Was erzählen eigentlich unsere Kleider über uns, unser Leben und unsere Zeit? Eine ganze Menge. Das wissen zumindest alle, die ab und zu in ihren Kleiderschrank tauchen. Oder sich in seltsamen Klamotten auf alten Fotos sehen. Aber es geht nicht nur um komische Mode. Das wurde den Autorinnen und Autoren in dieser Anthologie bald klar, als sie sich auf das Thema stürzten. Sie treffen sich regelmäßig zum Text-Atelier Leipzig.

Ohne großes Brimborium, auch wenn das Ergebnis schon mehrere Veröffentlichungen sind. So wie auch Joachim Oelßners „Was soll vergrabenes Gold“. Der Gruppe geht es eher nicht um bestsellerverdächtige Romane oder große Literaturpreise. Das merkt man auch den Texten in dieser Anthologie an. Barbara Beekmann darf nicht nur den Reigen eröffnen, sie gibt auch das Motiv vor, das in unterschiedlicher Ausführung auch die folgenden Texte durchzieht.

Eigentlich durchmustert sie nur den Kleiderschrank ihrer Erinnerung, beschreibt die Kleidungsstücke, die ihr Leben besonders geprägt haben – aber schon damit wird deutlich, dass es eigentlich um das Leben selbst geht, den Stoff, den wir uns selbst zusammennähen, wenn wir Entscheidungen treffen, Wegmarken passieren und auf andere Menschen einlassen. Manchmal auch die falschen, was man zwar oft schon beim ersten Konflikt merkt.

Aber meist braucht man Jahre, um sich einzugestehen, dass man sich hat verdummen lassen und auf den Falschen hereingefallen ist. Denn dummerweise gibt es für das Leben keine Gebrauchsanweisung. Die würde vieles sicher leichter machen.

Du bist, was du anziehst

Vielleicht würde sie auch helfen, die falschen Ratschläge, die einem Eltern oft mitgeben, einfach zu ignorieren. Was natürlich mehreren der hier schreibenden und sich erinnernden Autorinnen und Autoren so nicht möglich war. Ihre Kindheit und Jugend lag in jenen doch letztlich verbissenen und moralisch verklemmten Jahrzehnten nach dem Krieg. Wer über die Kleidung dieser Zeit schreibt, schreibt auch über Vorstellungen von „korrektem Verhalten“.

Die bis heute in etlichen Gesellschaftsschichten herumgeistern, die ihre Borniertheit für das Maß aller Dinge halten.

Aber schon in dieser ersten Geschichte wird sichtbar, dass es eigentlich um Selbstbehauptung geht. Und die drückt sich nun einmal im eigenen Kleiderstil aus – und im Selbstbewusstsein, mit dem etliche der in diesem Band Vertretenen sich das Recht nehmen, die Kleidung selbst auszusuchen, die sie tragen wollen.

Denn Tatsache ist, dass wir natürlich im Leben immer eine Rolle spielen. Und wenn wir das Kostüm selbst auswählen, ist es in der Regel natürlich die Rolle, die wir spielen wollen. Gelten aber strenge Kleiderregeln, dann ist der Mensch in seiner Garderobe nicht mehr er selbst. Dann stellt er etwas dar, was seine Firma, seine Familie, seine Gesellschaftsschicht von ihm erwarten. Oder von ihr.

Es kommt auf dasselbe raus, Kleider machen nicht nur Leute. Sie verzerren auch die eigene Persönlichkeit, wenn man sich von Anderen die Regeln vorschreiben lässt.

Lass dich sehen

Das sind alles sehr heutige Fragen. Das merkt man schon – gerade in den vielen Geschichten, die sich ums Schneidern drehen. In einer Geschichte spielt sogar eine Singer-Nähmaschine die Hauptrolle, die Generationen von Frauen begleitete in jenen Zeiten, als man sich die eigenen Kleider noch selbst anfertigen musste. In praktisch jedem Haushalt stand so eine Nähmaschine.

Es sind Erinnerungsgeschichten. Aber sie erzählen von einer Zeit, die so lange noch gar nicht her ist. Eine Zeit, in der es in riesigen Ladenketten nicht Berge billiger Kleidung gab, die nach einer Saison weggeschmissen wird.

Im Gegenteil: Selbst gute Stoffe waren rar. Gerade, wenn man im Osten aufwuchs. Was man in den doch sehr übersichtlich ausgestatteten Läden fand, war selten das, womit man sich auf Hochzeiten, Partys und Abschlussbällen sehen lassen wollte. Und so lernten die Töchter von den Müttern, wie man Nähte zieht, Stoff auslässt oder alte Kleidungsstücke neu zurechtschnitt, um dann beim nächsten Auftritt Eindruck zu schinden.

Und gerade die Autorinnen machen deutlich, dass es bei Kleidung immer auch ums Gesehenwerden geht, das Gefühl, anerkennende Blicke zu ernten. Oder einfach in einem Haufen boshafter Schulkinder anerkannt zu werden. Wer über Kleidung schreibt, schreibt immer auch über Standesunterschiede, prahlerischen Reichtum und Armut, die Wege finden muss, sich trotzdem zu behaupten.

