Was ist, wenn wir als globale Gemeinschaft mit unseren Bemühungen zur Eindämmung der Klimakatastrophe scheitern? Die Zukunft wird düsterer als wir glauben. Ein humanistischer Appell für eine ehrlichere und dadurch auch stärkere Gemeinschaft. Wir werden sie brauchen. Wie lange lässt sich diese Welt noch biegen, bis sie letztendlich bricht? Die Klimakatastrophe hängt wie ein Damoklesschwert über unser aller Zukunft.

Seit mehr als 50 Jahren wissen wir – und insbesondere Entscheidungsträger*innen – genau Bescheid, was mit unserem Lebensraum passiert. Auch das Artensterben nimmt ebenfalls ein furchteinflößendes Tempo an.

Zahlreiche Institutionen wie UNO samt IPCC, Nichtregierungsorganisationen, Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen warnen immer eindringlicher, dass rasch gehandelt werden müsste. Die Erkenntnisse über die Zusammenhänge und die möglichen Zukunftsszenarien sind gut bekannt. Die Menschheit reagiert aber kaum auf die größte Bedrohung ihrer Existenz. Eher im Gegenteil: Die politischen Fronten verhärten sich buchstäblich, innerhalb wie zwischen ökonomisch reichen, Schwellen- und armen Ländern. Unsere Energiekrise beantworten wir mit Aufrüstung, Tankrabatt und einer Erhöhung der Pendlerpauschale statt Rationierung und einer dem Marshallplan ähnlich organisierten Energiewende. Neue Kriege offenbaren die komplexen Probleme unserer Gesellschaften.

Viele Wege führen zum Club of Rome. Vor uns die Sintflut.

Trotz dieser Vielschichtigkeit lässt sich unser Gesamttrend grob in drei Szenarien aufgliedern.

• Plan A: Business-As-Usual.
Allein die Klimakatastrophe zeigt, dass ein „Weiter so!“ nicht möglich ist. Bereits unser Status Quo ist auf „Pump“ gekauft, mit billiger, begrenzter Energie, bei der Natur, dem Klima und den zukünftigen Generationen. Wer nimmt uns Gaias ökologische Kreditkarte weg, bevor wir bankrott sind?

Bild: Carbon Brief Anpassungskurve. Grafik nach Robbie Andrews, aktualisiert durch Carbon Brief, climatecrock.files.wordpress.com
Carbon Brief Anpassungskurve. Grafik nach Robbie Andrews, aktualisiert durch Carbon Brief, climatecrock.files.wordpress.com

Zehn Prozent weniger jedes Jahr? Welcher Wahlkreis macht das Jahrzehnte mit?

• Plan B: Übergang hin zu der „klimaneutralen“ Zukunft samt Einhaltung des 1,5°-Ziels.
Dieser wünschenswerte Wandel ist zwar theoretisch vielleicht noch möglich, es werden aber hier gleich mehrere Dinge nicht berücksichtigt. Wir erreichen gerade, vereinzelt aber immer häufiger, bereits die 1,5°-Grenze. Die offiziellen Schätzungen der nötigen Anpassungen vernachlässigen tatsächliche Kipppunkte im Erdklimasystem, während noch nicht verfügbare Technologien des Geoengineerings großzügig in diese Berechnungen einbezogen werden. Ebenfalls ist die Geschwindigkeit der benötigten Veränderung so enorm, dass unsere Politik, Wirtschaft und Gesellschaften damit nicht umgehen können.

Des Weiteren sind Veränderungen global und in weit mehr als „nur“ dem Klimasystem vonnöten, was wiederum fast alles des uns (materiell wie geistig) Gewohnten infrage stellt und uns mehrheitlich dauerhaft viel abverlangt.

Was, wenn wir es nicht schaffen? Ist ein Zusammenbruch überhaupt zu vermeiden?

