Es ist ein wundersames Buch geworden, das sich der Manesse Verlag da beim Fotografen Helmut Schlaiß bestellt hat. Nachdem dieser schon einen großen Fotoband zu Goethes italienischer Reise vorgelegt hat – oder besser seiner Spurensuche heute auf Goethes einstiger Route, war das Angebot (oder die Bitte) um ein Gleiches für Franz Kafka für Schlaiß doch eine Überraschung. Und dann der Anlass für unvergessliche Aufenthalte in Prag und Zürau, dem heutigen Siřem. Mit seiner geliebten Leica M. Monochrom.

Mit der hatte er auch schon die Wege Goethes in Italien nachverfolgt und in poetischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen festgehalten. Was einer der Gründe für den Verlag war, Schlaiß auch das Kafka-Projekt nahezulegen.

Denn Fotobücher im Ansichtskartenstil in knalligem Farben gibt es längst genug. Die zeigen zwar die Welten der Dichter, wie sie heute aussehen, in gestochener Brillanz. Aber sie fangen nicht die Stimmung, die Atmosphäre ein, ohne die die Arbeiten der Autoren keine Literatur wären.

Schon gar keine, die das Lesepublikum über 100 Jahre immer wieder in Atem hält und immer wieder Dinge entdecken lässt, die zutiefst menschlich sind, vertraut und gleichermaßen verwirrend. Bei Kafkas vollendeten und unvollendeten Texten ist das nun einmal so. Und der Anlass stand für den Manesse Verlag im Kalender: 2024 jährt sich der Todestag von Franz Kafka zum 100. Mal. Da werden ganz bestimmt viele Bücher zu und über den so früh an Tuberkulose Verstorbenen erscheinen.

Aber nur eines begibt sich so einfühlsam auf die Spuren des Prager Versicherungsangestellten, der seine Erzählungen und Romane praktisch nebenberuflich schrieb.

Die Einsamkeit des Schreibenden

Denn leben konnte er davon nicht. Auch beim Publikum musste erst der Sinn für diese ganz und gar nicht skurrilen Geschichten wachsen, die mehr sind als Parabeln auf das oft ratlose Menschsein in unserer Welt. Der Ruhm holte Kafka erst nach seinem Tod ein. Und das verdankt die Literaturwelt vor allem seinem Freund Max Brod, der es nicht fertigbrachte, Kafkas nachgelassene Schriften zu verbrennen.

Helmut Schlaiß freilich machte sich eher nicht mit den heute berühmten Romanen auf die Spurensuche nach Kafka-Orten in Prag. Wobei er – wie er schreibt – zu einigen erst Zugang fand, als er die Texte als Hörbuch genoss. Was einen Aspekt in Kafkas Schreiben deutlich macht, der von den Kritikern oft unterschätzt wird: Wie sehr diese Texte vom Erzählen leben.

Da hat man einen geradezu scheuen Autoren vor sich, der Menschenmengen (aus guten Gründen) lieber mied, der dann aber in den einsamen und ungestörten Stunden am Schreibtisch in der Alchemistengasse zu seinem Sprechen fand, ganz und gar in das konzentrierte Erzählen abtauchte und diese Momente auch als zutiefst erfüllend erlebte.

Was Kafka auch in seinen Briefen an Freunde und Geliebte schildert. Und deshalb stammen viele der kleinen Texte, die Schlaiß neben seine Fotos gestellt hat, auch aus Kafkas Briefen, andere aus seinen Tagebüchern und nachgelassenen Schriften. Es sind Zitate und Ausschnitte, die Kafkas permanentes Grübeln über die Welt und das alltäglich Erlebte deutlich machen, manches auch als konkrete, stimmige Orts- und Situationsbeschreibung.

Sodass man neben den Fotos auch jenen Gedankengängen begegnet, die Kafka möglicherweise wirklich durch den Kopf gingen, als er durch all die Gassen und Straßen ging, die Schlaiß mit viel Gefühl für den Ort möglichst ohne den ganzen heutigen Menschentrubel abgelichtet hat.

