Ostdeutsche Familiengeschichten sind vertrackt. Noch ein bisschen vertrackter, als deutsche Familiengeschichten sowieso schon. So vertrackt, dass in vielen Familien diese Geschichten lieber nicht erzählt werden, weil es Geschichten von Schuld und oft genug fehlender Sühne sind, von Verwicklung und Feigheit. Und von Verlusten, die für die Betroffenen oft zum Trauma geworden sind. So wie für Jan Biege, der noch gar nicht ahnt, was in diesem Buch alles auf ihn einstürzen wird.

Oder eigentlich schon passiert ist. Er weiß nur nichts davon. Denn seine Eltern haben ihn geschont. Und verschwiegen, dass er gar nicht ihr Sohn ist. Was er auch 30 Jahre später, nachdem er das Haus des Vaters wütend verlassen hat, noch nicht weiß, auch nicht ahnt, als ein ehemaliger Schulfreund, der jetzt bei der Polizei auf Rügen arbeitet, bei ihm anruft. Denn an der abbrechenden Küste wurden die sterblichen Überreste der Frau gefunden, die er noch für seine Mutter hält. Einst ist sie unter dubiosen Umständen verschwunden. Ein Kriminalfall? Die Aufdeckung eines alten Verbrechens?

Doch das ist nicht das, was die Autorin Liv Marie Bahrow interessiert, die als Literaturwissenschaftlerin und Schreibdozentin mit ihrer Familie in Leipzig lebt. Und die ihre Homepage mit dem vielsagenden Spruch versehen hat: „Anfangs schrieb ich intuitiv, wild und frei und begriff schnell, dass ich ein paar Regeln lernen muss. Inzwischen weiß ich, dass die wichtigste davon lautet: Zurück zu den Anfängen!“

Ein Leben für die Kinder

Aber wo fängt eine Geschichte an? Mit Jan? Mit Karin und Ronald, die er stets für seine Eltern gehalten hat? Mit Oda, die bei einem Fluchtversuch über die Ostsee erwischt wurde und im Frauengefängnis Hoheneck erlebte, wie der Arbeiter-und-Bauern-Staat mit seinen Bürgerinnen umging, wenn diese die Regeln übertraten? Oder mit jener gefährlichen Überfahrt auf der Ostsee, als Karin mit ihrer Mutter und ihrem Bruder mit vielen anderen Flüchtenden den vorrückenden sowjetischen Truppen zu entkommen versucht, sie Angriffe auf das eigentlich winzige Schiff erleben, Panik und Hoffnung.

Es ist die eigentliche Anfangsszene der Geschichte, in der Karin, die selbst noch ein Kind ist, den kleinen Horst rettet. Tatsächlich der Anfang von allem.

Denn Karins Leben wird immer eines sein, in dem sie sich Kinder wünscht – aber nie eigene bekommen wird. In dem sie aber auch all ihre Fürsorge für Kinder zum Beruf macht, als Erzieherin und später Leiterin eines Kinderheims dafür sorgt, dass die elternlosen Kinder wenigstens ein bisschen Zuhause haben. Und den – zuweilen strengen – Zuspruch der Leiterin, die auch an die Botschaft dieses jungen Staates glaubt, dass es einmal ein menschlicher werden soll, einer, der mit dem Leid der Menschen Schluss macht und zeigen will, dass ein Land ohne Ausbeutung und Unterdrückung möglich ist.

Dieses Versprechen …

Karin wird bis zuletzt daran glauben, auch Ronald. Wie so viele andere auch, die das, was 1989/1990 geschah, als Verrat empfanden, als Zumutung und Entwertung ihres ganzen Lebens. Einer der Gründe, warum Jan mit dem Mann brach, der für ihn nie richtig zum Vater wurde.