• Option C: Zusammenbrüche gibt es nicht nur im Film.
Unsere erfolgsfixierte Kultur ist ziemlich schlecht darin, Negatives (wie den eigenen Tod, Scheitern und schon Schwächen) offen zuzugeben. Daher verwundert es kaum, dass das Thema Kollaps von Zivilisationen hierzulande ein Schattendasein führt. Dabei existiert hierzu bereits eine Menge Forschung, etwas bekannter wären beispielsweise die ernüchternden Kalkulationen der Grenzen des Wachstums, deren neuere Replizierung schon vor dem Jahr 2040 einen möglichen Kollaps beschreibt.

Zu sehen: Systemsimulationen des Club of Rome.(https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Meadows_ltg_page124_fig35_world_model_standard.svg)
Systemsimulationen des Club of Rome (https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Meadows_ltg_page124_fig35_world_model_standard.svg)

Analysen zu bisherigen Zivilisationen (wie z. B. von Luke Kemp, Joseph Tainter, Jared Diamond und Weiteren) machten als Garanten für den Zusammenbruch folgende Faktoren ausfindig: Übernutzung verfügbarer Lebensgrundlagen samt ökologischer Ressourcen, übermäßige Komplexität mit steigenden Erhaltungskosten, wachsende soziale Ungleichheit. Dieses typische Muster wird von unserer Zivilisation vorbildlich übererfüllt. Ein Systemkollaps ist immer wahrscheinlicher geworden.

Warum wird nicht offen über einen Kollaps gesprochen? Schweigen wir uns ins Verderben?

Zum einen erinnert diese Schweigespirale an die kollektive Ohnmacht der Menschen in der späten Sowjetunion. Alle wussten, dass sie versagen würde, niemand konnte sich eine andere Welt vorstellen, alle waren schließlich überrascht, als sie wirklich zusammenbrach. Es fehlt der Modus, kollektiv und auf allen Ebenen unserer Zivilisation effektiv zu handeln.

Zusätzlich zum Mantra „Failure is not an option“ gibt es aber noch einen weiteren Aspekt des öffentlichen Diskurses, die Klimakommunikation. Die Klimapsychologie sagt uns, Menschen seien durch die katastrophalen Nachrichten überfordert. Sie würden sich deshalb distanzieren und in Passivität fallen. Es sei wichtig, im Klimadiskurs darauf zu achten, immer positive und hoffnungsvolle Botschaften zu vermitteln und die Selbstwirksamkeit der Menschen zu stärken, anstatt sie in eine Hilflosigkeit und Resignation zu stürzen. Die blanke Wahrheit sei der Menschheit nicht zumutbar. Dieser Ansatz für eine „wirksame Klimakommunikation” mag im ersten Blick sinnvoll klingen.

Allerdings ist er höchst problematisch, er ist infantilisierend. Wir haben es in der Klimakommunikation nicht mit Kleinkindern zu tun, sondern meist mit erwachsenen Menschen, die es nicht brauchen, vor der Realität geschützt zu werden. Erwachsene Menschen wollen wissen, woran genau sie sind. Nur dann können sie Entscheidungen treffen und den Tatsachen entsprechend handeln.

In akuten Katastrophen-Situationen – wo es um Leben und Tod geht – wird immer wieder beobachtet, wie sich Menschen für das Gemeinwohl selbstlos engagieren. Sie werden von sich aus aktiv, ohne auf die Beteiligung formeller Verwaltungsstrukturen zu warten. Dieser Mechanismus wird aber gehemmt, wenn immer wieder die Botschaft kommt, wir hätten noch Zeit, es sei nicht so schlimm und könne noch irgendwie von abstrakten Institutionen wie der Politik geregelt werden.

