Was der Klappentext verspricht, erfahren die Leser dieses Buches nie: „Der gemeinsame Schrecken schweißte sie als Kinder zusammen. Aber was geschah in ihrem Zufluchtsort ‚zwischen See und Meer‘, das sie als junge Erwachsene auseinanderbrachte?“ Gute Frage. Aber das, was Boris Hoge-Benteler seinen Erzähler Nilas in endlosen E-Mails an Solveig und Sten erzählen lässt, bringt kein Licht in die Dunkelheit.

Bis zum Ende nicht, wo der Erzähler dann selbst in Dunkelheit verschwindet, nachdem er mehrmals im Lauf eines vorüberjagenden Jahres versprochen hat, er werde Solveig alles erzählen. Solveig, die vielleicht irgendwo in Island lebt, nachdem sich die vier Freunde nach einer Party in Berlin aus den Augen verloren hatte.

Nele gehört noch irgendwie dazu, die Schwester von Nilas, die ihm sein letztes Domizil gibt, ein altes Haus auf dem Dorf, das wohl das Dorf ihrer Kindheit ist. Ein Dorf, bei dem man automatisch an ein Nest irgendwo in Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern denkt, von allen guten Geistern und vor allem der Jugend verlassen.

Aber die Dörfer ähneln sich wohl überall in Deutschland immer mehr. Die jungen Leute gehen weg, weil nichts mehr los ist. Nilas’ Dorf liegt ein paar Kilometer von Büren in Westfalen entfernt, der Kleinstadt, in der auch Boris Hoge-Benteler seine Kindheit verbrachte, bevor es ihn nach Jena und Weimar verschlug. Was vielleicht kein Zufall ist, auch wenn Goethe seinen „Werther“ nicht in Weimar schrieb, sondern in Frankfurt, nachdem er – mal wieder – geflohen war.

Diesmal aus Wetzlar, wo sich seine große Liebe zu Charlotte Buff nicht erfüllt hatte. Woraus dann in Frankfurt der berühmteste Briefroman der Literaturgeschichte wurde: „Die Leiden des jungen Werthers“.

Ein E-Mail-Roman ohne Empfänger

In gewisser Weise ist auch Hoge-Bentelers Buch ein Briefroman. Der Verlag nennt ihn so. Aber es ist eben die modernere Form des Briefromans: ein E-Mail-Roman. Mit einem weiteren wichtigen Unterschied zu Werthers Briefen, die ja ihre Adressatin tatsächlich erreichten. Nilas’ Niederschriften scheinen nicht wirklich abgeschickt zu werden. Manchmal formuliert er so, als würden Solveig und Sten tatsächlich antworten.

Aber in den Texten deutet nichts darauf hin, dass sie tatsächlich reagiert haben. Einer dieser Texte, in denen die Wirklichkeit, die Nilas in diesem Dorf erlebt, nur vage und blitzlichtartig aufschimmert, erzählt er von einem Gang auf den Friedhof, auf dem dann – da schon lange nicht mehr überraschend – das Grab von Sten liegt.

Eine Szene, die freilich genauso traumhaft bleibt wie all die anderen Szenen, die er schildert. Denn was er nicht erlebt an diesen vielen einsamen Tagen in diesem Dorf, wo er ganz offensichtliche keine Beschäftigung hat und praktisch auch niemanden (mehr) kennt, das imaginiert er, das geschieht ihm quasi im Traum, sodass man eigentlich nie weiß, wo denn für ihn die Grenzen zwischen Traum und Wirklichkeit sind.

Und was da – möglicherweise – in der Jugend passiert ist, wird er bis zur letzten Seite nicht erzählen, immer nur andeuten und von dem Bösen reden, das da kommt. Oder dem Gmork, von dem man auch nie erfährt, was das ist. Also ganz gewiss kein Buch für Leserinnen, die gern wissen möchten, warum Dinge geschehen. Oder eben Menschen so werden wie dieser Nilas, der augenscheinlich hochgradig unfähig ist, sein Leben auf die Reihe zu bekommen. Er muss irgendwas mit Literatur studiert und irgendwelche Trakl-Seminare besucht haben.

Aber ein gutes Rüstzeug fürs Leben scheint das nicht zu sein. Und so ganz grundlos wird ihm seine Schwester auch nicht den Rückzugsort auf dem Dorf eingerichtet haben. Ist er krank? Worunter leidet er? Man erfährt es nicht wirklich. Jung ist er schon lange nicht mehr. Wer läuft heute noch in Cordhosen herum? Wer hat in seiner Kindheit wie wild zu „Major Tom“ durch Kinderzimmer getanzt?

Gefangen in Fiktionen

Von Freundinnen, Freunden, Arbeitskollegen – nirgends eine Spur. Nur manchmal taucht die Schwester mit den Kindern auf, vielleicht, um nach dem Vereinsamten zu sehen. Aber der gibt sich auch keine Mühe, im Dorf Kontakte zu knüpfen – außer dass er sich eines Tages zu dem einsamen alten Mann gesellt, der in der Dorfkneipe Bier um Bier trinkt und am Ende tot im Stall aufgefunden wird. Mutmaßlich der Vater von Sten.

