Eigentlich kommt das Wort Geschichte von Geschehen: Es geschieht etwas. Am Ende der Geschichte ist etwas anders geworden. Hat das Erzählte gezeigt, was uns als Menschen eigentlich reizt, anderen zuzuhören, wenn sie erzählen. Denn dann kommt das Leben in Bewegung. Was aber, wenn ein Leben in Veränderung gar nicht mehr vorstellbar ist? Wenn die Figuren in den Geschichten festhängen in einem ewigen Jetzt und auch nicht die Kraft haben, an ihrem Zustand des Ausharrens irgendetwas zu verändern? So wie in den Geschichten Michael Wiedorns.

Die manchmal auch Albträume sind, Grenzüberschreitungen aus einem als diffus erlebten Alltag hinein in unverhofft auftauchende Bilder und Szenen, die direkt aus den Filmen des Unterhaltungsjahrhunderts stammen. Denn wir träumen ja kaum noch unsere eigenen Träume. Wir träumen die grellen Filmszenen, die uns beim täglichen Streamen ins Hirn fluten. Ein Ersatzleben, das nichts ersetzt. Schon gar nicht den Mut zum eigenen Leben.

Aber den haben die Figuren in Michael Wiedorns „short stories“ nicht, die zwar short sind, aber keine Stories. Es passiert eigentlich nichts. Die „Helden“ der Texte schwimmen durch ihre Tage, hangeln sich von einer langweiligen Routine zur nächsten. Oft verbringen sie ganz Tage im Bett und beschäftigen sich seitenweise mit Reflexionen darüber, welches Bild sie eigentlich abgeben.

Auch das haben wir seltsamen Menschen der Gegenwart verinnerlicht: den permanenten Blick auf unseren eigenen Anblick, den veräußerten Blick, mit dem wir streng alles bewerten, was wir selbst sind. Oder vermeintlich sind. Denn das halten wir eigentlich längst nicht mehr aus. Wir haben verlernt, uns als die vergänglichen und unperfekten Wesen zu akzeptieren, die wir sind. Unser Blick ist der Blick von Unternehmen und Werbung: unerbittlich, besessen von makelloser Schönheit und Perfektion.

Die Angst vor den Anderen

Logisch, dass dem niemand genügen kann. In dem Text „Das Gericht der Krabben“ richtet sich der Blick des Ich-Erzählers unerbittlich auf seine eigene Hässlichkeit und Vergänglichkeit: „Statt ins Buch blicke ich auf unregelmäßige Formen und Flecken und Rinnen. Ich erschrecke. Wie krank und unreinlich ist meine Haut. Flecken, Venen, Abschürfungen. Wucherungen, die ich mit bloßem Auge nicht sehen kann …“

Es ist nicht der einzige Akteur in diesen Geschichten, der sich für nicht zumutbar hält. Der mit einem tief sitzenden Gefühl des Gekränktseins durch seine Tage schlurft, misstrauisch geradezu darauf lauernd, dass ihn jemand anschaut, gar grimmig und aggressiv betrachtet. Das Gekränktsein ist ja geradezu Symptom unserer Gegenwart, wie Jürgen Große in „Der gekränkte Mensch“ genau und feinsinnig analysiert hat.

Ein Gefühl, das jederzeit umkippen kann – in Aggression. Selbstaggression und Aggression gegen Andere, diese Fremden, Befremdenden da draußen. Bei Wiedorn passiert das mitten in der Geschichte: „Mein dürftiger Kinderkörper ist mir so verhasst wie einem Greis seine Gichtknoten und seine künstlichen Hüften. Der vergreiste Körper ist eine schwere Last aus Blei. Feuerrot is nur die Kapuze. Ein Messer würde mir Macht geben. …“

Aggression und Selbstverachtung

Es fällt schwer, mit diesen Figuren umzugehen. Sie wirken fremd und befremdlich. Und erschreckend vertraut, weil wir ihnen immer wieder im Alltag begegnen. Längst sind wir vorsichtig geworden, die Menschen um uns noch anzusprechen. Sie könnten sofort aus der Haut fahren, sich aus blassen Masken in aggressive Wütende verwandeln. Nicht nur in den Nachrichten, wo sich diese Aggressionen längst tagtäglich austoben, als hätte diese Gesellschaft kein anderes Thema mehr. Als wäre sie geradezu besessen von dieser unberechenbar aufbrechende Gewalt.