Hier zeigt sich die größte Gefahr dieses Ansatzes, nämlich dessen Effekt, die Verleugnung als kollektiven Abwehrmechanismus zu stärken und zu normalisieren, uns dadurch alle kollektiv zu lähmen. Neben einigen weiteren Faktoren, wie z. B. der kollektiven geistigen Gewöhnungstendenz an die sich ständig verschlechternden Gesamtlage, der individuellen Zeitknappheit, Komplexität aller Probleme und professionellen Ablenkungsindustrie, verwundert es kaum, dass wir als Gesellschaften selbst nach den eindringlichsten Berichten, Warnungen und Aussagen der Wissenschaft wieder zur Tagesordnung übergehen oder diese Meldungen kaum noch wahrnehmen.

So bleiben selbst die wichtigsten Publikationen höchstens eine Randnotiz, sei es der neueste, immer düstere IPCC-Bericht oder Global Risk Report des Weltwirtschaftsforums (WEF), Erhebungen von Klimaforschenden, die mehrheitlich von mehr als 3°C Erwärmung bis Ende dieses Jahrhunderts ausgehen, teils massives Überschreiten von sechs der neun planetaren Grenzen etc.

Das Ãœberschreiten planetarer Grenzen. Aus: https://www.ipcc.ch/report/ar6/wg2/ Downloads (summary) S. 32,
Der letzte Strohhalm des IPCC. Stabile Szenarien Mangelware. Aus: https://www.ipcc.ch/report/ar6/wg2/Downloads (summary) S. 32,

Das Ende muss nicht das Ende von allem sein. Change is coming, whether you like it or not. Das Konzept des Kollapses wird sehr unterschiedlich definiert. Anders als in Weltuntergangsfilmen wird akademisch eher von einem langwierigem Rückgang an Komplexität ausgegangen, welcher zwar auch krisenhaft und leidvoll abläuft, aber kein kollektives Todesurteil bedeuten muss. Einzelne gesellschaftliche Zusammenbrüche haben in den letzten Jahrzehnten stattgefunden, zuletzt z. B. im Libanon, davor in Teilen auch in Griechenland, Anfang der 1990er Jahre auch auf Kuba.

Ähnlich der Emissions-Anpassungskurve können somit auch geplante Strukturwandel, wie recht bekannte Konzepte wie Postwachstum, Degrowth, Suffizienz und Subsistenz-Wirtschaft eine Art Kollaps der bisherigen Wirtschafts- und Verbrauchslogik darstellen. Je früher wir einen solchen Übergang anstoßen, desto eher ist diese unvermeidliche Wende noch gestaltbar und damit viel Leid für vulnerable Gruppen und den globalen Süden verhinderbar.

Ende 2020 erschien ein offener Brief hunderter Wissenschaftler*innen, die vor einem potenziellen Zusammenbruch der Gesellschaften warnen. Sein Titel lautete übersetzt „Nur wenn wir über den Kollaps diskutieren, können wir uns vorbereiten“. Warum also die Möglichkeit eines Kollapses leugnen, wie andere die Klimakatastrophe leugnen? Es gibt gute Gründe hier eine ehrlichere gesellschaftliche Diskussion und Vorbereitung zu führen, ohne Dogmen und Denkverbote:

Anders als bereits erwähnte Positionen der Klimakommunikation kam eine Metaanalyse (also zusammengefasste Studie mehrerer Studien) zu dem Ergebnis, dass Angstappelle sich zuverlässig positiv auf Einstellungen, Intentionen und Verhalten auswirken.

– Wissen bedeutet auch Verantwortung. Beispielsweise sind Ärzte verpflichtet, die Wahrheit zu sagen. Sie machen sich sogar strafbar, wenn sie Diagnoseergebnisse verschweigen. Warum sollen in der Klimakommunikation andere Regeln gelten?

– Da unsere Staaten nicht gut gegen größere Krisenereignisse (wie z. B. längerfristige Stromausfälle, sog. Blackouts) vorbereitet sind, gilt dies wohl erst recht für deren eigenen Zusammenbruch. Daher wäre die verpasste Chance eines offenen Diskurses samt adäquater Vorbereitung gleich doppelt fatal.

