Was wirklich um 1450 v. Chr. in Phaistos geschah, werden wir natürlich nie erfahren. Die Ruinen des Palastes von Phaistos kann man auf Kreta noch heute besichtigen als Zeugnis der einst blühenden minoischen Kultur. Doch das Jahr 1450 vor unserer Zeitrechnung fällt auch zusammen mit dem Untergang dieser Kultur und der Eroberung der Insel durch die mykenischen Griechen. Das regt natürlich die Fantasie von Autorinnen an wie der Leipzigerin Heike Wolff.

Bislang war Heike Wolff eher in der Fantasy zu Hause. Mit „Der Untergang von Phaistos“ legte sie ihren ersten historischen Roman vor, in dem sie mit Ide, der Tochter des Archons von Phaistos, eine Heldin erschafft, die mitten in die politischen Konflikte ihrer Zeit gerät. Vulkanausbrüche und Erdbeben haben die Kulturen auf Kreta verarmen lassen. Selbst die Ernten reichen kaum mehr, die Bevölkerung zu ernähren.

So sucht Ides Vater nun im fernen Pylos einen Verbündeten, will seine Tochter mit dem Prinzen Agathon vermählen und so seinem bedrohten Volk einen starken Partner verschaffen, der Phaistos beisteht, wenn die Achäer anfangen, die Insel Kreta zu erobern.

War ein Vulkanausbruch der Anfang vom Ende?

Wie das damals tatsächlich ablief und ob der Palast von Phaistos jetzt durch ein Erbeben oder durch eine Eroberung in Flammen aufging, weiß niemand. Immerhin ist da eine Zeitschicht, die selbst aus Sicht der Homerischen Epen über Troja schon fernste Vergangenheit war. Mythische Zeit. Auch wenn sie bis in die griechischen Legenden hinein schimmert – man denke nur an König Minos, bis heute bekannt durch sein berühmtes Labyrinth, Namensgeber für die ganze Kultur, die die Archäologen auf Kreta ausgegraben haben.

Aber natürlich ist das eine Frage, welche die Fantasie anregt: Wie gehen solche blühenden Reiche eigentlich unter? Brauchte es dazu erst die vom Festland einfallenden Achäer? Oder reichten dazu die Folgen des gewaltigen Ausbruchs des Vulkans Thera ungefähr um 1600 vor unserer Zeit, um tatsächlich das Ende der minoischen Kultur zu besiegeln, wie es auch Geologen lange Zeit annahmen? Über die Stärke der Eruption streiten sich die Forscher – aber der Ausbruch muss damals auch einen gewaltigen Tsunami ausgelöst haben.

Das war zwar alle lange vor dem Zeitpunkt, an dem Heike Wolff ihre Geschichte handeln lässt. Aber als These ist das durchaus durchspielbar: Wie reagiert eine alte Kultur, wenn sie wirtschaftlich in die Knie geht? Wenn alte Eliten ihre Macht schwinden sehen? Wenn die alten Kulturen nicht mehr funktionieren und auch Tieropfer die Götter nicht mehr gnädig stimmen?

Gehen so Kulturen unter?

Oder sind dann Kriege und grausam ausgetragene Konflikte sogar zwangsläufig die Folge? Man merkt schon: Wenn man solche Fragen stellt, ist man in der Gegenwart. Denn wenn es schon in der Antike so war, dass Kulturen sich am Ende in Krisen, Kriegen und Brandschatzungen auflösten, um die verbliebenen Ressourcen mit rücksichtsloser Gewalt gekämpft wurde – passiert das auch heute wieder? Denn eines war ja den Griechen der nachhomerischen Zeit nur zu bewusst: Kulturen gehen unter. Davon erzählt ja auch Homers „Ilias“. Und mit ihnen verschwinden ihre Kulte und ihre Götter. Die Paläste der einst Mächtigen gehen in Flammen auf.

Aber wie erlebten das die Menschen, die direkt davon betroffen waren? Gar die Eliten, die ihre Macht schwinden sahen? Heike Wolff versucht es zu gestalten, indem sie sich auf die letzten Tage Ides am Hof ihres Vaters konzentriert, an dem die Unruhe längst überall greifbar ist. Das Volk hungert. Die Ernten fallen immer schlechter aus. Und Nachrichten von den auf Raubzug fahrenden Achäern zwingen Ides Vater, nach einer Möglichkeit zu suchen, den Weiterbestand von Phaistos zu sichern. Ides Schwester ist Oberpriesterin, aber zwischen den Schwestern gibt es kein einigendes Band. Will sie gar selbst die Macht? Das weiß Ide nicht.

