„Gerade seit den letzten zehn Jahren machen psychische Erkrankungen auch in Deutschland einen immer größeren Anteil im Diagnose- und Behandlungsspektrum aus“, schreibt das Bundesministerium für Gesundheit1, „Gefragt, ob sie schon einmal wegen einer psychischen Erkrankung behandelt wurden, antworteten 30 Prozent der Befragten mit Ja“, heißt es in einer aktuellen Umfrage der Stiftung Gesundheitswissen2.

Dem gegenüber steht ein immenser Mangel an verfügbaren Therapieplätzen in Deutschland. Wartelisten von sechs bis zwölf Monaten sind keine Seltenheit. Woran liegt das? Wir haben mit Denise und Pauline von der Leipziger Initiative „Psychotherapie? Mangelware!“ über die aktuellen Schwierigkeiten gesprochen und darüber, was es bräuchte, um eine Veränderung zu bewirken.

Wie ist die Initiative entstanden, welcher Gedanke hat den Anfang gemacht?

Denise: Zu Beginn waren wir fünf Personen mit ähnlichen Motiven und teils Erfahrungen mit Psychotherapie und der Suche nach einem Therapieplatz. Einige von uns beschäftigen sich auch fachlich bzw. beruflich mit der Thematik. Uns alle verbindet die Motivation, uns nicht passiv diesem Missstand – dem akuten Mangel an Therapieplätzen, die über die Krankenkasse abgerechnet werden können – hinzugeben, sondern aktiv etwas dafür tun, die Situation zu verbessern. Da war der erste Gedanke, für unser Thema auf die Straße zu gehen und protestieren zu wollen. Das haben wir mit unserer ersten Großdemonstration im September 2022 umgesetzt.

Unsere Gruppe besteht inzwischen seit gut eineinhalb Jahren, sie ist gewachsen. Wir bekommen mittlerweile auch zahlreiche Anfragen für Kooperationen oder die Möglichkeit, sich zu beteiligen. Sodass wir das Gefühl haben, es schlägt langsam Wellen.

Wie sieht konkret die Arbeit der Initiative aus?

Denise: Viel Zeit und Kapazitäten bündelte in den letzten Monaten die Organisation unserer nächsten Demonstration, welche am 26. August stattfand. Da stand natürlich ein starker Fokus drauf. Es ist aber genauso wichtig, uns als Gruppe weiterzuentwickeln, weitere Angebote zu schaffen. Es ist uns wichtig, die Perspektiven von Betroffenen zum Ausdruck zu bringen und Raum für Austausch und Diskussionen zu bieten. Dabei haben wir zum Beispiel an ein Angebot im Rahmen der Woche für Seelische Gesundheit (10.–20.10.2023) gedacht. Was wir nicht leisten können, ist kontinuierliche soziale Beratung.

Was sind aus eurer Erfahrung heraus die Gründe dafür, dass so viele Menschen mit psychischen Erkrankungen immense Probleme haben, einen Therapieplatz zu finden und teilweise mit langen Wartezeiten konfrontiert sind?

Pauline: Das ist natürlich eine umfangreiche Frage. Ein Hauptpunkt ist auf jeden Fall, dass es nicht genügend Kassenzulassungen für Psychotherapeut*innen gibt, sowohl auf lokaler als auch auf bundesweiter Ebene. Das ist auch eine zentrale Forderung unserer Gruppe – diese Anzahl zu erhöhen. Das Angebot psychotherapeutischer Versorgung muss erweitert und auf den reellen Bedarf zugeschnitten werden.

Kannst du das genauer erläutern?

Pauline: Der Beruf der Psychotherapeutin / des Psychotherapeuten ist in Deutschland eine geschützte Berufsbezeichnung. Es gibt ärztliche und psychologische Psychotherapeut*innen. Nach einem abgeschlossenen Masterstudium der Psychologie braucht es zunächst noch die Ausbildung zur Psychotherapeutin bzw. zum Psychotherapeuten. Diese dauert mindestens weitere drei Jahre.

