Schnee gibt’s eine Menge in dieser Geschichte. Stimmt. Immerhin handelt sie in einem kleinen Nest „nahe der böhmischen Grenze“. Und Schnee verhindert auch, dass der Sarg mit Großvater abgeholt werden kann. So dass die kleine Enkelin mit ihrer Großmutter, Hanna Jo, einen ganzen Tag lang noch mit dem Großvater im Haus erlebt. Ein Tag voller Erinnerungen. Eine Familiengeschichte öffnet sich. Und es ist tatsächlich eine, die ungefähr so geschehen sein muss. Mit richtig viel Liebe erzählt.

Und damit wieder ein richtig intensiver Roman über eine Familie aus dem Osten. Als wäre es jetzt endlich dran. Und es ist auch dran. Man spürt es. Es muss erzählt werden. Und zwar nicht auf der elenden politischen Ebene, die schon immer falsch war, auch wenn die Politik in das Leben der Menschen immer hineinfunkt hat oder – wie das im 20. Jahrhundert immer wieder der Fall war – die Menschen einspannt hat für ihre falschen Ziele. Man nehme nur „Anselms Krieg“, in dem der Ohpa der Erzählerin seine rechte Hand verliert.

Oder „Richards Krieg“, in den Anselms und Hanna Jos Sohn Richard zieht, angefixt von der Kriegsbegeisterung der Nazis, nur um letztlich für den Rest der Geschichte völlig abwesend zu sein, auch wenn er den Krieg in sowjetischer Gefangenschaft überlebt.

Es ist auch eine Geschichte über einen abwesenden Vater. Also auch damit eine über dieses gespenstische 20. Jahrhundert, in dem so viele Väter abhanden kamen und die Überlebenden oft nicht wieder zurückfanden in die Welt der Liebe, der Nähe und ein ganz normales Leben. Das meist viel aufregender ist als das inszenierte Rumgehampel auf politisch aufgeheizten Bühnen.

Schnee und Lametta

Ihren Großeltern hat Wiete Lenk dieses Buch gewidmet, in dem sie tatsächlich die Geschichte ihrer Familie erzählt. Oder genauer – eben die ihrer Großeltern. Anselm ist eigentlich ein Sohn aus ärmsten Verhältnissen, kann durch die Gunst eines Gönners studieren und Lehrer werden, behält aber sein sozialdemokratisches Denken auch, als er Hanna Jo kennenlernt, die eigentlich Johanna heißt und eine der Töchter eines Posamentenunternehmers aus dem Erzgebirge ist, der mit jedem politischen Wechsel ahnt, mit welchen textilen Stücken sich jetzt gutes Geld verdienen lässt.

Bei Kriegsbeginn natürlich mit all dem Lametta, das sich Offiziere auf ihre Uniformen basteln. Viele Offiziere, viel Lametta.

Und trotzdem wird dieser Anselm akzeptiert, auch wenn er mit seiner Meinung nie hinterm Berg hält. Auch später nicht, als die Nazis an die Macht kommen und in den Schulen der Hitlergruß zur Pflicht wird. Aber wie will er den machen ohne rechte Hand? Die hat Anselm im Krieg eingebüßt. Und der größte Teil der Geschichte, die Wiete Lenk erzählt, widmet sich genau dieser Zeit, als ihre Großelten zusammenkamen. Der Sohn armer Leute und die Unternehmertochter, die ein Leben lang eine Herzlichkeit verbindet, die erst an jenem Tag endet, als Anselm an einem Herzinfarkt stirbt.

Der trotzdem kein trauriger Tag wird, auch wenn die Ohme mehrfach wortlos ist und nicht, wie gewohnt, schnippisch auf die Fragen ihrer neugierigen Enkelin antwortet, die bei den Großeltern aufwächst, weil der Vater in Moskau ist. Selbst zur Beerdigung des Ohpas kommt er nicht. Redet sich damit heraus, dass die Flugzeuge wegen zu starken Schnees nicht starten können.

Verblendung und Eigensinn

Tatsächlich bleibt er blass, eine blecherne Stimme im Telefon, für seine achtjährige Tochter so ungreifbar wie ihre Mutter. Und man merkt, dass diese nicht ganz grundlos von den Großeltern erzählt. Denn sie sind es, die in ihrem Herzen lebendig geblieben sind. Mitsamt ihren Geschichten, die geradezu märchenhaft anmuten, als wäre alles erfunden.