– Des Weiteren zeigen diverse Erhebungen der letzten Jahre, dass unterschiedlichste Gruppen negative Vorstellungen von der Zukunft haben. Nicht nur Kinder und Jugendliche haben weltweit Klimaangst, sind mehrheitlich sehr bis extrem besorgt, beängstigt und emotional belastet. Ähnliche Ergebnisse lieferte auch die Zukunftsstudie des Kölner rheingold instituts, aber auch der Global Risk Report 2023 des Weltwirtschaftsforums (WEF). Vor den unbestreitbar enormen Herausforderungen der Zukunft wäre es viel konstruktiver, alle willigen gesellschaftlichen Gruppen für eine maximale Schadensbegrenzung zu informieren und zu mobilisieren. Die meisten der mit Klimaangst belasteten Menschen könnten so merken, dass sie damit nicht alleine sind.

Als soziale Wesen finden wir Menschen gerade in Gemeinschaften den nötigen Sinn, welcher uns in Krisenzeiten zusammenschweißt. Hier steckt also das größte Potenzial, welches ungenutzt bliebe, wenn das Ausmaß der Gesamtsituation und der Pfad des Wandels nicht offen besprochen werden würden. Was nicht besprechbar ist, ist auch nicht gestaltbar.

Während es in anderen Ländern bereits Ansätze für solche Netzwerke gibt (z. B. Deep Adaptation v. a. im Vereinigten Königreich, Kollapsologie in Frankreich, Just Collapse v. a. in Australien und Ozeanien), gibt es im deutschsprachigen Raum wenig Möglichkeiten der Partizipation. Durch die Tabuisierung ist gerade einmal das Thema Prepping (also v. a. materielles, individuelles Vorbereiten auf Katastrophen) etwas bekannter und nicht selten politisch rechtsideologisch besetzt. Es bräuchte daher einer zivilgesellschaftlichen Gegenbewegung mit klar solidarischen Narrativen, die über kleinere Gruppen wie bestehende Online-Treffen (z. B. vom Klima-Kollaps Café Leipzig) und Initiativen hinausgehen und sich offen mit der Transition-Town-, Degrowth- und weiteren Bewegungen vernetzen.

Was ist wirklich fatalistisch? Wie viel Erwachsen-Sein trauen wir uns zu?

Während die Krisen um Klima, Artensterben, Energie etc. zunehmen, steht auch die Klimabewegung vor einer internen Krise. Deren Ziele werden nach und nach verfehlt (z. B. ist das 1,5°-Klimabudget der USA bereits überschritten) und deren Mitglieder laufen Gefahr, frustriert, desinformiert und enttäuscht zurückgelassen zu werden, während es nie nötiger war, um jedes Zehntel Grad zu kämpfen.

Was wir alle brauchen, ist zu wissen, woran wir sind. Erst dann können wir zusammen kommen und das tun, was wir als Menschen in akuten Katastrophensituationen immer tun: uns für das Gemeinwohl engagieren. Nicht zu handeln, nicht ehrlich zu sein, nicht offen und auf Augenhöhe miteinander zu kommunizieren ist fatalistischer, als sich sehr negativen Zukunftsszenarien und unausweichlichen, unangenehmen Entwicklungen zu stellen.

Wir müssen lernen, offen mit unserem Scheitern umzugehen. Die Klimakommunikation der letzten Jahrzehnte ist gescheitert. Der Kapitalismus ist gescheitert. Unsere globale Zivilisation ist gescheitert. Wenn wir noch länger so weitermachen wie bisher, uns dazu noch infantilisieren und bevormunden lassen, sind wir gescheitert.

Wir Menschen sind aufeinander angewiesen. Nutzen wir die Chance.

Bilden wir widerstandsfähige, solidarische und offene Gemeinschaften und Netzwerke, oder widmen wir uns leugnend und passiv unserem Untergang?