Zum Ende der Ausbildung erhält man eine Heilerlaubnis So ist zumindest im bis 2032 auslaufenden Ausbildungsweg. Im „neuen“ Ausbildungsweg erhält man nach dem Masterabschluss mit der Spezialisierung „Psychotherapie“ bereits eine Approbation, an welche sich eine fünfjährige Fachausbildung anschließt.

Das bedeutet allerdings nicht automatisch, dass über eine Krankenkasse abgerechnet werden darf. Da ist es wie im ärztlichen Bereich: Es gibt eine begrenzte Anzahl von Kassensitzen, welche vergeben werden. Auf diese kann man sich als approbierte*r Psychotherapeut*in bewerben. Häufig vergehen bis zu zehn Jahre, bis man einen Kassensitz erhält und es ist üblich, der Vorgängerin oder dem Vorgänger für die Übernahme eine Summe im hohen fünfstelligen Bereich zu zahlen. Darin sind keine Patient*innenkartei und meistens auch keine Praxisräume inbegriffen.

Cover Leipziger Zeitung Nr. 116, VÖ 31.08.2023. Foto LZ

Ohne eine solche Kassenzulassung kann man als  approbierte*r Psychotherapeut*in über private Selbstzahler*innen abrechnen. Es gibt auch ein Kostenerstattungsverfahren bei sogenanntem „Systemversagen“. Wenn also kein verfügbarer Therapieplatz in absehbarer Zeit zur Verfügung steht, gibt es die Möglichkeit, die Erlaubnis für eine Therapie bei einer anderen oder einem anderen Psychotherapeut*in mit Approbation zu erwirken.

In unserer Gruppe wurde uns von Betroffenen allerdings zugetragen, dass diese Anträge relativ häufig abgelehnt werden. Denn zunächst muss nachgewiesen werden, dass vorher ausreichend versucht wurde, einen Therapieplatz bei einer oder einem kassenärztlichen Therapeut*in zu erhalten. Für diesen Nachweis gibt es allerdings keine konkreten Kriterien.

Die Anzahl der Kassensitze wurde ursprünglich 1999 durch die Etablierung des Psychotherapeutengesetzes geregelt, seitdem sind nur wenige neue Zulassungen hinzugekommen. Darüber entscheidet letztendlich der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA). Dieser Ausschuss ist relativ klein, besteht aus 13 stimmberechtigten Mitgliedern: Vertretungen der Kostenträger und Leistungserbringer sowie drei „unparteiischen“ Mitgliedern. Es gibt zwar auch Patient*innenvertretungen darin, diese besitzen allerdings kein Stimmrecht. So ist es leicht vorzustellen, dass es nicht unbedingt im wirtschaftlichen Interesse der Krankenkassen besteht, die Anzahl der Zulassungen zu erhöhen.

Veröffentlichte Abrechnungsdaten von 2019 haben gezeigt, dass die Wartezeit zwischen Erstgespräch und Behandlungsbeginn im Schnitt fünf Monate beträgt3. Gerade während der Coronazeit ist der Bedarf an psychischer Betreuung aber sogar noch gestiegen. Dafür gibt es Studien. Auch im Koalitionsvertrag der aktuellen Regierung steht, dass die Missstände bekannt sind und diese behoben werden sollen. Bisher ist nur nichts passiert.

Gibt es eurer Meinung nach inzwischen mehr gesellschaftlichen Raum für das Thema Psychotherapie / Psychische Erkrankungen?

Denise: Ich kann von meinen Erfahrungen aus dem letzten Jahr berichten. Als wir damals bei Kooperationspartner*innen anfragten – nach Orga-Hilfe, nach Interesse für Redebeiträge etc. – war die Rückmeldung recht gering. Das hat sich in diesem Jahr auf jeden Fall verändert. Es spricht sich also mehr herum und das Interesse, sich an dem Thema zu beteiligen, steigt.

