Er schien angekommen, hatte mit Ende 20 seinen Platz als Lehrer in Nürnberg. Doch da waren immer wieder diese Schlafstörungen, Angstzustände, die Überzeugung, Neider trachteten ihm mit Gift nach dem Leben. Auf einer Kur im Schwarzwald werden ihm Überarbeitung und „Melancholie“ attestiert, er sucht Hilfe bei einem Heiler. Der verschreibt ihm Kräutertee und „magische Kügelchen“, doch die Symptome bessern sich auch mittelfristig nicht.

1547 gibt er auf und verlässt Nürnberg, wird später mehrere Jahre Privatsekretär des Großunternehmers Jakob Fugger in Augsburg, ist wieder als Lehrer und Rektor tätig, veröffentlicht Übersetzungen griechischer Klassiker. Im fortgeschrittenen Alter machen ihm neue Beschwerden und Geldnot das Leben schwer.

Die tragische Vita des 1580 verstorbenen Hieronymus Wolf, der heute als wichtiger Humanist und Gelehrter gilt, wird von manchen als Nachweis einer psychischen Auffälligkeit mit Depressionen und Paranoia ausgelegt. Sie zeigt nicht nur, dass derlei Probleme auch in früherer Zeit auftraten.

Zugleich waren sie in ihrer Deutung immer in das Raster der Zeit eingebunden: So offenbarte sich der verbreitete Glaube an sogenannte Hexen und Dämonen in Wolfs Angst, er könne verhext worden sein. Und dass er sich in seiner Not an einen Heiler wandte, macht die lange Parallelität von Schul- und Laienmedizin deutlich.

Zwischen Transzendenz und Rationalität

Freilich reichen diese Phänomene viel weiter zurück. Angstattacken, Visionen und Verhaltensauffälligkeiten, die schon in antiken Texten auftauchen, begegneten bereits die Ägypter und Mesopotamier mit magischen Ritualen und Beschwörungszeremonien, ebenso pflanzlichen Mitteln, Heilgetränken und Suggestionen. Zugleich entwarfen Ärzte Theorien über die Entstehung von Krankheiten, wobei es noch keine Trennung zwischen körperlichem und seelischem Leid gab.

Altertümliches Wissen und die ergänzende Koexistenz transzendenter sowie natürlicher Behandlungsmethoden setzten sich in der griechischen Antike fort. Erkenntnisse aus der hippokratischen Medizin (benannt nach dem Arzt Hippokrates von Kos, etwa 460–370 v. Chr.) über den menschlichen Körper wurden auf die Psyche übertragen, während die Philosophie über die Einordnung psychischer Anomalien diskutierte.

In jedem Fall wurde die Gesundheit von Leib und Seele als unabdingbar für ein verantwortungsvolles Leben bezeichnet. Lange Zeit war die – heute überholte – Lehrmeinung tonangebend, wonach Krankheiten aus einem Ungleichgewicht von Körpersäften resultieren.

Maßnahmenkatalog der Antike

Während „Manie“, „Wahnsinn“, „Melancholie“, „Hysterie“ und so weiter philosophisch und kulturell thematisiert wurden, ist über den Umgang mit psychisch auffälligen Menschen in der Antike mangels Quellen nur wenig gesichert. Überlieferte Rechtsnormen legen nahe, dass Zwang möglich war, etwa wenn unzurechnungsfähige Mitglieder der Familie Gewalt ausübten, umherirrten, sich selbst oder andere in Gefahr brachten.

Die Palette der juristischen Gegenwehr reichte von Vermögensentzug, Enterbung, der Anfechtung von Testamenten und der Heiratsverweigerung bis hin zur Festsetzung und Verbannung der jeweiligen Person. Sklaven konnten im Extremfall wahrscheinlich ausgestoßen oder gar getötet werden. Während der Römerzeit wurden die griechischen Theorien und Erkenntnisse übernommen, weiter verfeinert und ausgebaut.

Das nicht immer so finstere Mittelalter

Das heute zu Unrecht als finster verschriene Mittelalter in Europa wies eine Bandbreite von Berichten über psychische Grenzerfahrungen auf, die Reaktionen waren unterschiedlich. Visionäre Erlebnisse angeblicher Jenseitsreisen, Lichterscheinungen und Gotteserfahrungen konnten auf Wohlwollen stoßen, es sei denn, man kam zu dem Schluss, dass die jeweilige Person von Dämonen oder vom Teufel besessen sei.

Dieses Szenario galt als Katastrophenfall. Aus der Dämonologie und Sündentheorie, gepaart mit alltäglichem Aberglauben, sollte später die Lehre über sogenannte Hexen hervorgehen.

Im Umgang mit auffallenden Personen verblieb die Zuständigkeit oft beim Familienverband. Schwere Fälle wurden häuslich gepflegt und zum Teil dort eingesperrt, obgleich es ab dem 12. Jahrhundert zur Gründung zahlreicher Spitäler in Europa kam. Dort hielt man auch Plätze für „Wahnsinnige“ vor, ein weiter und kaum eingrenzbarer Begriff für Normabweichungen.