Die aber – das hat Wiedorn wohl richtig beobachtet – aufs engste verknüpft ist mit dieser Selbstverachtung, die die Menschen wie Geister herumlaufen lässt, voller Vorwürfe an alle möglichen anonymen Instanzen, die scheinbar in ihr Leben hineinpfuschen, ihnen Vorschriften machen, sie daran hindern, frei zu sein. Erniedrigte und Gekränkte allüberall.

Obwohl das Gefühl des Verletztseins eigentlich aus der Tiefe kommt, dem eigenen nicht gelebten Leben. Im Grunde wird das deutlich, wenn man eine Wiedorn-„Story“ nach der anderen liest und sich wundert darüber, dass darin praktisch nichts geschieht. Bestenfalls bei einigen wenigen Geschichten im negativen Sinn – als Ausbruch blutiger Gewalt.

Denn dazu, ihr eigenes Leben zu einem Geschehen zu machen, es in Bewegung zu setzen und das Dasein in der Welt als echte Chance zu sehen, etwas Spannendes draus zu machen, sind die Figuren in Wiedorns Texten ganz offensichtlich nicht in der Lage. Eher stecken sie in Zwängen und Abläufen fest, in denen sie einfach nur funktionieren. Und trotzdem hadern damit, dass sie ihre Lebenszeit in Büros absitzen. Oder in der Wohnung, aus der sie nur noch ungern hinausgehen auf die Straße.

Nicht nur aus Furcht, schief angesehen oder zurechtgewiesen zu werden. Auch aus dem Gefühl heraus, gar nicht mehr gesehen zu werden, einfach Luft zu sein für die anderen Menschen. So wie der Mann in „Man sieht durch Luft hindurch“, der ganz offensichtlich ein Lebensgefühl teilt, das heute so viele Menschen haben, die zwar kaum noch den Weg ins Helle und Freie finden, ihren Frust über das Nichtgehörtwerden und Nichtgesehenwerden auf hunderten Plattformen immer wütender hinausschreiben. IN FETTEN VERSALIEN.

Die Ungesehenen

Die Aggression hat natürlich Gründe. Sie hat auch damit zu tun, wer in unserer Gesellschaft tatsächlich noch wahrgenommen wird. Wie viel Klamauk betrieben wird, damit einige Menschen (als Kunstprodukt) im Rampenlicht glitzern. Während immer mehr Menschen in Einsamkeit versinken. Sich regelrecht verkapseln, nur damit niemand sie anspricht, anmacht, verunsichert. Dann doch lieber unsichtbar werden. „Alles ist egal. Der Fernseher läuft. Das Leben läuft und lebt nicht. Eine Endlosschleife. Stimmen. Unzählige kleine Geschichten. Ein Gewimmel von vorbeihuschenden Gesichtern.“

Nur wird das nicht mehr zur Handlung, zu einem Aufraffen und Hinausgehen, zu dem Wagnis, sich der Welt und den Anderen auszusetzen, ohne das keine Geschichte beginnt.

Weshalb Wiedorns kurze Texte eben eher Nicht-Geschichten sind. Texte über Menschen, die das Wagnis des eigenen Lebens nicht mehr eingehen mögen. Aus Angst, ertappt zu werden. Oder verletzt. Oder einfach gefordert, zu agieren, zu zeigen, wer sie sind. Aber wer sind sie eigentlich?

Das löst sich auf in einem wilden, diffusen Gedankenstrom, unterbrochen von manchmal aggressiven Einblendungen aus der modernen Unterhaltungsfabrik. All den Bildern, mit denen kraftprotzende Helden dort scheinbar alle Probleme lösen. All diese blutigen Rezepte, die heutige Männlichkeitskultur bedienen und Aggressivität als Lösung für alle Probleme regelrecht inszenieren.

Der Mensch in seiner Höhle

Aber solche Typen sind das nicht, die durch Wiedorns Texte wandeln. Eher kleine, blasse und schüchterne Typen. Kaum mutig genug, sich selbst auszuhalten in der beobachteten eigenen Hässlichkeit. Und damit wohl auch Unzumutbarkeit. Wie wird man sich den anderen Menschen zumuten können, wenn man sich selbst schon nicht aushalten kann. Das Ergebnis: Die anderen Menschen werden zu ungewollten Beobachtern der eigenen Schäbigkeit. Die meist namenlosen Figuren fühlen sich beobachtet. Wie verfolgte Tiere.

