Lebten in Dresden überhaupt mal berühmte Schriftsteller? Natürlich. Einer hat sogar ein Denkmal bekommen. Aber um diese Sockel-Sicht auf Autoren geht es Bernd W. Seiler gar nicht. Er ist Literaturwissenschaftler, in Dresden aufgewachsen. Zwei große Bildbände zu Fontane hat er veröffentlicht. Und tatsächlich: Auch Fontane kommt vor in diesem Buch, in dem Seiler auf Literatur schaut, wie das die meisten Biografen und Leser nicht tun. Denn Literatur hat es in sich.

Wie er das macht, deutet er auf seiner Seite als Professor der Uni Bielefeld an. Da betrachtet er die „deutsche Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung ihrer Entstehungs- und ihrer historischen Wirkungsbedingungen“. Man könnte noch zuspitzen: Er berührt es auch, wenn er im Vorwort zu diesem Buch schreibt: „Immerhin neun ‚Literatur-Geschichten‘ lassen sich von Dresden also erzählen, und es wären noch etliche mehr, bezöge man auch die in Vergessenheit geratenen Autoren ein.“

Da erwähnt er dann Ludwig Tieck, Friedrich Laun und Ludwig Renn. Immerhin Namen, von denen die Meisten noch gehört haben dürften. Also nicht ganz vergessen. Und da taucht dann jenes Kriterium auf, das darüber entscheidet, ob Autoren vergessen werden. Oder auch nach 200 Jahren immer wieder gedruckt werden und wie selbstverständlich als „Klassiker“ gelten. Klassisch in dem Sinn: Sie habe etwas geschrieben, was auch noch viele Generationen nach ihrem Tod interessiert.

Was bleibt?

Und das hat Gründe. Keine literarischen, wie es einem Literaturwissenschaftler und Germanisten meist weiß zu machen versuchen. Sonden menschliche. Was dann oft auch Kritiker und Literaturjurys oft nicht begreifen, die eine Tagesliteratur hochjubeln, von der sie glauben, sie träfe den Ton der Zeit. Und schon eine Generation später fragt man sich verwundert: Was für einen Mist haben die da eigentlich zum Bestseller hochgejazzt?

Man schaue sich nur die frühen deutschen Literaturnobelpreisträger an: Theodor Mommsen, Rudolf Eucken, Paul Heyse. Wer liest die noch? Wer weiß – außer bei Mommsen, der eigentlich Historiker war -, wer diese Leute eigentlich waren und was sie veröffentlicht haben? Der Erste, der noch einen Ruf hat, ist Gerhart Hauptmann, der den Nobelpreis 1912 bekam und der – keine Überraschung – in Seilers Dresden-Buch auftaucht: „Gerhart Hauptmann und die großen Sprüche“.

Am Ende erwähnt er auch, warum Hauptmann so berühmt wurde und bis heute als ein Autor mit sozialem Gewissen gilt, obwohl er das nie war.

Aber dazu muss man in die persönliche Biografie schauen, in Hauptmanns Frauengeschichten, die sich eng mit Dresden verbinden. Auch mit ganz konkreten Örtlichkeiten. Aber man erfährt mit Seiler eben auch, dass es Autoren gibt, denen eine große Gabe in die Wiege gelegt wurde – und die oft nicht einmal wissen, was diese Gabe eigentlich ist. Was man aber auch erfährt, ist, wie sich das Leben (und seine durchaus verzwickten Windungen) in die Arbeiten dieser Autoren einschreibt.

Oder noch deutlicher formuliert: Ohne diesen ganz persönlichen Hintergrund hätte es die Bücher nie gegeben. Und das hat mit Genie nichts zu tun, sondern mit Bedrängnis. Genau das ist es nämlich, was literarische Texte lebendig macht, einprägsam, unvergesslich. Und genau da wird greifbar, wenn ein Flaubert sagt: „Die Madame Bovary bin ich.“ Oder Ottfried Preußler: „Ich bin Krabat“.