Das, was ihr in diesen wenigen Tagen passiert, kann sie erst spät reflektieren – weitab von Kreta im Exil. Ihre Brautfahrt nach Pylos, wo ihr Vater in einem seltsamen Kampf mit einem Löwen schwer verwundet wird, während Agathons Leibwächter Borras scheinbar tatenlos zuschaut, verläuft ganz und gar nicht, wie sie sich das vorgestellt hat. Vieles kommt ihr seltsam vor. Aber ist sie nicht nur Spielball? Hat ihr Vater nicht alles durchdacht?

Und sieht dennoch nicht, dass die aus Pylos abfahrenden Schiffe voller Krieger sind. Nicht wirklich die richtige Begleitung für eine Vermählung, die Agathon zum neuen Archon von Phaistos machen soll.

Wenn nur noch Gewalt zählt

Und zurück in der Heimat hören die seltsamen Vorgänge nicht auf. Ide geht es wie Kassandra: Niemand will ihre Beobachtungen glauben. Die Männer spielen, wie es aussieht, alle ihr eigenes Spiel. Und am Ende kulminiert alles an dem Tag, an dem ihr geliebter Großvater seine letzte Reise antreten soll. Die Gewalt kulminiert. Und auch Agathon kann für Ides Leben nicht mehr einstehen, sodass ihr nur die Flucht mit ihrem Geliebten, dem Flottenadmiral Geros bleibt, der schon lange keine Flotte mehr befehligt, denn die ging großenteils unter beim letzten Vulkanausbruch.

Und so ist Ides Geschichte reine Erinnerung. Erzählt viele Jahre später, als ihr längst klar geworden ist, wer da alles ein falsches Spiel gespielt hat. Und dass es eben leider auch nicht hilft, Großvaters Spruch zu folgen, der ihr noch gesagt hatte: „Du kannst alles erreichen, was du willst, Ide.“ Ein Spruch, der eben nicht mehr gilt, wenn Männer ihre Machtspiele ausüben und die Dinge mit Gewalt zu lösen versuchen. Da hatte wohl ihr Vater eher recht, der bis zuletzt verzweifelt nach der Lösung des Problems suchte, für das es augenscheinlich keine Lösung mehr gibt: In Zeiten des Krieges zählt nur noch kriegerische Gewalt.

Wer keine Heeresmacht hat, sich zu wehren, kann vielleicht noch froh sein, wenn einen die Mächtigen nicht auszulöschen versuchen.

Man merkt schon, wie sehr die Ruinen auf Kreta Heike Wolff beeindruckt haben müssen. Mitsamt der Frage, die auch Archäologen immer wieder umtreibt: Wie können solche stolzen Kulturen eigentlich untergehen? Was ist damals tatsächlich geschehen? Und wie haben es die Menschen erlebt, die in diesen Häusern einst lebten? Oder ging es ihnen tatsächlich wie Ide und Geros, dass ihnen zuletzt nur noch die Flucht blieb, die Rettung des blanken Lebens?

Ein Drama shakespearschen Formats

Wobei natürlich auch augenfällig ist, dass Heike Wolff einen klassischen Topos des historischen Romans gewählt hat – die Königsebene, die man ja auch aus Shakespeares berühmten Dramen kennen. Und es ist ein Shakespearsches Drama, das hier abrollt – mitsamt richtig finsterer Bösewichter, Fürsten, die die Wahrheit nicht wahrnehmen wollen, einem überforderten Prinzen und einer Fürstentochter, die an einer gewaltvollen Wirklichkeit scheitert. Eigentlich auch am Frauenbild diverser Männer.

Wobei Heike Wolff immer mal andeutet, dass die alte minoische Kultur durchaus ein anderes Frauenbild gehabt haben könnte als die männerdominierte Kultur, die danach die Geschicke in der griechischen Inselwelt bestimmte, mit ihrem auch bei Homer unübersehbaren Kriegerethos und der Faszination entfesselter Gewalt.

Der Roman dürfte trotzdem für manche Leserinnen und Leser eine Einladung sein, sich selbst einmal auf die Spurensuche zu machen und die Zeugnisse der minoischen Kultur auf Kreta zu besuchen. Wie Phaistos unterging, bleibt ein Rätsel der Geschichte. Oder in der Formulierung auf Wikipedia: „Es ist unklar, wie sich die Minoische Eruption direkt oder indirekt auf die Zivilisation der Minoer ausgewirkt hat, da sie weder schriftliche noch bildliche Darstellungen der Katastrophe hinterlassen haben.“

Heike Wolff „Der Untergang von Phaistos“, Istolé, Wuppertal 2022, 17 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar