Es ist eine verzwickte Statistik, die die DAK jetzt aufmacht, wenn sie meldet: „Psychische Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen in Deutschland stabilisieren sich auf einem hohen Niveau. Nach Anstiegen seit der Corona-Pandemie gab es 2022 im Vergleich zu 2021 leichte Rückgänge in den ambulanten und stationären Behandlungszahlen. Trotzdem ist die Inanspruchnahme bei jugendlichen Mädchen immer noch höher als vor der Corona-Pandemie. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Analyse des Kinder- und Jugendreports der DAK-Gesundheit.“

Die – erfassten – Daten zeigen, dass weiterhin jugendliche Mädchen am stärksten von Depressionen, Angststörungen und Essstörungen betroffen sind. Vor allem Mädchen aus besser gestellten Familien sind häufiger in Behandlung als Teenager aus sozial schwächeren Schichten, stellt die Krankenkase in ihrer Auswertung fest.

Was im Umkehrschluss auch heißt: Wie es Mädchen aus ärmeren Familien geht, weiß man in der Regel gar nicht, weil sie – wahrscheinlich – wegen psychischer Probleme seltener in einer Beratung auftauchen.

Also nur ein Wohlstandsproblem?

Wahrscheinlich nicht.

Keine Normalisierung nach Corona

Für die aktuelle DAK-Sonderanalyse im Rahmen des Kinder- und Jugendreports untersuchten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von Vandage und der Universität Bielefeld Abrechnungsdaten von rund 794.000 Kindern und Jugendlichen bis einschließlich 17 Jahren, die bei der DAK-Gesundheit versichert sind. Analysiert wurden anonymisierte Versichertendaten aus den Jahren 2017 bis 2022. Es ist die erste umfassende Analyse von ambulanten und stationären Behandlungen für das vergangene Jahr.

„Die aktuellen Ergebnisse sind besorgniserregend. Leichte Rückgänge bedeuten nicht, dass jetzt alles wieder in Ordnung ist. Im Gegenteil: Das Leiden vieler Kinder und Jugendlicher verfestigt sich“, sagt Andreas Storm, Vorstandschef der DAK-Gesundheit.

„Vor dem Hintergrund der aktuellen Haushaltsplanungen droht vielen präventiven und pädagogischen Angeboten der Rotstift. Umso erfreulicher ist es, dass das Projekt der Mental Health Coaches an Schulen in diesem Herbst gestartet ist. Wichtig ist: Wir dürfen an der psychischen Gesundheit unserer Kinder nicht sparen. Wir müssen aktiver werden. Wir brauchen mehr Präventionsinitiativen in Schulen, Vereinen und der offenen Kinder- und Jugendarbeit. Denn es geht um die Zukunft unserer Kinder.“

Die DAK-Auswertung zeigt, dass die Behandlungszahlen bei psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen 2022 im Vergleich zu 2021 insgesamt leicht rückläufig sind. So erhielten 2022 elf Prozent weniger jugendliche Mädchen eine Neu-Diagnose in diesem Bereich als 2021. Bei Jungen steht ein Minus von fünf Prozent.

Mit Blick auf die Situation vor der Corona-Pandemie lagen die Behandlungszahlen im vergangenen Jahr weiterhin auf einem hohen Niveau – insbesondere bei jugendlichen Mädchen. Hier gab es 2022 im Vergleich zum Vor-Corona-Jahr 2019 ein Plus von sechs Prozent. Insgesamt wurde 2022 bei rund 110.000 jugendlichen Mädchen eine psychische Erkrankung oder Verhaltensstörung neu diagnostiziert.

„Die aktuellen Daten geben weiterhin Anlass zu Sorge“, sagt Prof. Dr. med. Christoph U. Correll, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Berliner Charité.

„Wir sehen eine Stabilisierung der Neuerkrankungsraten bei psychischen Erkrankungen auf einem hohen Niveau. Von einer Normalisierung der Lage kann keine Rede sein. Es gibt keine Entwarnung. Auch wenn die Zahlen rückläufig sind: Wir befinden uns immer noch in einer Mental-Health-Pandemie. Und jugendliche Mädchen tragen die sichtbar größte Last.“

Depressionen, Angststörungen und Essstörungen

Die aktuelle Analyse des Kinder- und Jugendreport belegt, dass vor allem jugendliche Mädchen im Alter zwischen 15 und 17 Jahren mit Depressionen, Angststörungen und Essstörungen in ärztlicher Behandlung sind. Zwar ging die Neuerkrankungsrate bei Depressionen 2022 um elf Prozent im Vergleich zu 2021 zurück. Doch im Vergleich mit 2019, dem letzten Jahr vor Ausbruch der Corona-Pandemie, steht ein Plus von 24 Prozent.