Psychische Anomalien wurden z. B. durch Operationen, Diäten, Suggestionen oder Aderlässe behandelt. Medizinische Werke wie jene der Äbtissin Hildegard von Bingen (1098–1179) empfahlen Maßnahmen (z. B. gegen Verwirrtheit), die eine typische Mischung aus antiker Lehre von Körpersäften, magischen Ideen und Kräuterkunde aufzeigen.

Neben medizinischen Laien und antiken Vorbildern griff das europäische Mittelalter auf naturwissenschaftliche Impulse von Ärzten aus dem islamischen Raum zurück. Zwischen Ausgrenzung und Integration psychisch beeinträchtigter Menschen gab es ein breites Spektrum, wobei die Wahl der Mittel von vielen Faktoren abhängig war.

Umbruch in der Neuzeit

Zu Lebzeiten des eingangs erwähnten Hieronymus Wolf war magisches Denken nach wie vor populär, zugleich aber hatte mit der Kolonisierung Amerikas, der Kirchenspaltung und der Renaissance als „Wiedergeburt der Antike“ ein geistiger Umbruch in Europa eingesetzt. Mit dem Bedeutungsschwund theologischer Leitfiguren rückte der Mensch als Subjekt und Persönlichkeit in den Fokus.

Die Erklärungsmodelle auch für psychische Leiden wurden anspruchsvoller. Der ärztliche Berufsstand begann in vielen Städten mit seiner Organisation und Ausdifferenzierung, parallel begriff man Gesundheitsfürsorge immer mehr als öffentlichen Auftrag.

„Wahnsinnige“ und „melancholische“ Menschen wurden zum Teil in Anstalten untergebracht und behandelt. Dabei konnten z. B. Schröpfen, Abführen und Aderlass ebenso zum Einsatz kommen wie die Verabreichung pflanzlicher Mittel oder einfache Belehrungen. Besonders arme bzw. als „unheilbar“ geltende Personen hatten oft schlechte Karten, wurden mitunter in Ketten gelegt und fristeten ein entsprechend karges Dasein.

Die über mehrere Jahrhunderte dauernden, sogenannten Hexenverfolgungen stellen dagegen einer Lehrmeinung nach einen Fall für sich dar, weil in den meisten Fällen weder Opfer noch Täter psychisch krank waren. Auch in der verbreiteten Narrenliteratur der Frühen Neuzeit spielte dieser Aspekt allenfalls am Rand eine Rolle.

Viel Schatten auch in Zeiten der Aufklärung

Cover Leipziger Zeitung Nr. 116, VÖ 31.08.2023. Foto LZ

Naturwissenschaftliche Interpretationen schritten im Zeitalter der Aufklärung fort. Erkenntnisse über die Nervensubstanz und ihre Schädigung verdrängten während des 18. Jahrhunderts die Lehre von Körpersäften. Äußere Faktoren wie hektisches Stadtleben, Völlerei und Bewegungsmangel zogen Ärzte immer mehr zur Erklärung „leichterer“ seelischer Leiden heran, wie sie häufig in Form von „Erschöpfung“, „Nervosität“ und „Hypochondrie“ diagnostiziert wurden. Während die Kirche psychische Krankheiten weiter als göttliche Bestrafung sah, waren Mediziner überzeugt, Auffälligkeiten und Krankheitsbilder schematisch klassifizieren zu können.

Im Lauf des 18. Jahrhunderts wurden psychisch beeinträchtigte Menschen oft gemeinsam mit Wegelagerern, Vagabunden, Kriminellen, Obdachlosen und Armen in Sammeleinrichtungen gesteckt – quasi eine Kombination aus Zucht-, Arbeits- und Tollhaus. Dies hat manche Forscherinnen und Forscher zum Hinweis geführt, dass die spätere Psychiatrie nicht allein im Licht des Fortschritts, sondern mitunter auch im Geist eines absolutistischen Disziplinierungsinstruments zu begreifen sei.

Wende zum humanistischen Ansatz

In der Zeit um die Wende zum 19. Jahrhundert gewannen Ansätze an Bedeutung, psychisch kranke Menschen in ihrer Würde zu achten und ihnen eine an pädagogischen Regeln orientierte Behandlung mit Tagesstruktur zukommen zu lassen. Mit diesem Konzept, das bereits nahe an der klinischen Psychiatrie war, taten sich unter anderem der französische Mediziner Philippe Pinel (1745–1826) und der englische Händler William Tuke (1732–1822) hervor.

Über Pinel kursiert sogar der (freilich unbewiesene) Mythos, er habe Internierte von ihren Ketten befreit – eventuell eine Legende zur Selbstlegitimation der modernen Psychiatrie. William Tuke begründete eine Einrichtung für psychisch kranke Menschen im englischen York.