Falsche Männerbilder

Liv Marie Bahrow hat ihren Roman zwischen den drei Hauptgestalten aufgespannt, die alle Widersprüche dieses Gewordenseins verkörpern – Karin, Jan und Oda. Auch wenn es vor allem um Jan geht, der nun schon ein Jahr getrennt von Gesa lebt, die es mit ihm so nicht mehr aushalten will. Etwas ist da, was ihr das Zusammenleben mit dem Vater von Connie schwer macht. Eigentlich unmöglich. Und sie lässt es ihn auch spüren, macht richtig Druck.

Etwas, was viele Männer so bestimmt schon erlebt haben dürften. Denn auch wenn die meisten nicht so eine vertrackte Vorgeschichte haben wie Jan, der als Architekt glaubt, alles erreicht zu haben, was er im Leben erreichen wollte, ist diese Unfähigkeit, über das wirklich Schwere und Verletzliche zu sprechen, typisch für Männer. Für ostdeutsche Männer zumal. Was mich fast auf einen Abschweif zusteuern lässt.

Denn dieses Schweigen wurde bis heute nie wirklich aufgearbeitet, obwohl alle wissen, wie sehr auch in der so klanglos verschwundenen DDR Männer zu funktionieren hatten, zu gehorchen, zur Stütze des Systems zu werden, das ohne alle diese Gehorsamen niemals funktioniert hätte.

Vielleicht beschäftigen sich die Soziologen, Psychologen und Historiker so ungern mit diesem Thema, weil es unsichtbar ist. Weil man lieber auf die mächtigen Täter fokussiert und nicht greifen kann, was diese Normierung und Verfügbarmachung der Männer im „sozialistischen“ Staat eigentlich mit den Männern angerichtet hat. Und ihren Vorstellungen von einem richtigen Leben, von Familie und Vatersein. Denn wenn man eine derart patriarchalische Gesellschaft näher betrachtet, geht es die ganze Zeit um Vaterrollen. Falsche und verkorkste, gewünschte und verweigerte.

Und um Männer, die schweigen, weil sie über das wirklich Übergriffige nicht reden können. So wie Jan, der doch immer glaubte, dass er sich mit seinem Weggang aus dem Haus am Meer befreit hatte, sein eigenes Leben gelebt und mit Gesa auch eine Partnerin gefunden hat, die er sich wirklich wünschte an seiner Seite.

Du bist nicht allein

Um so schlimmer für ihn, dass er nicht weiß, warum die Partnerschaft so verfahren ist. Er strengt sich ja an, will sich mehr um Connie kümmern, weniger arbeiten – oder sich mit seiner Arbeit herausreden. Aber dann gerät erst recht alles durcheinander, als der Anruf von Rügen kommt und er sich auf einmal um Ronald kümmern muss, der allein lebt in dem Haus seiner Eltern. Und augenscheinlich völlig heruntergekommen ist, nicht mit der Polizei kooperiert und einen Herzinfarkt erleidet, als Jan so plötzlich auftaucht. Nicht ahnend, dass sie eigentlich keine Zeit mehr haben würden, sich auszusprechen, während eine Nachricht nach der anderen Jan aus den Socken haut.

Denn jetzt erfährt er, wovor er 30 Jahre lang davongelaufen ist. Was er nicht wissen sollte und eigentlich auch nicht wissen will. Doch die Zeit des Vertuschens und Nicht-wahr-haben-Wollens ist vorbei. Sein Glück: seine alten Schulfreunde, seine Cousine, Menschen, die ihm einfach helfen und mit denen er erfährt, dass er im Herzen seiner Mitmenschen einen Platz hat. Wie selbstverständlich. Dass Menschen, die einem vertrauen, einem wie ihm auch zeigen, dass er so allein gar nicht ist in dieser Welt. Eine Welt, die all die „einsamen Wölfe“ und „Erfolgsmenschen“ so hofiert. Als wenn Ruhm, Erfolg und Geld irgendjemanden glücklich machen würden.

Aber das tun sie nicht.