Es sind keine gemütlichen Geschichten. Die es ja auch sein könnten, selbst wenn nichts geschähe. Es sind ungemütliche Bilder einer Welt voller vereinsamter, gekränkter Gestalten, die meistens damit beschäftigt sind, das eigene Tun voller Häme und Kritik zu kommentieren. Die Anderen sind nur Fremde. Ihre Blicke werden – selbst an der Kantinentheke – gleichsam als beginnende Aggression interpretiert. Die Haut ist nicht nur blass, sondern dünn geworden.

Gleich unter der dünnen Schale der Gekränktheit lauert die Aggression, die Reaktion des in seiner Höhle in Bedrängnis gebrachten Tieres. Und nicht einmal der gut bezahlte Bankmanager ruht in sich, wenn er mit seiner Freundin über die Straße geht. Auch er ist gekränkt, betrachtet die Freundin nicht mal als lebendiges, wohltuendes Wesen: „Er hasst es, wenn jemand einen gewissen Sicherheitsabstand durchbricht. Sein Gegenüber mieft faulig aus dem Mund. Ihre Haut ist wächsern und tot wie seine eigene.“

Das Gegenüber ist seine Freundin. Oder das, was er dafür ausgibt. Denn wen, wenn nicht seine Freundin lässt man in seinen Sicherheitsabstand hinein, ganz nah heran? Da hat man ihn eigentlich in aller Simplizität: Im Business-Dress, steif, blass und voller Angst, jemand könnte ihm nahekommen. Was nicht nur körperlich gemeint sein kann, sondern auch seelisch. Es ist der gekränkte Gegenwartsmensch, für den der Schein das Wichtigste, das Aussehen-Wie. Nur ja keine Schwäche, keinen Kratzer, keine Unvollkommenheit zeigen.

Muss man da betonen, dass Geschichten erst beginnen können, wenn wir Unvollkommenheiten zulassen? Wenn etwas geschehen darf und die festgeeiste Illusion des Moments durchbrechen darf?

Die Furcht vor dem Leben

In Wiedorns Texten passiert das nur ganz selten. Und dann ist es entlarvend. Auch in dieser Geschichte, die dann auch den Titel für die gesamte Auswahl hergegeben hat. „Der Herr fürchtet berührt zu werden“, sagt die Frau, die er für seine Freundin hält und nicht an sich heranlässt. „Vielleicht zerbricht er bei einer zu starken Berührung.“

Was wohl das Lebensgefühl dieser Spezies Mann auf den Punkt bringen dürfte. Der Anzug ist ein Panzer. Die Beziehung nur eine Maskerade. Denn tatsächlich fürchtet er sich, ins Leben hinein gerissen zu werden. Lieber bleibt er draußen und auf Abstand. Auch als auf der anderen Straßenseite eine Gewalttat geschieht. Und da die „Freundin“ an seiner Seite sowieso seine Schutzhülle nicht durchdringen kann, taucht er in Traumbilder ab. Alles, was geschieht, passiert hinter seiner Stirn. „Der höhere Angestellte auf dem Mittelstreifen der Straße neben seiner Geliebten stehend, wäre jetzt gerne ein Hund. Er würde unauffällig auf die andere Straßenseite laufen können und würde von dem Blut auf dem Pflaster trinken.“

Nur: Er ist kein Hund. Er wird nie über die Straße laufen. Aber sich in seinen Fantasiebildern verlieren. Und also nicht da sein. Nicht hier. Nicht jetzt. Und schon gar nicht im wirklichen Gespräch mit seiner „Geliebten“.

Und man wird das Gefühl nicht los: Ja, so scheinen viele Menschen in dieser von Schein und Prestige besessenen Gesellschaft zu sein. Manche im Büroanzug, andere still und unscheinbar in den blassen Kleidern ihres Alters, nicht nur überzeugt davon, dass niemand sie sieht. Sondern auch davon, dass das Gesehenwerden gefährlich ist, beängstigend. Die beste Voraussetzung dafür, dass man ja nicht die Dummheit wagt, einen Schritt zu tun, um in eine wirkliche Geschichte zu geraten.

Denn genau davor hat diese Gesellschaft panische Angst. Das Gekränktsein ist der beste Ausdruck dieser Angst davor, gesehen, berührt und in Geschichten gerissen zu werden, bei denen man vorher natürlich nie weiß, wie sie ausgehen werden. Aber wer seine Höhle nie verlässt, erlebt nun einmal auch nichts. Schon gar nicht sein eigenes Leben.

Michael Wiedorn „Die Sonne entzündet die Erde“ Engelsdorfer Verlag, Leipzig 2025, 11,80 Euro.

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