Die Leiden eines Kapellmeisters

Mit E.T.A. Hoffmann kann man weitermachen, den man in seinem Kapellmeister Kreisler in „Fantasiestücke in Callots Manier“ natürlich wiedererkennen darf, eine Sammlung, die E.T.A.Hoffmann 1813 in Dresden begann, als er der rotierende Kapellmeister der Seconda’schen Theatertruppe war, „spöttische Geschichten über die Erfahrungen, die höher veranlagte Menschen machen, wenn sie sich inmitten der gewöhnlichen Welt auf das Wesentliche ausrichten“, schreibt Seiler.

Und beschreibt natürlich Hoffmanns Konflikte mit seinem Chef Seconda, seine Suche nach einem Lebensunterhalt, die ihn ausgerechnet in der Zeit der Völkerschlacht zum Kapellmeister machten. Auch wenn er das Talent dazu hatte. Er war ja ein Hochbegabter – musikalisch, künstlerisch, literarisch. Und am Ende war er wieder froh, als Richter in den preußischen Staatsdienst zurückkehren zu können, weil er damit endlich wieder ein geregeltes Einkommen hatte.

Wer – wie Seiler – die Arbeiten der Berühmten mit Kenntnis ihrer konkreten Biografie liest, der sieht die Verbindungen, das, was zu Wort kommen will. Was die Autoren nicht verschweigen können und oft auch nicht wollen. Es muss raus. Und auf einmal merkt man, wie viele Spuren das Leben der Autoren in ihren Büchern hinterlassen hat. Das kann er bei E.T.A. Hoffmann und seinem Aufenthalt in Dresden (der sich auch sehr schön in der Altstadt lokalisieren lässt) nachweisen, genauso wie bei Hauptmann oder einem gewissen Thomas Mann, der scheinbar so gar keine Beziehung zu Dresden hat.

Und dennoch hat es eine Dresdner Kriminalmeldung geschafft, zu einer markanten Szene in seinem Roman „Dr. Faustus“ zu werden, die auf einmal – wenn man so auf die Nebenhandlung aufmerksam gemacht wird – jede Menge über den Autor Thomas Mann verrät.

So kommt es an den Tag, könnte man meinen. Und natürlich passiert das selbst dann, wenn es die Zeitgenossen gar nicht mitbekommen haben und erst späte Fundstücke verraten, woher der Schriftsteller seine Geschichte und seine Figuren eigentlich hatte. So wie bei Theodor Fontane, der als angehender Apotheker in Dresden war und später Dresden auch wieder besucht hat.

Dass diese Dresden-Verstrickung dann in einem seiner berühmten Berlin-Romane Gestalt annahm, ahnten Fontanes Leser gar nicht. Denn in seinem biografischen Buch „Von Zwanzig bis Dreißig“ hat Fontane diese Dresdner Begegnung wohlweislich ausgespart.

Aber erzählt werden musste sie wohl. Und so stolpert man mit der Witwe Pittelkow in „Stine“ über ein echtes Fontane-Abenteuer in Dresden.

Schöne Kindheit?

Wobei Seiler noch deutlich bemerkt, das alle neun Autoren, die er hier auf Dresdner Spuren ertappt, mit der Stadt Dresden eigentlich nicht viel am Hut hatten. Das schöne Kleinod an der Elbe war ihnen bestenfalls mal eine schöne Aussicht aus dem Fenster wert. Aber ansonsten waren sie vielmehr mit ihren eigenen Lebensabenteuern beschäftigt. Oder später im Leben – so wie Erich Kästner – eifrigst bemüht, sich eine schöne Kindheit in Dresden zu erfinden.

So wie Erich Kästner in seinem 1957 erschienenen „Als ich ein kleiner Junge war“, eine Kindheitsbeschreibung in der Seiler vergeblich nach der schönen Kindheit gesucht hat, die das – eigentlich auch für Kinder geschriebene – Buch versprach.

Bei der Spurensuche in Dresden wird Kästners Kindheit dann freilich immer deutlicher und keineswegs erstaunt findet Seiler heraus, warum Kästner nur zu seiner Mutter so ein inniges Verhältnis hatte. Und warum ihm zeitlebens eine echte Vaterfigur fehlte. Die er dann – auch im Buch – in seinem geschäftstüchtigen, aber auch sehr patriarchalen Onkel imaginierte. Mitsamt den herrlichen Sommerwochen in dessen Garten am Albertplatz.