Und ein phantasievoller Geschichtenerzähler war der Ohpa ja. Bis zuletzt. Die Fabrik seines Schwiegervaters ist längst verschwunden, abgebrannt nach dem Krieg, als der sich stramm den Nazis andienende Bruder von Hanna Jo, Max, merkte, dass er in seiner Gefolgschaftstreue völlig aufs falsche Pferd gesetzt hatte.

Es ist auch eine Geschichte über Verblendung und die Irrwege eines Landes, in dem Männer nur zu bereit sind, immer neuen Schreihälsen nachzulaufen, wenn ihnen Lieder von Patriotismus, von Rache und Überlegenheit eingetrichtert werden. Als könnten Menschen nur auf diese Weise „wieder wer sein“ in der Welt. Als hätten sie das nötig.

Es ist auch eine Geschichte über wirklichen Menschenstolz, die humorvolle Eigensinnigkeit, die nicht nur Anselm lebt und Hanna Jo so bewundert. Auch die skurrile Tante Cäcilia spielt eine Rolle, die scheinbar so gar nicht in die bürgerliche Atmosphäre des Unternehmerhaushalts passt, taucht immer mal für drei Tage auf, um mit kessen Sprüchen wieder zu verschwinden. Am Ende ist es ein skurriler Fahrradunfall, der ihr Ende bedeutet. Ihr Grab ist auf dem selben Friedhof, auf dem nun auch Anselm seine letzte Ruhe findet.

Was es wirklich zu erzählen gibt

Und all das wirkt wie gut ausgedacht. Ist es aber nicht wirklich. Nicht ganz. Auch wenn wir uns unsere Familiengeschichten natürlich alle ausdenken. Oder zusammenbasteln. Denn wir erinnern vor allem das, was uns wirklich berührt hat, die Anekdoten, die immer wieder erzählt wurden, das, was uns ergriffen hat und lebendig bleibt, auch viele Jahre nach Ohpas Tod.

Nur dass sich das für die meisten nicht zu einem Roman der Familie fügt. Für manche zu Familienromanen. Das schon. Aber dieser hier ist in dem Sinn keiner, auch wenn Aufstieg und Verschwinden einer erzgebirgischen Unternehmerfamilie im Mittelpunkt stehen.

Es ist ganz und gar der Roman der achtjährigen Enkeltochter, die 1967 den Tod ihres Großvaters erlebt und mit diesem Tag, an dem auch die beiden Totengräber noch eifrig Anselms leckeren Limettenlikör trinken, mit all den Erinnerungen verbindet, die Anselm und Hanna Jo für sie bis heute lebendig machen. Und das so liebevoll, dass man merkt, wie stark und emotional man sich an die Menschen erinnern kann, die einem einst eine geborgene Kindheit geschenkt haben.

So stark, dass Wiete Lenk sich – auch mit viel Unterstützung ihrer Familie – hinsetzte und diese Geschichte zum Roman verdichtet hat. Und das mit einer erzählerischen Freude, die an viele Stellen an die Erzählfreude eines Heinrich Mann erinnert.

So dicht, so intensiv kann Leben erzählt werden. Und man merkt: Das, was es zu erzählen gibt, braucht keine historischen Heldengeschichten (die sowieso meistens erstunken und erlogen sind). Das, was uns tatsächlich berührte, umtrieb und erschütterte, das ist ganz unauffällig rings um uns und mit uns geschehen. Wie selbstverständlich, als wäre das Leben eben einfach dazu da, Liebe und Herzlichkeit zu verschenken. Im Übermaß. Den davon hat man immer genug.

Zuhören und Hinschauen

Und gleichzeitig sollte es ja auch bedeuten, der Phantasie der Kinder keine bevormundenden Grenzen zu setzen. Weshalb dieser Roman auch die Geschichte einer großen Freiheit ist. Der Freiheit, sich Vorurteilen und Ideologien nicht unterordnen zu müssen. Und das Schräge und Lebenswerte auch und gerade an Mitmenschen zu akzeptieren, die nicht ins Raster de Ordnungsbesessenen passen. Das weiß nicht jede zu erzählen.