Das weiß Jan eigentlich schon lange, denn die Gefühle des Ungenügens und des Alleinseins begleiten ihn schon sein Leben lang. Nebst der Angst vor dem Wasser oder vor richtiger Nähe. Er kann sich nicht fallenlassen. Selbst die Tage, nachdem Ronald längst im Krankenhaus liegt, füllt er mit Geschäftigkeit. Auch wenn ein Teil dieser Geschäftigkeit jetzt der Suche nach der Wahrheit gilt. Einer Wahrheit, von der er nun ahnt, dass sie ans Licht muss, sonst wird er sich selbst und sein Leben nie verstehen. Nicht, was ihm passiert ist. Und warum er es nicht schafft, Gesa von seinem guten Willen zu überzeugen.

Die dunkle Seite

Und natürlich ist es wie im Krimi, kommt ein Puzzlestein zum anderen, auch wenn jede neue Information Jan noch mehr verunsichert und ihn immer wieder zu neuer Flucht, zu heftigen Reaktionen und Kopfeinziehen bringt. Denn natürlich geht all das, was nun seine komplette Kindheit infrage stellt, an die Substanz. Der feste Untergrund, auf den ja alle vertrauen, wenn sie ins Leben gehen, zerbröselt. Die Menschen, denen er am meisten vertraute, verwandeln sich in Fremde. Und die fremde Frau, die auf einmal auftaucht und seine wirkliche Mutter sein will, löst natürlich erst einmal heftige Aggressionen aus.

Und nur langsam wagt sich Jan an die dunklen Seiten der Adoptionen in der DDR, auch wenn seine Adoption überhaupt nicht ins Raster passt. Oder nur zum Teil. Auch wenn selbst dieser Teil genügt, das Grauen wachzurufen, das in dem rücksichtslosen Umgang der DDR-Funktionäre auch mit Frauen und Kindern steckte, die sich dem System nicht fügen wollten.

Sodass gerade die Szenen, die Oda erlebt, die dunkle Seite der DDR erlebbar machen. Und Liv Marie Bahrow schreibt nicht herum um diese Finsternis. Sie malt sie aus, zeichnet – selbst ja Mutter – die ganze Tragik von Odas Schicksal nach, die zeitlebens versucht hat, ihr Kind, das sie im Gefängnis geboren hat, zurückzubekommen.

Wenn alte Bilder sich als falsch erweisen

Dass Jans Adoptionsgeschichte freilich noch viel weiter zurückreicht, macht die Geschichte des kleinen Horst deutlich, den Karin als ersten adoptiert und groß zieht in dem unbedingten Glauben an dieses Land, das nach dem Krieg der Nazis alles besser machen wollte. Und eigentlich auch mit Menschen menschlicher umgehen. Zumindest in den großen Feiertagsreden war das so. Doch nun lernt Jan auch Horst von einer völlig neuen Seite kennen.

Und auch ihn kann er nicht mehr fragen. Fast ist es ein Grundmotiv in diesem Roman aus drei Perspektiven: Wie geht man mit einer Geschichte um, zu der man die Hauptbeteiligten alle nicht mehr fragen kann? Wie bewältigt das einer wie Jan, der sich die wirklich gefährlichen Gefühle immer vom Leib gehalten hat?

Wird er wieder funktionieren wie immer, alles regeln und sich nichts anmerken lassen? Aber die Zeit auf Rügen hat ihn schon längst verändert. Da haben auch die Altersgefährten geholfen, die ihm zeigten, dass etliche seiner alten Bilder aus seiner Kindheit so nicht stimmen können. Und dass er tatsächlich Freunde hatte. Und hat. Also doch nicht nur dieser ungeliebte Eigenbrötler ist, für den er sich hält. Denn es ist dieses Selbstbild, das am Ende bestimmt, ob wir uns selbst vertrauen und Vertrauen zu anderen Menschen aufbauen können.