Also genau da, wo heute der „Kleine Junge“ auf der Mauer sitzt und dem Leben auf dem Albertplatz zuschaut. Und es erzählt eine Menge über Kästner und seine innere Not, wenn Seiler nur noch feststellen kann, dass gerade die schönsten Szenen in Kästners Kindheitsbuch so nicht stattgefunden haben können.

Womit man eine der stärksten Motivationen für richtig gute Literatur schon mal am Zipfel hat: die Sehnsucht. Die Sehnsucht nach etwas, was es im Leben der Autoren so nie gegeben hat. Oder nicht geben durfte – wenn man an Thomas Mann und seine unterdrückten Leidenschaften denkt. Oder an Karl May und seine Abenteuerromane, die Millionen Leser begeisterten.

Und einige wenige bissige Kritiker auf den Plan riefen, die dem Autor, der aus Dresden eigentlich auch geflüchtet ist, um endlich seine Ruhe zu haben, seine zusammenerfundene Biografie zum Vorwurf machten und ihn öffentlich als Lügner denunzierten.

Und damit die sensibelste Stelle dieses Webersohnes aus Ernstthal trafen, der sich auch für sich selbst ein Leben erfand, das es so nicht leben konnte und nicht durfte. Und der sich trotzdem einen gewissen Wohlstand erschrieb und damit das Schisma erlebte, das auch heute noch die Söhne aus Malocherfamilien erleben, wenn sie es doch mal durch eigenen Fleiß und Talent schaffen, in der höheren Gesellschaft ihren Platz zu finden. Bis einer kommt und an der Fassade kratzt …

Arme Hunde

Und so ein Fleißiger war ja bekanntlich auch Friedrich Schiller, der nach seinem Abgang aus Mannheim eigentlich vor dem Nichts stand. Hätten ihm nicht Christian Gottfried Körner, Ferdinand Huber, Minna und Dora Stock selbstlos geholfen und ihn erst nach Leipzig und dann nach Dresden geholt, wo er zwei Jahre lang unbehelligt schreiben konnte, bis er in Jena die Professur für Geschichte bekam.

Wobei Körner noch glaubte, dass Schillers Beschäftigung mit Geschichte vergeudete Zeit gewesen wäre. Manchmal täuschen sich auch die engsten Freunde darüber, was einen Dichter tatsächlich antreibt.

Manchmal ist es auch die Liebe. Aber die hatte es in diesem späten 18. Jahrhundert immer schwer. Das erfuhr Körner bei seinem Werben um Minna, das erlebte in Dresden aber auch Schiller bei seiner Begegnung mit Henriette von Arnim. Vielleicht wäre das die Liebe seines Lebens geworden, wäre er nicht nach wie vor ein armer Hund ohne eigenes Einkommen gewesen.

Am Ende muss auch die selbstlose Hilfe der Körners für ihn belastend gewesen sein. „Die Körners hatten unendlich viel für ihn getan, aber Schiller war auch halb und halb unter Vormundschaft geraten, und das tat nicht gut“, schreibt Seiler ganz trocken und ohne Pathos. Was überhaupt das Bezaubernde an seinen Literatur-Geschichten ist: Er verzichtet auf das übliche Pathos, mit dem in Deutschland zumeist der Lobpreis auf die armen Socken vergüldet wird, die man nachher, wenn sie längst gestorben sind, verehrt und rühmt. Aber nie gelesen hat.

Im richtigen Leben haben sie gelitten und gedarbt wie viele andere auch. Und ihrem Talent oft mehr geopfert, als ein braver Angestellter auchn nur ahnt, dass man es überhaupt opfern könnte. Denn es scheint ja so sinnlos, sich so ganz einem geschriebenen Werk zu verpflichten, als wäre das wichtig in einem Krämerland, in dem es eigentlich doch nur ums Geld und ein sicheres Einkommen geht. Und Bücher kauft man bestenfalls, wenn man noch einen Schmuck für das Stubenregal braucht.

Wer liest eigentlich diese Bücher?

Aber wer liest sie?