Vorliegender Text ist ein Gastbeitrag vom Klima-Kollaps-Café, allen voran den Mitgliedern Zeynep Güçbilmez (Klinische Psychologin), Lilly Panholzer (Lehrerin, Teachers For Future), Roland Busch (Psychologe), Norbert Prinz (Gestalttherapeut, kollapspsychologie.de), Thomas Reis (PV4.eu,meer.org) Christian Zauner (Parents For Future).

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Ein sehr guter Beitrag, den ich unbedingt weiterempfehle. Man kann ihn de facto als Teil 4, meines Artikels „Vollbremsung oder Klimacrash“ betrachten.
https://www.l-iz.de/leben/gesellschaft/2023/09/vollbremsung-klimacrash-klimaschutz-systemrelevant-teil-3-552609
In der Debatte zu meinem Artikel wird die Darstellung der derzeitigen und zu erwartenden Entwicklungen dreimal als „apokalyptisch“ diskreditiert, also als unwissenschaftlich, übertrieben und nicht zielführend.
Allerdings sind ja die weitere Verleugnung der Tatsachen und die weitere Verharmlosung der Entwicklungen, der direkte Weg in eine irreversible apokalyptische Endzeit.
Ich unterstütze die Intention des Artikels „Der blinde Fleck…“ vollkommen.
Nur das Anerkennen der vollen Wahrheit und dementsprechendes Handeln bieten noch die Möglichkeit, das Allerschlimmste vielleicht doch noch zu verhindern. Ich versuche seit 10 Jahren dementsprechend aufzuklären und der weitverbreiteten Verblendung und Problemverdrängung
die „unbequeme Wahrheit“ entgegenzusetzen.
Im Anschluss einige Auszüge aus einem Artikel von 2018/2019:

Die Wahrheit stirbt zuerst
Die Wahrheit über unseren heißen Krieg mit der Natur war schon immer unbequem und ist inzwischen so erschreckend, dass sie den Menschen nicht mehr zumutbar ist, meinen die Mächtigen. Die Wahrheit stirbt zuerst, wie in jedem Krieg,- wenn wir es nicht verhindern.
Die Wahrheit ist inzwischen Verhandlungssache, scheint es. Sie verkommt zusehends zum kleinsten gemeinsamen Nenner, auf den sich die Mächtigen dieser Welt noch verständigen können und der dann von dienstbaren Geistern in Wissenschaft und Medien verkündet, verstärkt und vermittelt wird und sie darf keinesfalls den Fortgang der Geschäfte stören. Das sag- und denkbare, auch über die Klimakatastrophe, ist ein machtmäßig festgelegter, abgesteckter Bereich, das sogenannte Overton-Fenster. Das definiert, was gemäß der öffentlichen Moral/Meinung eine akzeptable Äußerung ist und was als unsagbar oder radikal gilt (Klimarebellen, So plant ‘Extinction Rebellion’ den Aufstand fürs Klima – klimareporter, 26.04.2019).
Die kanonisierte Wahrheit wird massenmedial multipliziert und infiltriert, wodurch die eigentliche Wahrheit tabuisiert wird und die Anhänger der Wahrheit zu Außenseitern, Panikmachern, Apokalyptikern gemacht werden. Ökologische Modernisierung und grünes Wachstum sind denkbar, eine schnelle, drastische Reduzierung der Energie- und Stoffströme z.B. nicht.