Klinische Psychiatrie und Verbrechen der NS-Zeit

Mit der Verwissenschaftlichung, Säkularisierung und Technisierung der Lebenswelt bildete sich im Lauf des 19. Jahrhunderts die klinische Psychiatrie in Europa aus. Sie übernahm mit Sicherung, Therapie und Forschung eine Dreifachfunktion, wobei sie zugleich als eine Art Wächterin Vorgaben für die Grenzen der Normalität setzte.

Bei der humanen Behandlung wie auch der Qualität überhaupt bestanden jedoch weiter große Differenzen. Nicht selten wurden Gewalt gegen Insassen, Folter, Überbelegung und eine katastrophale Hygiene in den Einrichtungen aufgedeckt.

Erst allmählich gab es Nachbesserungen, zu Zeiten der Weimarer Republik erfuhr das Netz aus Prävention, Beratung und Nachsorge in Deutschland noch einmal einen Ausbau.

Nach der „Machtergreifung“ Hitlers 1933 fielen bei der „Euthanasie“ geschätzt mindestens 296.000 behinderte und psychisch beeinträchtigte Menschen aller Geschlechter und Altersklassen, für die es in der faschistischen Vorstellungswelt keinen Platz gab, der Vernichtung durch das Regime zum Opfer.

Die deutsche Psychiatrie wurde hierfür entgegen mancher Narrative keineswegs missbraucht, sondern war auf verschiedenen Ebenen aktiv in die Verbrechen, die zigfache Ermordung der Opfer involviert.

Psychiatriekritik in der BRD

Nach 1945 kämpfte die BRD mit Missständen der Psychiatrie: Das NS-Erbe bereitete Verantwortlichen ebenso Stirnrunzeln wie baufällige Häuser, Kapazitätsmangel, Finanzprobleme, fehlendes Personal und starre Hierarchien.

Es formierte sich eine Psychiatriekritik, unter der sozialliberalen Regierung Brandt nahm 1971 eine Sachverständigen-Kommission des Bundestags ihre Arbeit auf. Deren Befunde, die unter anderem die große Zahl menschenunwürdig untergebrachter Patientinnen und Patienten kritisierten, mündeten in den Aufbau gemeindepsychiatrischer Strukturen.

In den achtziger und neunziger Jahren wurden zahlreiche Langzeitpatienten dehospitalisiert. Selbsthilfegruppen ehemaliger Patienten gründeten sich ebenso wie der Bundesverband der Angehörigen psychisch Kranker.

Lage in der DDR

Eine derartige Öffentlichkeit war unter der SED-Diktatur nicht möglich. Innovative Ideen wie nach den Rodewischer Thesen (1963), die etwa eine verbesserte Kooperation von Medizin, Pflege, Psychologie und sozialer Fürsorge forderten, wurden nur in begrenztem Radius erprobt.

Zu nennen ist hier z. B. der Leipziger Klinikdirektor Klaus Weise (1929–2019). Vorschläge für neue Strukturen entwarfen 1975 wiederum Fachleute mit den „Brandenburger Thesen“ (Öffnung der Anstalten, Schaffung geschützter Räume, Gruppentherapien) und 1981 auch der DDR-Ministerrat.

Konsequenzen gab es nur punktuell. Schlechte Bedingungen, Langzeitverwahrung und der Mangel an Personal blieben gegenwärtig.

21. Jahrhundert und Zukunft

Auch im 21. Jahrhundert und den vielen Herausforderungen unserer Tage wird der Umgang mit psychisch erkrankten Menschen auf der Agenda bleiben. Die von mutigen Vorkämpfern angestoßenen Psychiatrie-Reformen des 20. Jahrhunderts lassen zumindest hoffen, dass auch in Zukunft öffentliche Debatten und Veränderungen zum Wohle aller möglich sind. Zumindest ist klar, dass sich die Zeiten gegenüber jenen von Hieronymus Wolf doch deutlich gewandelt haben.

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Verwendete Quellen und Lesetipps:

Zentral für die Erstellung dieses Textes war der sehr gut lesbare, strukturierte und empfehlenswerte Überblick von Burkhart Brückner: Kurze Geschichte der Psychiatrie, Köln 2023. Dieser besticht unter anderem auch dadurch, dass er über den westlich-europäischen Tellerrand hinausblickt, was hier leider ausgespart bleiben musste.

Außerdem:

Psychiatrie in der Vergangenheit (Überblick des Unternehmens salus), URL: https://www.salus-lsa.de/themen-hilfen/diagnose-psychisch-krank/psychiatrie-in-der-vergangenheit

Fritz Dross, Nadine Metzger: Krankheit als Werturteil. Eine kleine Geschichte des Umgangs mit Krankheit und Kranken (APuZ 2018), URL: https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/270305/krankheit-als-werturteil/

„Zwischen Dämonen und Dehospitalisierung“ erschien erstmals in der Juli-Ausgabe, ePaper LZ 116, der LEIPZIGER ZEITUNG.

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