Oder nur noch wütend reagieren. Wie es so viele Ostdeutsche tun. Das hat alles eine Menge miteinander zu tun. Auch mit den herzlosen Jahren nach der Wiedervereinigung, in denen kein Platz zu sein schien für die wirklich wichtigen Fragen nach dem Verletztsein und dem Ungenügen. So gesehen: Ein echter ostdeutscher Roman, der im sich überstürzenden Leben von Jan Biege zeigt, worum es eigentlich immer geht. Und immer schon gegangen ist. Und wie lange wir an den Traumata unserer Eltern und Großeltern schleppen, wenn sie immer nur unter der Decke vor sich hinköcheln.

Als Vorwurf im Raum stehen. Als Sprechverbot. Als Groll und stiller Trotz. Und wenn die Wut erst einmal kocht, fragt keiner mehr nach den Verletzungen. Politik geht darüber nur zu gern hinweg. Auf und weiter zu neuen großen Taten, blühenden Landschaft und ewigem Wachstum.

Nur nicht darüber sprechen …

Dabei erzählen solche Geschichten davon, dass es die ganze Zeit um ganz andere Dinge geht – in der Regel um das eigene, gelebte Leben. Oder eben das Gefühl, etwas Wichtiges nie gelebt zu haben. Selbst dann, wenn man -– wie Jan – nicht weiß, was es eigentlich ist. Und woher das kommt. Und er kann diesmal nicht davonlaufen, auch wenn er an manchem kalten Frosttag wütend durch den Schnee stapft. Er muss sich seiner Vergangenheit stellen. Und damit auch den Gefühlen, die ihn schon immer aus dem Gleichgewicht gebracht haben.

Und so wird das eine tiefe, aufregende und aufgeladene Geschichte, in der man mit den Protagonisten erlebt, wie es mit allen Gefühlen bergauf und talab geht, wenn es an die Frage nach dem geht, was einen eigentlich zu dem gemacht hat, was man ist. Eine Frage, die sich garantiert auch viele Leserinnen und Leser stellen werden. Denn diese Frage wird nicht ruhen, nicht in der jetzigen Generation und auch nicht in der nächsten. Sie schlummert in unseren Familiengeschichten.

Und manche Teile davon führen ganz tief hinein in die Vergangenheit. Mal auf Schiffe auf eisiger See, die von Tieffliegern beschossen werden, mal in ostdeutsche Gefängnisse, mal auch einfach in undurchschaubare Adoptionsakten oder in Familien, in denen das Schweigen regelrecht geronnen ist. Nur nicht darüber sprechen.

Die Schatten der Vergangenheit

Aber Liv Marie Bahrows Roman hat eine andere Botschaft: Sprecht darüber. Anders wird man die Last des Schweigens nicht los. Und erfährt auch nicht, warum man – wie Jan – so viel Angst vor echtem Vertrauen hat.

Eine Angst, die Autokraten so lieben. Und wirklich los geworden sind wir die langen Schatten der Autokratien noch lange nicht. Sie existieren weiter, wenn ihre Kinder und Enkel nicht lernen, die Frage nach dem wirklichen Sinn in ihrem Leben zu stellen. Und danach, warum sie so unglücklich sind, obwohl doch die Welt offen steht. Fragen, die sich auch Jan stellen muss, als er der Begegnung mit seiner eigentlichen Mutter und ihrer Geschichte nicht mehr ausweichen kann. Obwohl er es eigentlich nicht wissen will. Lieber Türen zuknallt und in den Schnee stiefelt.

Nur dass er diesmal nicht wirklich weglaufen kann. Das weiß er eigentlich.

Und die Leser hält das bis zum Schluss im Bann, auch wenn sich dann die Ereignisse überschlagen. Wohl auch deshalb, weil Liv Marie Bahrow ganz bestimmt kein süßes Hollywood-Ende wollte.

Liv Marie Bahrow „Wellenkinder“, Ullstein, Berlin 2023, 14,99 Euro.

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