München, 1983: In der BRD gilt die NS-Fassung des Paragrafen 175 zum Verbot der Homosexualität und für die lebensbedrohliche Krankheit AIDS, die aus den USA herüberschwappt, gibt es keine wirksamen Medikamente. Jedes Mal nimmt der Flori sich vor: Heute mach ich es nicht ohne Gummi. Dann erliegt er jedoch den Wünschen seines Gegenübers – viel zu oft.

Flori ist ein Landei, das mal ganz groß herauskommen möchte. In Sonnkirchen lebt er mit seinen Eltern, beendet seinen Zivildienst im Altenheim, arbeitet im Kleidungshandel. Dort kann er immer mal Klamotten klauen, Frauenkleidung vor allem, mit der er sich zu Hause vor den Spiegel stellt, aber im Dorf niemals nach draußen gehen könnte. Er trifft sich mit der Frau Eichinger aus dem Heim auf ein Eis und mit dem Gregor, um Sex zu haben.

Groß herauskommen, das will Flori. Dafür braucht er aber einige Tritte in den Hintern, von Frau Eichinger („Pfeifens auf des alles, schauens zu, dass fortkommen und Ihren Weg finden, haben wir uns da verstanden?“) wenn es darum geht, sich an der Musikhochschule in München zu bewerben oder seiner Freundin Theresa („Du wolltest des selber so, Flori, jetzt krieg dich mal wieder ein und steh gefälligst deinen Mann hier, du bist doch keine Schisserin, oder?“) als Flori zum ersten Mal geschminkt in München in den Club geht.

Nach München schafft er es nämlich tatsächlich, aber nicht zur Hochschule, sondern zum tagsüber Herumhängen und abends Feiern. Dafür nistet er sich bei Theresa ein, die schon bald genug von ihm hat, denn eine Hilfe ist Flori im Haushalt nicht.

So landet Flori auf der Straße. Mit schlecht bezahlter Sexarbeit schlägt er sich durch und schläft immer mal bei einem Freier auf der Couch. Einmal kehrt er nach Sonnkirchen zurück, um die Frau Eichinger zu besuchen.

Vergrabene Erinnerungen

Flori ist ein durch und durch geschichtsloses Wesen. Er lässt uns nicht teilhaben an seinen Erinnerungen, scheint an der Weltgeschichte nicht teilzunehmen, so fixiert ist er auf sich selbst, das Gegenwartsdrama und den Selbsthass. Dabei drückt sich die Vergangenheit immer wieder in an die Oberfläche, kommt aber nicht durch, während Flori abends im Club steht und nach Verdrängung sucht:

„Wie schnell alles Schöne und Gute auf dieser Mistwelt kaputtgehen kann, schlimmer als in der Bibel beim Johannes ist das manchmal, überall nur ausgeschlagene Zähne auf dem Parkettboden, Spucke und Blutschlieren zwischen den glänzend polierten Lackschuhen der alten Knacker, selbst noch, wenn ich die Augen zumache.“

Planlos lebt Flori von Tag zu Tag und zerrt uns so auch durch dieses Buch, von Seite zu Seite, ab in den nächsten Club, in dem bloß „schiarche Tunten aufn Tod warten“ und wo es nach Schweiß, Zigarettenrauch und verschmierter Schminke duftet. Schafft er es noch?, fragt man sich, halb hoffend, halb ohne Verständnis für die Motivationen dieses Charakters. Floris Geschichte stellt das Märchen, dass man vor sich selbst nicht davonlaufen darf, sondern ankommen und sich Wahrheiten stellen muss, infrage.

Zäh und unhandlich liest sich das Buch. Das liegt nicht nur an den schweren Themen, sondern auch am bairischen Dialekt.

Floris Suche – wonach?

Wie es der Zufall will, wird Flori, nach guter alter Tradition der schwulen Szene, auf der Straße aufgelesen und von einem älteren Pärchen bei sich aufgenommen. Alles scheint sich zum Guten zu wenden, wenn man damit ein geregeltes Leben mit Lohnarbeit meint. Zumindest lebt Flori nicht mehr auf der Straße. Wie es ihm geht: Trotz all der Introspektion irgendwie unklar. Irgendwie scheiße vielleicht. Aber irgendwie auch nicht. Im nächsten Moment vielleicht ganz anders.

Lion Christs Debüt „Sauhund“ stellt uns vor die Frage, was Menschen in dieser Gesellschaft überhaupt glücklich machen kann. In einer Welt, die einem feindselig gegenüber steht, gegen deren Prinzipien von Recht, Ordnung und Integrität man sich wendet, bloß weil man so ist, wie man ist. Während Flori durch Münchens Straßen flaniert, mit fremden Männern knutscht oder sich ausmalt, wie er mal groß herauskommen wird, hat man Zeit, sich zu überlegen, was das bedeutet: Etwas im Leben zu wollen und zu schaffen und warum das überhaupt wichtig ist.

Um es kurz zu machen: Was zählt im Leben? Der vorgeschriebene Weg (Studium, Ausbildung, dann Lohnarbeit, dann Rente), wenn es das überhaupt für einen gibt, oder doch eher das Glück anstatt die Karriere? Wenn das bloß ohne Geld gehen würde.

Kurz macht es uns der „Sauhund“ aber nicht. Eher ausschweifend, wie das Dekolleté einer Dragqueen im angesagtesten Münchner Gay-Club, voller Drama, Glitzer und viel zu schlecht verschminkten Hautporen und Narben.

Lion Christ „Sauhund“,Hanser Verlag, München 2023, 24 Euro.

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