Bei Ängsten und Essstörungen sind die Trends noch ausgeprägter. Im Vergleich zu 2021 erkrankten rund drei Prozent weniger jugendliche Mädchen 2022 neu an Angststörungen – im Vergleich zu 2019 waren es aber 44 Prozent mehr. Bei Essstörungen gingen 2022 die Neuerkrankungen im Vergleich zum Vorjahr um 14 Prozent zurück. Mit Blick auf 2019 stiegen die Zahlen aber um 51 Prozent an.

„Die Ergebnisse sind sehr beunruhigend“, so Dr. Thomas Fischbach, Präsident des Berufsverbands der Kinder- und Jugendärzt/-innen e. V. (BVKJ). „Dass die Neuerkrankungsraten leicht sinken, ist kein Grund für eine Entwarnung, da die Prävalenzen gegenüber 2019 immer noch sehr hoch sind. Insbesondere die zunehmende Komorbidität bei Depressionen und Angststörungen sowie der signifikante Trend zur Chronifizierung sorgen mich, denn dies lässt die Hoffnung schwinden, dass die Probleme zumindest in absehbarer Zeit von selbst wieder verschwinden werden.

Die Politik sollte sich diese Erkenntnisse für die Zukunft zu Herzen nehmen, damit im Falle eines ähnlichen Geschehens nicht erneut die gleichen Fehler begangen werden. Großen Handlungsbedarf sehe ich bei Hilfsangeboten für psychisch kranke Jugendliche – damit meine ich nicht nur die medizinische Versorgung, sondern auch beispielsweise pädagogische Maßnahmen.“

Aber ist es wirklich nur die Corona-Zeit, die die jungen Menschen derart unter Druck gesetzt hat? Denn die Zahlen vor Corona waren auch keine Schönwetter-Erscheinung. Auch sie erzählten schon von der Überforderung junger Menschen in einer Welt, in der die Krisen zunehmen und gerade die Mediennutzung dazu führt, dass auch die Kinder nicht mehr „abschalten“ können. Im Gegenteil: Sie werden dort zusätzlich unter Druck gesetzt und krank gemacht.

Eine Klassenfrage oder Kaputte heile Welt

Der DAK-Kinder- und Jugendreport mache deutlich, dass Kinder und Jugendliche aus verschiedenen sozialen Schichten ärztliche Behandlungen unterschiedlich stark in Anspruch nehmen, so die DAK. Das zeige das Beispiel Depressionen. Hier gibt es deutlich unterschiedliche Entwicklungen zwischen jugendlichen Mädchen aus Familien mit hohem und niedrigem sozialem Status.

Während die Inanspruchnahme bei sozial benachteiligten Mädchen 2022 wieder nahezu auf dem Vor-Pandemieniveau lag, ist sie bei Teenagern aus mittleren und hohen Schichten stark angestiegen. So erhielten 29 Prozent mehr jugendliche Mädchen aus der Mittelschicht die Diagnose Depressionen als vor der Pandemie. Bei Mädchen aus hohen sozialen Schichten gab es ein Plus von 28 Prozent.

„Beim Kinder- und Jugendreport der DAK-Gesundheit sehen wir die Inanspruchnahme, also die Behandlungen. Das ist ein wichtiger Faktor. Wir sehen, dass die Behandlungen von Jugendlichen mit einem höheren sozialen Status starke Steigerungsraten haben. Das heißt: Jugendliche aus höheren sozialen Schichten werden im Schnitt häufiger behandelt“, so Correll.