Die wissenschaftliche Wahrheit wird offenbar dem realpolitischen Interesse unterworfen und dienstbar gemacht. Es ist eine Tatsache, dass viele Aussagen des IPCC bisher eher konservativ und verharmlosend waren und von der Realität immer schnellstens revidiert wurden, sei es bei Eisschmelze oder auch beim Meeresspiegelanstieg. Es wurde immer die optimistischste Möglichkeit und nicht die gefährlichste gewählt. Unbequeme Forschungsergebnisse und Entwicklungsmöglichkeiten werden oft ausgeblendet oder vorläufig ausgeklammert (wegen unsicherer Datenlage bspw.). Viele Wissenschaftler stellen deshalb die Situation besser dar als sie ist, um nicht alarmistisch zu klingen. Den gefährlichsten Entwicklungen wird laut Prof. Schellnhuber zu wenig Beachtung geschenkt(siehe „Stirbt die Menschheit aus, Klimareporter, 09.06.2016).
„… Es ist längst zu erkennen, dass wir selbst bei Erfüllung des Pariser Klimavertrages auf eine Erderwärmung um 3 bis 4 Grad zusteuern“, meint Klaus Wiegandt, Vorstand der Stiftung „Forum für Verantwortung“. Dass diese „halbherzige Klimapolitik weiterhin ungestraft“ möglich ist, „liegt vor allem an der Unkenntnis breiter Bevölkerungsschichten über die bedrohlichste Folge eines ungebremsten Klimawandels, …großflächige Ernteausfälle auf allen Kontinenten. Der Kampf um Nahrung und Wasser wird bald zum Alltag gehören- auch in Europa.“ (Die Zeit ist reif, Anzeige in DIE ZEIT 17, 17.04.2019).