Denn dazu muss man erzählen können und wissen, worauf es ankommt. Und das weiß die Autorin. Da gibt es nicht all diese öden inneren Dialoge und Monologe, mit denen die deutsche Blümchenliteratur das Publikum langweilt. Die Autorin erzählt, was sie sieht.

Sie lässt ihre Figuren agieren. Und zwar wie selbstverständlich. Das Leben braucht keine Erklärungen. Es ist. Jetzt. Ganz im intensiven Moment. Ein wenig pointiert durch Gespräche, die eben keine gelehrten Vorträge sind, kein Bühnendeutsch, sondern jene aufs Wesentliche reduzierten Brocken an Kommunikation, die sich ganz von allein erschließen, wenn man mit der Erzählerin einfach zuhört.

Erwachsene können sich so schlecht verstellen. Kinder bekommen doch (fast) alles mit. Gerade dann, wenn sie an den gewissen Stellen hinausgeschickt werden. Da werden selbst in den Äußerungen der handelnden Figuren ganze Erklärungen überflüssig. Etwa wenn Anselm an der feierlich gedeckten Tafel der Unternehmerfamilie Dehnel ganz selbstverständlich sagt: „Graupen und Steckrüben brauchen kein Tischgebet.“ Scheinheiligkeit ist ihm völlig fremd. Und da er mit dem Satz schon die ganze Aufmerksamkeit der Familie hat, schiebt er gleich noch einen hinterher: „Gott scheint die deutsche Hybris mit Rüben und Kohl zu strafen.“

So einen Großvater darf man sich wünschen. Auch wenn er sich dann im Zusammenleben mit Hanna Jo (den Namen hat er selbst einfach umgedreht) die Kommentare dann lieber verkneift und nur mit einem ironischen „Ähm“ andeutet, dass Hanna Jo doch wieder ein bisschen zu sehr übertreibt. Die beiden lieben sich. Das sieht selbst die Enkelin. Auf eine zutiefst sinnliche Weise. Auch wenn beide sich erst wieder finden müssen nach Anselms Verwundung und dem Verlust der Hand.

Zeit für große Familiengeschichten

Und Wiete Lenk weiß, dass man das, was dann wirklich in den entscheidenden Momenten passiert, nicht erzählen kann. Und schon gar nicht ausmalen sollte. Erzählen hat nichts mit Auspinseln zu tun. Das Wesentliche passiert – man kann es ja bei Tucholsky lernen – da, wo die drei Pünktchen sind.

Aber die drei Pünktchen bemerken wir meistens nicht, wenn es passiert. Und reden und erklären alles. Dabei muss gar nicht viel erklärt werden. Nicht einmal, dass Anseln auf Hanna Jos Gewissheit, dass sie ganz gewiss einen Jungen bekommt, meint: „Ich sehe da eine Chance von 50 Prozent.“

In dieser Dichte des Erzählens – verbunden mit einem liebenswerten Lebenshumor – gehört das Buch in eine Reihe gerade in jüngster Zeit erschienener bewegender „Familienromane“ aus dem Osten. Man denke nur an „An des Haffes anderm Strand“.

Auf einmal scheinen es gerade Autorinnen zu sein, die das viel zu enge Korsett der „Ostgeschichten“ aufbrechen und den Atem der großen Geschichte da suchen und finden, wo es um die Erzählungen ganzer Generationen geht, die in den Mühlen eines übergriffigen Jahrhunderts ihre Menschlichkeit zu bewahren suchten. Auch ihre Anständigkeit in Zeiten der Zumutung, ihre menschliche Würde.

Darum geht es ja letztlich im Leben. Und wenn wir Glück haben, erinnern sich unsere Enkelkinder so an uns, wie die Erzählerin an Großvater Anselm. Der sich ja vielleicht wirklich einen ganzen Tag lang überlegt hat, ob er sich tatsächlich in den Sarg legt. Oder doch lieber noch ein bisschen auf dem Dachboden herumgeistert und seiner Enkelin ein bisschen hilft, mit der neuen Situation zurechtzukommen.

Wiete Lenk„Zwischen den Zeiten leuchtet der Schnee“, Gmeiner Verlag, Meßkirch 2023, 24 Euro.

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