Verloren in der Welt

Und das mit dem Blick für den poetischen Moment. Was durch den Verzicht auf Farbe noch verstärkt wird. Denn bei seinen mehrmaligen Besuchen in Prag stellte sich Schlaiß immer wieder die Frage, wie Kafka sein Prag tatsächlich gesehen haben mag. Wie kam es zu seiner so unverwechselbaren Weltsicht? Und dass es auch damals nicht das von Trubel und Lärm erfüllte Prag war, das Kafka zu seinen Geschichten animierte, das kann man bei Kafka selbst nachlesen.

Seine „Helden“ sind in der Regel einsame, sehr beunruhigte Gestalten, die das Seltsame, das ihnen begegnet, tatsächlich als so seltsam akzeptieren, wie es ist. Und die deshalb einen feinen Sinn dafür entwickeln, wenn die Dinge ungerecht werden, die Prozesse (nicht nur im „Prozess“) zunehmend unbegreiflich.

So wie sich eben (Macht-)Apparate oft genug verselbständigen und den betroffenen Menschen in einen hilflosen Bittsteller verwandeln. Und – man lese es bei Kafka – in ihm das Gefühl bestärken, selbst mit seinem Anliegen im Unrecht zu sein.

Natürlich lesen Amtswalter in solchen Apparaten selten bis nie Texte von Kafka. Da würden sie ja den Emotionen der armen Würstchen begegnen, die sich den „Entscheidungen des Apparates“ hilflos ausgeliefert fühlen und auch keine Begründung dafür bekommen, was da gerade mit ihnen gemacht wird. Für Kafka eine Lebenserfahrung – auch als Jude, der selbst im Prag des frühen 20. Jahrhunderts die aufkommende Verachtung für die Juden erlebte und schriftlich registrierte.

Kein Wunder, dass Schlaiß auch die Bank am Moldauufer mit ins Bild genommen hat, auf der noch heute zur Mahnung steht, dass sie einmal für Juden verboten war.

Kafkas Stunden

Er fängt die Stimmung in den Gassen auf der Kleinseite ein, schaut mit Kafka über die Nebel überm Wasser der Moldau, besucht das einstige „Cabaret Montmatre“ und auch das legendäre „U fleku“, das die Leser nicht nur durch den braven Soldaten Schwejk kennen (dem Schlaiß sogar im Zug begegnet), auch Kafka soll hier des Öfteren eingekehrt sein.

Schlaiß verzichtet darauf, eine einstige Wohnadresse von Franz Kafka nach der anderen abzulichten. Ihm geht es mehr um diesen Erzähler, Briefeschreiber, Zufußgeher, der in diesem Stück Prag einst unterwegs war und sich ganz bestimmt von allem, was er sah, hat inspirieren lassen. Von Treppen und Durchgängen, dem Licht auf dem alten Pflaster, den Fluren seiner einstigen Dienststelle, Lichtern und Schatten.

Weshalb Helmut Schlaiß bevorzugt in den Abendstunden oder in den ganz frühen Morgenstunden loszog, um diese Kafka-Momente mit der Kamera einzufangen. Oft mehrere Tage hintereinander, weil auch nachts die Schlaflosen und Feierlustigen auf Prags Straßen unterwegs sind.

Leute, die ganz bestimmt eher keine Gedanken an einen kleinen, stillen Mann verschwenden, der hier einst unterwegs war mit großen Augen, vielleicht ein bisschen froh im Herzen, weil er wieder eine dieser Geschichten fertiggebracht hat, in denen das Verlorensein in einer zugemuteten Welt so ganz und gar erfasst wurde.

Und nach Zürau reiste der Fotograf auch deshalb, weil der schon erkrankte Dichter hier im August 1917 auf dem Gut seiner Schwester Ottla Erholung suchte – und die Zürauer Aphorismen schrieb, die freilich sein Freund Max Brod erst so betitelte. Und die Helmut Schlaiß natürlich auch zitiert, während seine Fotos das noch immer ländliche und stille Siřem einfangen.

Mit Kafka beim Bier

Am Ende werden seine Bilder aus den zwei wichtigsten Lebenstationen Kafkas (nur Berlin und Leipzig fehlen) eine sehr emotionale Annäherung an Franz Kafka und seine Welt. Was auch dadurch möglich ist, dass viele Kafka-Orte in Prag tatsächlich bis heute vorhanden sind, wenn auch oft genug bunt und schrill vermarktet. Schlaiß zeigt, dass man zum Nachdenken über das menschliche Verlorensein die Stille und die Einsamkeit braucht.

Dann fangen Laternen, Gassen und verschlossene Fenster an zu erzählen, nehmen Bedeutung an, die man sonst im tägliche Getriebensein nicht wahrnimmt. Dann wird das sichtbar, was Kafka in seinen Texten eingefangen hat.

Ein Bursche, der eigentlich eine gewaltige Abneigung gegen Bilder hatte. Wie im Nachwort Freddy Langer erklärt, der sich mit Schlaiß extra auf ein Bierchen traf, um von ihm erklärt zu bekommen, warum er Kafkas Welt so fotografiert hat und nicht anders. Aber man kann sich Kafka wohl nicht anders annähern. Ihn selber fragen kann man schon gar nicht.

Und Schlaiß würde das auch gar nicht wollen, auch wenn er mit Kafka gern in einem Prager Gasthaus beim Bier zusammengesessen hätte, „um sich ein noch genaueres Bild zu machen“, ihn einfach „reden zu lassen und einfach nur zuzuhören.“

So erschließt sich dieser ungewöhnliche Autor natürlich erst. Denn das, was dieser Kafka zu erzählen hat, ist nun einmal das immer Uneindeutige im Menschsein, erst recht in einer verwalteten Welt, in der der Einzelne auf Schritt und Tritt seine Ohnmacht und sein Einsamsein zu spüren bekommt. Nur manchmal aufgebrochen, wenn kluge Frauen wie Milena oder Felice zuhören. Oder seine Briefe lesen, in denen er genauso unentwegt nach der richtigen Beschreibung dessen suchte, was ihn verwirrte, beschäftigte und umtrieb.

Offenherzigkeit und Hingabe

Mit den Fotos von Helmut Schlaiß kann man bildlich eintauchen in Kafkas Gedankenwelt, auch wenn sie keine Illustrationen sind, eher Annäherungen an diesen Prager Spaziergänger, der selbst über sein Schreiben immer wieder nachdachte: „Schreiben heißt ja, sich öffnen bis zum Übermaß; die äußerste Offenherzigkeit und Hingabe, in der sich ein Mensch im menschlichen Verkehr schon zu verlieren glaubt und vor der er also solange er bei Sinnen ist, immer zurückscheuen wird – denn leben will jeder, solange er lebt – diese Offenherzigkeit und Hingabe genügt zum Schreiben bei weitem nicht.“

So zu lesen in einem Brief an Felice Bauer. Und das Zitat geht natürlich noch weiter und gipfelt eigentlich in der Aussage: „Deshalb kann man nicht genug allein sein, wenn man schreibt, die Nacht ist noch zu wenig Nacht.“

Es gibt wenige, die so schreiben. Und es gibt nur einen Kafka, den man mit den Fotografien von Helmut Schlaiß ganz genau so entdecken kann. Fast hoffend, es kommt auch noch ein Blick in ein hellerleuchtetes Zimmer, wo Herr K. am Schreibtisch sitzt, ganz vertieft in sein Schreiben. Aber dieses Foto gibt es nicht. Kann es nicht geben. Nur die Momente der Stille, die ahnen lassen, er könnte hier entlangspaziert sein. Aufmerksam und in Gedanken. Im Mondlicht, das durch die Wolken bricht.

„Wer ist es? Wer geht unter den Bäumen am Quai? Wer ist ganz verloren?“ Ein Zitat, das letztlich in einem Wunsch endet, der viel zu selten erfüllt wird: „Warum hebt Ihr die Arme, statt uns in sie zu schließen?“

Und damit ist man unverhofft auch in unserer zerschlissenen Gegenwart. Die das Verlorensein mit Lärm und Klamauk überbrüllt. Und auch noch die letzte Stille zerfetzt, damit nur ja niemand auf Kafka-Gedanken kommt.

Helmut Schlaiß „Kafkas Kosmos“, BManesse Verlag, München 2023, 50 Euro.

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