Die seit der Pariser Klimakonferenz vielbeschworene Zauberformel, „die Erderwärmung auf deutlich unter 2 Grad, möglichst sogar auf 1.5 Grad zu begrenzen“ ist ein massenpsychologisches Placebo, das unbewusst suggeriert: „Wenn 1,5 Grad noch möglich sind, dann kann es ja noch nicht so schlimm sein, dann können wir ja noch etwas weitermachen wie bisher…“. Ihre mantraartige Wiederholung ist eine Beschwörung des Unmöglichen, das ja nur noch unter der Bedingung und Voraussetzung möglich ist, dass bei fast sofortigen Null-Emissionen gigantische Mengen CO2 aus der Atmosphäre zurück geholt werden, wie der IPCC selbst sagt.
Es wird eine enorme Verringerung der Klimaschulden in die Kalkulation eingeführt, die noch gar nicht erfolgt ist und die äußerst schwierig, wenn nicht unmöglich sein dürfte. Das ist ökonomisch motivierte schwarze Zahlenmagie, die das schon verbrauchte noch einmal verbrauchen will und die Welt in falscher Sicherheit wiegt. Das Ganze erscheint als Versuch, die Uhren wieder auf fünf vor zwölf zurück zu stellen, obwohl es ja schon bald fünf ist, also die Realität schön zu rechnen und die weit extremere Dringlichkeit der Lage zu verschleiern, die ein viel radikaleres und schnelleres Umsteuern erfordert.
Das Zeitfenster hat sich fast geschlossen
…Heute haben wir bereits 410 ppm CO2 erreicht, die als entsprechend erhöhter Strahlungsantrieb bereits im Klimasystem enthalten sind und sich als weitere Erwärmung von etwa 3 Grad realisieren werden. 4 Grad Erderwärmung sind also faktisch bereits unvermeidlich. Um die Erderwärmung auf 1.5 Grad zu begrenzen, müsste der CO2- Gehalt der Atmosphäre daher sofort wieder auf deutlich unter 350 ppm abgesenkt werden und selbst dann wäre nicht sicher, ob sich die Erderwärmung nicht schon verselbständigt hätte.
Doch der CO2- Gehalt der Atmosphäre steigt sogar unablässig weiter, so dass sich die Welt mit einer erdgeschichtlich beispiellosen Geschwindigkeit auf noch höhere Temperaturen zubewegt.
Neben den ungebremsten menschlichen Emissionen treiben ja auch die weiter abnehmenden Kapazitäten der natürlichen Kohlenstoffsenken (schwindende Wälder und wärmer und saurer werdende Ozeane) und die zunehmende Freisetzung von Treibhausgasen durch den auftauenden Permafrost und brennende und verrottende Biomasse den CO2- Gehalt der Atmosphäre immer weiter in die Höhe. Die veränderte atmosphärische Zirkulation beschleunigt offensichtlich die Austrocknung der Vegetation und die abnehmende Wärmerückstrahlung (Albedo) aufgrund schwindender Eisflächen verstärkt die Erderwärmung zusätzlich. Verbesserte Klimamodelle prognostizieren inzwischen eine Erderwärmung von fünf Grad und mehr („Raum für böse Überraschungen“, DIE ZEIT, 25.04.2019).
Weitere Kippelemente im Klimasystem könnten die Entwicklungen bald unumkehrbar machen und es drängt sich die Frage auf, wodurch sie jemals wieder zum Stillstand kommen sollen. Der Übergang der Erde in den lebensfeindlichen, sich selbst verstärkenden Systemzustand einer Heißzeit ist offenbar bereits in vollem Gange.
Wie diese dramatischen Entwicklungen mit einem sogar erhöhten verbleibenden Emissionsbudget, weiterem Wirtschaftswachstum und einem zeitweisen Überschreiten (Overshoot) der Temperaturgrenzen vereinbar sein sollen, erschließt sich nicht (siehe Angelika Zahrnt, Priorität für Wachstum oder Klimaschutz? 15. Februar 2019, Blog Postwachstum). Ob uns überhaupt noch ein verantwortbares Recht auf weitere Emissionen zusteht, muss bezweifelt werden. Zumal der Budgetansatz weder die anderen Treibhausgase (z.B. Methan), noch die schwindenden CO2- Senken und die drohenden Kipppunkte berücksichtigt. Insofern müssen alle bisherigen „Selbstverpflichtungen“ zur Emissionsreduzierung und alle klimapolitischen Planungen als völlig unzureichend und auf spekulativen Annahmen beruhend, revidiert und entschieden verschärft werden.
Es geht inzwischen eigentlich längst nicht mehr darum, wie viel wir noch emittieren dürfen, sondern darum, wie wir das viele CO2 in der der Atmosphäre schnellstmöglich wieder auf weit unter 350 ppm verringern können, um irreversible Prozesse im Klimasystem noch zu verhindern. Eine heute schon fast unlösbare Aufgabe, die man unverantwortlicherweise den kommenden Generationen überlassen will, während die Gegenwart die Lage durch ungebremst viel zu hohe Emissionen weiter verschlimmert.
Das Risiko der Zerstörung der Lebensräume von Milliarden Menschen, aus kurz- und mittelfristigen Macht- und Profitinteressen in Kauf zu nehmen und das Klima- und Erdsystem möglicherweise irreversibel zu destabilisieren, ist ein Verbrechen an der Zukunft der Menschheit, das Tatsachen schafft, die von den kommenden Generationen nicht wieder korrigiert werden können.

Es offenbart sich darin nicht nur Marktversagen, sondern der übermäßige Einfluss fossiler Großkonzerne auf die Politik, was dazu führt dass das fossile Weltzerstörungsprojekt nachwievor sogar noch subventioniert wird und seine immer verheerenderen Folgen auf die Gesellschaft und vor allem auf die kommenden Generationen abgewälzt werden. Ein weiterer Handlungsaufschub ist völlig unverantwortlich und Klimaschutz am St. Nimmerleinstag nicht mehr möglich.
Die Menschheit hat nur dann noch eine Chance, wenn sie die volle Wahrheit erkennt und anerkennt, ihren Krieg mit der Erde schnellstens beendet und alles versucht, um das System Erde in einem noch lebensfreundlichen Zustand zu stabilisieren.

Jürgen Tallig 2018/2019

Die Langfassung des Textes findet sich hier:
https://earthattack-talligsklimablog.jimdofree.com/wahrheit/

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