Natürlich Leute, die wissen, dass es im Leben mehr gibt als Aktien, Versicherungen und ein üppiges Gehalt. Nämlich das, was die Schriften der Immernochberühmten ausmacht, aufregend und manchmal auch verstörend macht. So wie bei Kleist, der wie E.T.A. Hoffmann durch Napoleons Sieg über Preußen erst einmal all seine beruflichen Perspektiven verloren hatte und Dresden auf seiner geplanten Reise nach Paris durchfuhr.

Und dann hängenblieb ein Weilchen – wegen der schönen Damen und der Leichtigkeit, sich hier zu amüsieren. Das klingt leichtfertig. Aber Kleist arbeitete auch – auf seine Art, schrieb Geschichten, platzierte hier seinen „Michael Kohlhaas“, versuchte ein Zeitschriftenprojek t– und scheiterte. Wäre nicht seine Schwester Henriette gewesen, er hätte sich Dresden nicht mal leisten können. Er ist aber trotzdem gescheitert. So, wie derlei Begabte in Deutschland nur zu oft scheitern.

Oder wie es Seiler formuliert: „Dabei war er – und er wusste das – der sprachmächtigste Erzähler seiner Zeit …“ Und das hatte – wie sollte es anders sein – mit dem zu tun, was ihn innerlich aufwühlte und umtrieb und Literatur werden wollte und musste: „Nie geht es in seinem Werk um ‚Welt‘, immer nur um ein irritiertes, gequältes, gepeinigtes Ich.“

Tja: Pech für Kleist, der am Ende keinen Ausweg mehr sah: „Die bittere Wahrheit für Kleists Werke ist: Sie wurden erst gelesen und aufgeführt, als man sie umsonst bekam.“

Was Sprache verrät

Und mit Victor Klemperer, der in Dresden Romanistik-Professor war, schließt Seiler seine Besichtigung einiger wesentlicher Autoren, die in Dresden waren – mal kurz, mal länger. Klemperer, von den Nazis aus dem Amt gedrängt, bis zuletzt bangend, ob er als Jude diese Finsternis überleben würde. Und dennoch schrieb er gerade in der Zeit, in der sein Leben immer mehr bedroht war, ein Tagebuch, das heute zu den gewaltigsten Selbstzeugnissen des 20. Jahrhunderts gehört, gespickt mit Beobachtungen aus dem sich immerfort verändernden Sprachgebrauch des Dresdens in dieser Zeit.

Die dann zum Kern seines 1947 veröffentlichten Buches „LTI. Notizbuch eines Philologen“ wurden. Die bis heute gültige Analyse des faschistischen Sprachgebrauchs. Gültig und aktuell. Wer das Buch liest, merkt, was einige unserer pöbelnden Zeitgenossen schon wieder tun .

Aber auch so zeigen sich Klemperers Tagebücher als aus derselben Not geboren wie die große Literatur, die sich hier mit neun Autorenbildern mit Dresden verknüpft. Es ist das zutiefst Menschliche, das ausgesprochen und zu Worten finden will. Manchmal bewusst, manchmal unbewusst. Aber sie konnten nicht anders. Und manchmal schrieben sie – wie E.T.A. Hoffmann – geradezu im Rausch. Es musste erzählt werden.

Und jedes genaue Lesen dieser Geschichten mit dem Wissen um das tatsächliche Schicksal der Autoren zeigt, wie sehr das eine das andere befeuerte und bedingte.

Da hat man dann oft wirklich keinen Blick für Türme, Museen und die üblichen Sehenswürdigkeiten. Es gibt Wichtigeres. Und manchmal sind es dann Tafeln an einer Hauswand, die daran erinnern, wer hier mal wohnte und schrieb und litt. Oder einfach mal zu Gast war, ohne zu ahnen, dass ein Dresden-Abenteuer sich später in einen dicken Roman mogeln würde, den die Menschen mit Begeisterung lesen und sich dabei durchaus berechtigt wundern dürfen, wie vertraut und lebensecht das ist, was ihnen da erzählt wird.

Als wäre es tatsächlich passiert.

Da fängt dann die wirklich gute Literatur an, die man auch hundert Jahre später noch liest und sich fühlt, als wäre man in dieser Geschichte selbst schon mal unterwegs gewesen.

Bernd W. Seiler „Dresdner Literatur-Geschichten“, Sax-Verlag, Beucha und Markkleeberg 2023, 24,80 Euro.

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