„Das kann verschiedene Ursachen haben. Ich vermute, dass in sozial besser gestellten Familien Eltern und Sorgeberechtigte eher hinschauen als in Familien mit niedrigem sozialem Status und psychische Erkrankungen und diesbezügliche Hilfsangebote eventuell weniger stigmatisiert sind. Ärztliche Hilfe wird früher in Anspruch genommen. Seit den vergangenen Jahren ist das Thema psychische Erkrankungen zumindest allgemein weniger ein Tabu.“

„Die Pandemie war gerade für Jugendliche eine Grenzerfahrung, die sie aus einem sicher gewähnten Leben herausgerissen hat. Begleitet und mitverursacht durch den Ukrainekrieg und die dramatischen Folgen des Klimawandels. Das hat die innere Stabilität vieler Jugendlicher nachhaltig aus dem Lot gebracht und psychischen Erkrankungen Vorschub geleistet“, sagt BVKJ-Präsident Fischbach.

„Menschen mit hohem Bildungsstand haben eher eine erhöhte Vulnerabilität als Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Status. Sie nehmen die Belastungen in ihrer zumeist heilen Lebenswelt differenzierter und besonders bedrohlich wahr. Insbesondere bei einer hohen individuellen Sensibilität reagieren sie mit Angst und Depression. Das sehe ich so in meiner eigenen Praxis.“

Die im Dunklen sieht man nicht

Laut Correll offenbare die Analyse der DAK-Gesundheit einen Trend, der auch in anderen gesellschaftlichen Bereich sichtbar sei: Die Schere zwischen Arm und Reich sei größer geworden.

„Meine Vermutung ist, dass Jugendliche aus sozial schwächeren Milieus nicht grundsätzlich weniger psychisch krank sind. Sie suchen nur seltener eine Behandlung auf. Mir scheint, dass es eine große Dunkelziffer in unteren sozialen Schichten gibt“, so Correll.

„Es besteht die Sorge, dass Kinder und Jugendliche aus sozial benachteiligten Familien nicht die gleichen Behandlungschancen haben wie Gleichaltrige aus anderen sozialen Schichten. Die zentrale Frage ist: Wie schaffen wir es, dass der soziale Status bei der Versorgung keine Rolle spielt? Hier gibt es viele mögliche Ansätze. Wir müssen die Schulsozialarbeit und die offene Kinder- und Jugendarbeit stärken, wir müssen Aufklärungsarbeit leisten und Stigmata abbauen.“

Die DAK-Analyse verdeutlicht, dass Jungen im Jugendalter seltener aufgrund von psychischen Erkrankungen oder Verhaltensstörungen behandelt werden. So erhielten 2022 acht Prozent weniger 15- bis 17-jährigen Jungen eine Neudiagnose in diesem Bereich als im Vor-Pandemie-Jahr 2019. Bei jugendlichen Mädchen steht hingegen insgesamt ein Plus von sechs Prozent.

„Während Jungen bei psychischen Belastungssituationen eher externalisierend reagieren, das heißt Sozialverhaltensstörungen wie Aggressivität, Impulsivität und oppositionelles Verhalten zeigen, neigen Mädchen eher zu internalisierenden Störungen wie Rückzug, Angst bis hin zu depressiven Verstimmungen und Essstörungen“, so Fischbach. „Externalisierende Störungen werden oft nicht als psychische Störungen gewertet, sondern als Sozialverhaltensstörungen. Sie sind somit wahrscheinlich unterdiagnostiziert.“

„Zudem besteht die Sorge, dass Jungen eventuell bei psychischen Belastungen mehr auf substanzgebundene und nicht-substanzgebundene Suchtmittel, wie Gaming, zurückgreifen. Das gilt es weiter zu beobachten“, sagt Correll.

„Wir bei Krisenchat sind tagtäglich mit der enormen Nachfrage nach niedrigschwelligen psychosozialen Beratungsangeboten konfrontiert“, so Melanie Eckert, Geschäftsführerin bei Krisenchat. „Rund 40 Prozent aller Hilfesuchenden können wir keine direkte Hilfe anbieten, obwohl wir pro Monat 4.500 Beratungen durchführen. Krisenchat ist eine 24/7, kostenfreie und vertrauliche Beratung per Chat – dadurch erreichen wir gerade sozial benachteiligte Kinder, die unabhängig von ihren Eltern Hilfe suchen können und bauen Hürden für Jungen ab, sich mit ihren Problemen an jemanden zu wenden.

Niedrigschwellige Angebote, die in der digitalen Lebenswelt verankert sind, bieten eine enorme Chance, präventiv zu wirken und früh Betroffene in die Versorgungslandschaft zu begleiten.“

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