Es sind immer die Anderen, die einen anhand der Kleidung bewerten und beurteilen. Viele Leute können gar nicht anders. Der Neid, die Missgunst, die Arroganz stecken tief in unserer Gesellschaft. Noch viel tiefer als zu Großmutters Zeiten. Ergebnis einer Wettbewerbsmentalität, die Menschen nicht nach ihrem Geist oder ihrer Persönlichkeit beurteilt, sondern nach ihrem Outfit.

Irritierende Kleidung

Und so werden viele dieser Geschichten zu Erzählungen aus dem realen Leben. Berichte vom Aushalten und Durchhalten und Sich-nicht-kleinmachen-Lassen. Außer in Andrea Hahnfelds Geschichte „Was ich tragen muss“ vielleicht, in der ein Mörder in die Rolle des von ihm Getöteten schlüpfen und auch dessen Kleidung tragen muss. Und zwar so lange, bis er Vergebung bekommt. Die er in dieser Geschichte aber nicht bekommt. Kleidung kann auch niederdrücken und entmutigen, wenn es die falsche ist.

Und wenn es die richtige ist – wie in Christiane Schlenzigs Geschichte „Das Leinenkleid und der Schauspieler“ – bedeutet das trotzdem noch nicht, dass ein Lebenswunsch in Erfüllung geht. Oder nur ein bisschen. Denn wir sind ja auch kompliziert geworden. Wir überfrachten unsere Ansprüche an Partnerschaften und erwarten zu viel. Und zwar gegenseitig. Sodass sich die „Paul und Paula“-Geschichten in immer neuen anderen Konstellationen wiederholt.

Kleidung kann nicht alles reparieren. Und manchmal irritiert sie auch das Gegenüber, wie in Edgar Sandigs Geschichte „Die passende Krawatte“. Auch wenn die Krawatte hier eine dienstbare Rolle spielt und die Irritation eher mit der Überforderung zu tun hat, die wir alle in einer Welt erleben, in der wir immerfort Verträge eingehen sollen, Beratern gegenüber stehen, Dinge regeln sollen, die sich eigentlich von allein regeln müssten.

Wir leben in einer überfordernden Gesellschaft, die nicht nur die Kunden, die der Bausparberater hier besucht, völlig ratlos macht, sondern ganz bewusst die Angst schürt, jederzeit betrogen und belogen zu werden. Da helfen auch Krawatten nicht mehr. Im Gegenteil: Man wird verdammt misstrauisch, wenn man Typen im Business-Anzug begegnet.

Eine oberflächliche Gesellschaft

Aber andererseits leben wir in einer Gesellschaft, in der (fast nur) das Äußerliche zählt. Was es etwa Iwan in Claudia Thoß’ Geschichte „April“ schwierig macht, mit den Kleidern öffentlich aufzutreten, die er liebt. Da sind die Anfeindungen nicht weit. Die natürlich zu einer Gesellschaft gehören, die immer nur an der Oberfläche bleibt und dort ihre blöden Sprüche nicht mal generiert, denn die blöden Sprüche sind alt und ausgelatscht.

Aber ihre Sprecher merken es nicht einmal, wie sie in den verklemmten Vorstellungen vergangener Jahrhunderte herumlaufen.

Für jede Autorin und jeden Autor gibt es auch immer noch einen kleinen Text, der davon erzählt, wie sie mit ihrer Kleidung inzwischen umgehen. Hier wird noch einmal deutlich, wie wichtig die selbstgewählte Kleidung für die Entwicklung von Selbstbewusstsein und Widerstandsgeist ist. Denn diese Art Kleidung passt eben nicht nur im mehrfachen Sinn, sie setzt auch ein Zeichen für alle anderen, mach deutlich, dass sich hier jemand nicht mehr unterbuttern lässt.

Nicht unter verstaubte Moralvorstellungen und auch nicht unter das Diktat einer bekloppten Mode.

Ein zutiefst literarisches Thema, wie man bald merkt, denn mit unserer Kleiderwahl wachsen wir, lernen mehr über uns selbst und geben vor allem unserer Lebensgeschichte eine Farbe, eine Form, einen Ausdruck. Werden damit auch erkennbar – wenn auch oft erst einmal nur für die Kinder und die liebe Verwandtschaft, die uns vorher glaubten als graue Maus taxieren zu können. Und nun auf einmal geben Oma, Opa, Mutter, Vater sich einen neuen Aufritt? Das kann verblüffen.

Aber noch viel mehr verblüfft es die, die es tun. Davon erzählen ziemlich viele Geschichten in diesem Band.

Text-Atelier Leipzig (Hrsg.) „Die Zeit fällt aus dem Kleiderschrank“, Text-Atelier Leipzig, Leipzig 2022, 12,99 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Ralf Julke über einen freien Förderbetrag senden.
oder

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar