friedrich ist ein Essay, der genau dazu anregt.

Jörg Phil Friedrich „Degenerierte Vernunft“, Claudius Verlag, München 2023, 20 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar