Eigentlich sind es Einsiedler- und Eigenbrรถtler-Geschichten, die der us-amerikanische Autor Steve Rasnic Tem schreibt. Geschichten vom Rand einer Gesellschaft, die aus lauter Rรคndern besteht und keine Mitte mehr kennt. Geschichten, die wie eine Fortsetzung der Short Stories von Raymond Carver wirken, fortgesetzt da, wo selbst die letzten Rituale gesellschaftlichen Miteinanders nicht mehr existieren. Die entfesselte Konsumgesellschaft macht die Menschen zu Eremiten.
Willkommen in der Gegenwart kรถnnte man sagen. Auch wenn es erst einmal nur die Radikalisierung des amerikanischen Traums ist, der sich als Albtraum erweist, als eine Welt, in der sich Menschen immer mehr in ihr Gehรคuse zurรผckziehen und Begegnungen mit den verstรถrenden anderen nicht nur meiden, sondern auch fรผrchten.
Auch wenn manche Geschichten von Steve Rasnic Tem ins Absurde und Surreale abzudriften scheinen, sind sie doch so dicht an der Gegenwart der von โWohlstandโ, โAufstiegโ und โErfolgโ besessenen westlichen Welt, dass man lange das Gefรผhl nicht loswird, dass Tem tatsรคchlich nur aus dem einsamen Leben seiner Protagonisten erzรคhlt. Protagonisten, die allesamt etwas zu verbergen haben. Denn sie passen natรผrlich nicht zum propagierten Bild des Erfolgsmenschen. Auch wenn sie sich bemรผhen, den Schein zu wahren.
In Abwesenheiten
Doch in einer Gesellschaft, die den Erfolg jedes Einzelnen zum Maรstab seiner gesellschaftlichen Anerkennung macht, wird der Schein des Erfolgs zum Normalen. Auch dann, wenn Partnerschaften schon lรคngst in die Brรผche gegangen sind, in aller Stiller eingeschlafen, weil die beiden Menschen sich eigentlich nie etwas zu sagen hatten, einander eigentlich auch nie wirklich begegnet sind.
Das beginnt schon mit der ersten Geschichten mit dem geradezu poetischen Titel โDas langsame Fallen von Staub an einem ruhigen Ortโ, deren โHeldโ sich in der Welt seiner Bรผcher vergraben hat. Sein geradezu beklemmendes Lebensmotto: โIch fรผhle mich wohler mit Abwesenheiten.โ
Geradezu beilรคufig erfรคhrt man vom Verschwinden seiner Frau und vom Fortgang seiner Tochter, die vergeblich versucht hat, diesen schweigenden und verschlossenen Vater zu irgendeiner menschlichen Reaktion zu bewegen. Dass die Bรผcher auch nur eine Ausrede sind, davon erzรคhlt der Staub, gegen den der Mann schon lange nicht mehr ankรคmpft.
โManche wรผrden sagen, ich sei ein Mann mit mickriger Vorstellungskraft. Manche wรผrden sagen, ich hรคtte mein Leben mehr heimgesucht als es gelebtโ, heiรt es im Finale der kleinen Geschichte, in dem der Mann dem Leser auch noch suggerieren will, er hรคtte Kinder gemocht. Obwohl offensichtlich ist, dass das eine Ausrede ist. Dass er sich von anderen Menschen immer nur gestรถrt gefรผhlt hat. Und von chaotischen Kindern erst recht.
Das falsche Glรผck der falschen Freiheit
Und so begegnen einem lauter Einsame, die einerseits alle nicht wissen, was sie in diesem Leben eigentlich wollen. Andere hรคtten gesagt: sollen. Aber im Leben geht es nicht ums Sollen, sondern ums Wollen: Das eigene Leben leben wollen. Und zwar nicht nach den Maรstรคben anderer, auch nicht denen der amerikanischen Verfassung, die gleich in der Prรคambel verspricht, โdas allgemeine Wohl zu fรถrdern und das Glรผck der Freiheit uns selbst und unseren Nachkommen zu bewahrenโ.
Denn dummerweise kรถnnen die Protagonisten in Tems Geschichten mit dem โGlรผck der Freiheitโ gar nichts anfangen. Im Gegenteil: Das, was ihnen passiert, erzรคhlt davon, dass diese Freiheit kein Ziel hat. Man lebt zwar irgendwie sein Leben, versucht den Erwartungen einer Gesellschaft zu genรผgen, die vom Einzelnen Fleiร und Angepasstheit erwartet.
Aber tatsรคchlich sind sie allesamt nicht zu Hause in ihrer Welt. Sie leben als Gleichgรผltige in einem Land der Gleichgรผltigkeit. Und so gerรคt in โEin Aufenthalt an der Kรผsteโ ein gewisser Carson in einen seltsamen Zug, der seine Passagiere an einen noch viel seltsameren Hafenort bringt, an dem ein Schiff anlanden soll, das die Reisenden zu einer besonderen Reise mitnimmt โ doch das Beklemmende vor Ort ist schon der Anblick eines vรถllig abwesenden Ozeans, wรคhrend in der Herberge am Ort die Reisenden frรผherer Zรผge schon seit Jahren warten, dass das Schiff endlich kommt.
Eine Situation, die ganz offensichtlich dem Lebensgefรผhl vieler Menschen entspricht, die in ihrem Leben gestrandet sind in der Erwartung, irgendwann kommt ein Schiff und nimmt sie mit. Man fรผhlt es: Dahinter steckt etwas, was mit unserer (falschen) Vorstellung von Wohlstand, Glรผck und Freiheit zu tun hat.
Beziehungsweise mit der Perversion all dieser Dinge in unserer von Gier und Geiz dominierten Konsumgesellschaft, in der jeder so tun muss, als wรคre er glรผcklich. Denn wer nicht glรผcklich ist, ist ein Versager. Als wรผrde er in dieser von Missgunst, Neid und Verachtung geprรคgten Karrierewelt regelrecht strahlen von Glรผck.
Schรถne heile Welt
Obwohl er sich noch viel verlorener fรผhlt als die Helden in den Geschichten von Franz Kafka. Nur wagen die meisten gar nicht, sich einzugestehen, dass sie jeden Morgen als Kรคfer aufwachen und Angst haben, dass das einer merkt.
Wovon zum Beispiel die mehr als doppelbรถdige Geschichte โUnter den Lebendenโ handelt, in der man lange glauben darf, dass hier der erfolgreiche Bruder, dem es gelungen ist, das triste Elternhaus in der Provinz zu verlassen und in der Stadt einen erfรผllenden Job und eine liebende Frau gefunden zu haben, nur seinen geistig etwas zurรผckgebliebenen Bruder in dem mitten in der Einรถde liegenden Farmhaus besucht.
Eigentlich seine Mutter, aber die ist, wie er nach und nach erfรคhrt, schon des lรคngeren tot. Und liegt drauรen im Gelรคnde irgendwo โฆ
Mehr muss man gar nicht erzรคhlen, weil es noch viel schlimmer kommt. Samt einem vรถllig gleichgรผltigen Sheriff, dem eigentlich egal ist, ob die Leute verschwinden. Hauptsache, er hat keinen รrger in seinem Distrikt. Auch das ist eben kein Aspekt aus einem alten Western, sondern ein Aspekt unserer heutigen Wirklichkeit, wo โSicherheit und Ordnungโ fett รผber allem stehen, Nรคhe und Vertrauen aber nichts wert sind.
Die werden nicht mal mehr vorgespielt. Vorgespielt wird heile Welt und die wundersame Fรคhigkeit, die einen heutzutage zum Erfolgsmenschen macht: Sich alles kaufen zu kรถnnen, was man braucht. Am Ende auch noch ein ruhiges Hรผttchen in der Nobelgegend, wo man dann so tut, als kรถnnte man sich einen goldigen Lebensabend gรถnnen.
Hauptsache, man hat eine clevere Idee, wie man zu viel Geld kommt. So wie โDer Krankheitskรผnstlerโ. Die Trรคume, die die Bewohner dieser schรถnen neuen Welt haben, sind eigentlich nur noch Albtrรคume, so wie in der letzten Geschichte in dieser Auswahl, die Gerrit Wustmann ausgewรคhlt und รผbersetzt hat: โCity Fishingโ.
Hier fahren die Protagonisten tatsรคchlich voller Euphorie (und Verbissenheit) mitten hinein in den Abgrund der Stadt, dorthin, wo sich nach der Ankunft โdie dunklen, zerlumpten Gestalten dem Wagen nรคhernโ. Die Geister unseres Wohlstands. Die Gespenster, die in unseren schรถnen Werbesendungen von Glรผck und Erfolg keinen Platz haben.
Die Geister des Wohlstands
Geister, die aber alle im Kopf haben, weil sie sich vor ihnen fรผrchten. Und vor allem davor, selbst einmal dort zu landen. Man hรถrt ja รผberall das Sรคgen und Schaben, wie die Doktoren der entfesselten Marktwirtschaft immerfort an den Stรผtzen und Sicherheitsdecken unserer sozialen Systeme kratzen und sie immer dรผnner machen. Motto: Kรถnnen wir uns nicht leisten.
So macht man Menschen Angst. Und das sitzt mittlerweile tief. Die Groteske trifft sich in Tems Geschichten mit dem Horror. Und jede einzelne verfรผhrt anfangs durch die schรถne, nur zu vertraute Heimeligkeit eines billigen Wohlstands, um den aber dessen Bewohner zu Recht bangen, auch wenn sie sich nicht mal wagen, darรผber auch nur nachzudenken.
Denn wer nachdenkt, gerรคt aus dem Gleichgewicht, aus dem Takt โ und stรผrzt wahrscheinlich ab. Also machen sich alle etwas vor. Und halten es vor allem aus, dass sie eigentlich keine Nรคhe mehr erleben, keine wirklichen sozialen Kontakte mehr haben. Denn dafรผr gibt es in dieser Welt der โLeistungstrรคgerโ keinen Platz.
Das Ergebnis: Eine รถde Gegenwart ohne Vergangenheit und Zukunft. Denn wenn wir uns an Menschen binden, bekommen wir eine Vergangenheit. Das ist unser Leben. Das ist erst die Fรผlle, die uns das Gefรผhl gibt, dass es sich lohnt, am Leben zu sein.
Aber Tom bringt es in der Geschichte โApartment Bโ schon auf den Punkt, wenn er sich sagt: โMan sollte nicht in der Vergangenheit leben โ das sagen die Leute doch immer, nicht wahr? Jeder lebt in der Vergangenheit, und alle sind sich darรผber einig, wie ungesund das ist.โ
Leben ohne Vergangenheit
Und so wird verdrรคngt, vergessen, so getan, als gebe es immer nur das neu zu kaufende Glรผck des heutigen Tages. Obwohl man Glรผck genauso wenig kaufen kann wie Erinnerungen. So werden sie zu Eremiten in der Einรถde eines Lebens, in dem alles austauschbar ist, Vergangenheit auf dem Sperrmรผll entsorgt wird und ein neues leeres Leben in einem leeren Apartment beginnt.
Kann sein, dass man nach Lesen dieser Sammlung keine Lust mehr hat, die USA zu besuchen und sich diese Tragรถdie auch noch von Nahem anzuschauen. Die Geschichten erklรคren einiges davon, was dieses einst so verlockende Land so leer und wรผtend gemacht hat. Eine Wut, die aus einer tiefen Verlorenheit kommt, auch einer gewaltigen Verlassenheit. Absolute Freiheit ist eine Katastrophe. Sie bindet sich an nichts mehr. Und sie macht absolut einsam.
Im Grund erzรคhlen Tems Geschichten genau davon.
Selbst die kรผrzeste: โDer Immobilienmakler trifft einโ. Denn selbst was nach dem Auszug der Familie zurรผckbleibt, erzรคhlt noch vom traurigen Bemรผhen, den Schein einer heilen Welt herzustellen. Und ein Grundgefรผhl vor allen anderen zu verbergen, wie es Stephen King in einer Tem-Besprechung anspricht: das Gefรผhl des โungewollten Kindesโ. Aus dessen Perspektive gibt es keinen Trost in der Welt. Aber man muss sich dennoch anstrengen so zu tun, als wรคre alles in Ordnung.
Heillose Geschichten also. Aber am besten in kleinen Portionen zu konsumieren. Man wird sonst zu sehr betrรผbt.
Steve Rasnic Tem Das langsame Fallen von Staub an einem ruhigen Ort Literatur Quickie Verlag, Hamburg 2024, 22 Euro.
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