Pauline: Auch generell ist das Thema nicht mehr ein so großes gesellschaftliches Tabu. Es hat sich in den letzten Jahren bereits einiges verändert. Es gibt einen neuen Ausbildungsweg für Psychotherapeut*innen, der auch mit mehr finanziellen Entlastungen und mehr Rechten für Auszubildende einhergeht. Unter anderem ist die Ausbildung nämlich auch teuer. Da man mit einem Psychologiemaster aber bereits einen berufsqualifizierenden Abschluss besitzt, gibt es gegenwärtig wenige Unterstützungsmöglichkeiten abseits davon, einen Kredit aufzunehmen oder nebenbei in Teilzeit zu arbeiten. Weiterhin wurden in den vergangenen Jahren auch einige neue Kassensitze für Psychotherapeut*innen geschaffen. Man muss ehrlich sagen: Dinge verändern sich, nur nicht im angemessenen Tempo oder im ausreichenden Maße.

Welche Probleme treten noch bei der Suche nach einem Therapieplatz auf?
Pauline: Häufig sind die telefonischen Sprechzeiten bei den Therapeut*innen auf eine halbe Stunde pro Woche begrenzt, die Wartelisten voll. Man muss sich darauf einstellen, zunächst einige Absagen zu erhalten. Allein die Suche erfordert viel Energie und eine hohe Frustrationstoleranz. Das sind Bereiche, in denen viele Menschen mit psychischen Erkrankungen professionelle Unterstützung benötigten.

Es gibt zwar die therapeutische Sprechstunde, zu der jede*r Therapeut*in verpflichtet ist, das heißt aber nicht, dass er oder sie Kapazitäten für neue Patient*innen hat. Wir haben von Personen gehört, die teilweise fünf oder sechs Erstgespräche durchlaufen haben, bis sie einen Therapieplatz erhalten haben.

Und nach wie vor herrscht trotzdem ein hohes Stigma bezüglich psychischer Erkrankungen. Meiner Erfahrung nach haben Betroffene mit bestimmten psychischen Krankheitsbildern sogar größere Schwierigkeiten als andere, einen ambulanten Therapieplatz zu finden –beispielsweise Personen mit Persönlichkeitsstörungen oder Abhängigkeitserkrankungen.

Wie ist die Resonanz für eure Initiative?
Denise: Allein, dass Anfang des Jahres so viele Menschen zu unserem offenen Plenum gekommen sind, ist für mich eine sehr positive Resonanz. Für uns war es sehr schön zu sehen, dass sich so viele dafür engagieren wollen, unsere Ziele umzusetzen. Auch die Berichterstattung über unsere Arbeit ist mehr geworden. Das freut uns natürlich. Dieses Jahr, auch durch die Mobilisierung und der Bewerbung der nächsten Demo, spüren wir ein großes öffentliches Interesse.

Was sind die Ziele von „Psychotherapie? Mangelware!“ für die Zukunft? Welche Pläne habt ihr?

Denise: Wir wollen auf jeden Fall auch unabhängig von der Organisation von Protesten und Demonstrationen weitere Aktionen anbieten. Vor allem, um betroffenen Personen Raum zu bieten, gehört zu werden, und um verschiedene Perspektiven einzubringen. Noch ist aber nicht ganz klar, in welche Richtung wir genau gehen wollen. Dieser gruppendynamische Prozess wird sich wohl in den nächsten Wochen und Monaten ergeben – jetzt, nachdem die Demonstration erfolgreich „über die Bühne gegangen“ ist.

Pauline: Wir haben mit der diesjährigen Demonstration auch einen weiteren Fokus gesetzt: Es soll auch auf die Schwierigkeiten für Therapieplatzsuchende benachteiligter Gruppen, die beispielsweise keine deutsche Staatsbürger*innenschaft besitzen, aufmerksam gemacht werden. Auch Aus- und Weiterbildungen würden wir uns mehr rassismus- und kultursensitive Schwerpunkte wünschen.

1https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/begriffe-von-a-z/s/seelische-gesundheit.html
2https://www.stiftung-gesundheitswissen.de/presse/wie-steht-es-um-die-seelische-gesundheit-deutschland
3https://bptk.de/pressemitteilungen/salamitaktik-bei-analyse-der-wartezeiten-verschleiert-realen-umfang/

„Interview: Über die Arbeit der Initiative ‚Psychotherapie? Mangelware!‘“erschien erstmals im am 31.08.2023 fertiggestellten ePaper LZ 116 der LEIPZIGER ZEITUNG.

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