Der Leser ist auf Vermutungen angewiesen, wartet regelrecht darauf, dass Nilas irgendwann in einer seiner vielen nächtlichen E-Mails konkret wird, wenigstens andeutet, warum er nun im Dorf seiner Kindheit gestrandet ist und die Tage nur mit endlosen Wanderungen, Träumen und langen E-Mails verbringt, die er wohl niemals absendet. Genauso wenig, wie er Sten wieder besucht hat auf einer Reise, von der er Solveig nur berichtet, dass er Sten gar nicht angetroffen hat.

Er scheint regelrecht gefangen in seinen Fiktionen.

Und der Leser muss weiter mutmaßen, rätseln. Denn vielleicht spricht dieser so völlig Vereinsamte ja doch von dem, was damals passiert ist. Nur macht er es wie so viele Mitmenschen, die für das, was geschieht, so ungern Verantwortung übernehmen. Er berichtet es, als wäre er nur ganz zufällig Zeuge gewesen – so wie in seiner Mail vom 30. August, in der er von einer Dorfprügelei erzählt und von nächtlichen Bränden, die scheinbar alle gleichzeitig passieren. Eine brennende Scheune. Ein brennendes Hotel.

Und am Ende des Buches steht wieder ein Haus in Flammen. Und man weiß nicht: Träumt es der Mail-Schreiber nur? Ist es sein letzter Traum? Oder passiert es wirklich? Und wieder weiß keiner, warum es passiert.

So wie damals keiner wusste, warum ein Streit mit einem Toten endete. Oder warum so viele junge Leute an den Bäumen an der Landstraße starben.

Und vor allem, warum dieser Nilas aus den alten Schleifen nicht herauskommt.

Eingesperrt in Kopfwelten

Was andererseits ja auch ein nur zu bekanntes Problem ist in unserer seltsamen Zeit: Menschen leben in ihren Einbildungen, ihren Ego-Blasen, verkapseln sich regelrecht. Und begegnen einem dann als verstörende, selbstgerechte Zeitgenossen. Und das muss mit Demenz, Depressionen oder anderen psychischen Belastungen gar nichts zu tun haben. Als lebten sie tatsächlich nur in ihrer eingebildeten Welt, unfähig, die Außenwelt so nüchtern wahrzunehmen, dass sie sich mit Anderen darüber verständigen könnten. Sie scheinen wie eingesperrt in ihre Kopfwelt, unfähig, die Wirklichkeit so zu akzeptieren, wie sie ist.

Und dazu brauchen viele augenscheinlich nicht mal Drogen. Obwohl von Drogen in den Mails von Nilas keine Rede ist. Eher von einem leeren Kühlschrank und angebrochenen Prosecco-Flaschen. Vielleicht hat er da ein Problem.

Weil er aber auch in Bezug auf sich selbst und seine Probleme nie konkret wird, kann man nur raten. Und bleibt ratlos, weil er nicht einmal in diesem geschenkten Jahr auf dem Land einen Weg findet, mit sich selbst ins Reine zu kommen. Oder die Vergangenheit endlich in den Griff zu kriegen. Und das kommt einem doch sehr bekannt vor. Da fallen einem schnell eine Menge Leute ein.

Auch zumeist harmlose, die einfach nur (noch) gefangen sind in ihren eigenen Vorstellungen, Erwartungen, unerfüllten Wünschen, dem tief in sich hineingefressenen Frust auf das Leben oder die Leute, die längst vergangene Liebe, die Jugend. Gefangen in diffusen Ängsten, die sie nicht konkret benennen können.

Ein bisschen ist es wie in den dystopischen Romanen von J. G. Ballard, in denen die Helden sichtlich nichts anderes wünschen, als dass alles, was ihnen geschieht, schlimmstmöglich endet, in einem regelrechten Rausch der Vernichtung, des Vergehens, der Auslöschung. Als wäre die Selbstzerstörung das Eigentliche – und nicht das Leben. Romane, die eben auch zeigen, wie hilflos wir Menschen gegenüberstehen, die ihr Leben – bewusst oder ungewollt – regelrecht ruinieren, sich nicht aufrappeln wollen, um was draus zu machen.

Und so ist der Buchtitel wohl auch verständlicher, wo dann eben nicht steht „Liebe Solveig“ wie über den meisten nächtlich hingeträumten E-Mails, sondern „Liebe Dunkelheit“. Also ganz ähnlich wie in dem Song „The Sound of Silence“ von Simon & Garfunkel.

Nur dass man beim Gespräch mit der Dunkelheit letztlich keine Antworten bekommt. Trost und Zuversicht schon mal gar nicht. Und so ist es auch kein zuversichtliches und kein tröstliches Buch geworden. Eher eines, bei dem der Erzähler sich am Ende selbst völlig verloren geht.

Boris Hoge-Benteler „Liebe Dunkelheit“ kul-ja publishing, Erfurt 2023, 25 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar