Wie es sich anfรผhlt, in einer Welt der vรถlligen Rechtlosigkeit zu leben, das kann man schon bei Klassikern wie Dostojewski, Tschechow und Solschenizyn lesen. In eigentlich genau dieselbe Welt nimmt einen auch der georgische Autor Temur Babluani in diesem Roman mit. Es ist die Geschichte von Dschude, der als Sohn eines Flickschusters in Tbilissi aufwรคchst. Lรคngst hat der Kommunismus seinen Glanz eingebรผรt. Die Polizei ist korrupt und brutal. Banditen beherrschen den Alltag.
Eigentlich ist es auch ein Buch, das Leute lesen sollten, die in der Regel keine Bรผcher lesen und deswegen so leicht fรผr Propaganda zu haben sind, Diktaturen mit verklรคrten Augen sehen und immer glauben, es wรผrde sie nicht betreffen, wenn eine autoritรคre Regierung die Macht im Land รผbernimmt. Und viele Ostdeutsche pflegen noch heute ihre Illusionen รผber den Sozialismus und die Sowjetunion, aber auch รผber das heutige Russland, das in Vielem lรคngst wieder in der direkten Erbfolge von Zarenreich und Sowjetreich steht.
Eine extreme Armut auf der eine Seite steht einem ebenso extremen Reichtum auf der anderen gegenรผber. Ein Menschenleben gilt nicht viel.
Georgien in den 1970er Jahren
Das merkt auch Dschude schnell, als er in undurchschaubare Vorgรคnge von Ehre, Rache und Selbstjustiz gerรคt, in denen er nicht weiร, wer wirklich seine Freunde sind. Eigentlich denkt er, wissen im jรผdischen Viertel, in dem er aufwรคchst, alle, dass man sich gegenseitig helfen und decken muss gegen die Staatsgewalt, die unberechenbar und grausam zuschlagen kann. Oder die zutiefst korrupt ist. Was auf dasselbe hinauslรคuft.
Wer keine โBeziehungenโ hat oder nicht weiร, wer bestochen werden muss, sitzt immer am kรผrzeren Hรผgel. Oder steht auf einmal wie Dschude da, vรถllig รผberfordert von der Situation, mit zwei Pistolen in der Hand, mit denen eben gerade zwei Kleinkriminelle erschossen wurden. Doch um seine Freunde zu schรผtzen und nicht den Hass des Gangsterbosses auf sich zu ziehen, nimmt er die Strafe auf sich โ und landet im sowjetischen Lagersystem, in dem die Lagerleitungen genauso brutal und rรผcksichtslos sind wie die โDiebe im Gesetzโ. Wer die willkรผrlich langen Haftzeiten รผberleben will, passt sich an, fรผgt sich den brutalen Machtstrukturen โ und hat trotzdem keine Garantie, die Lagerzeit lebendig zu รผberstehen.
Und Dschude bekommt nicht nur die Strafe fรผr zwei Morde verpasst, die er nicht begangen hat. Sein Versuch, in der korrupten Lagerwelt zu รผberleben, endet mit einer Flucht und einem nรคchsten Mord, von dem er weiร, dass auch der ihm angehรคngt wird. Doch der Versuch, mit einem fremden Pass unterzutauchen, endet mit der nรคchsten Anklage und Verurteilung fรผr ein Gewaltverbrechen, das er nicht begangen hat.
Wo Menschenwรผrde nichts zรคhlt
Der grรถรte Teil von Dschudes Geschichte erzรคhlt von diesem verzweifelten Versuch in einem System zu รผberleben, in dem es keine fairen Anklagen gibt, Strafen noch immer so willkรผrlich und drakonisch sind wie zur Zarenzeit und ein Menschenleben nichts wert ist. Immer wieder ist es Glรผck, das Dschude รผberhaupt รผberlebt. Aufrecht hรคlt ihn nur die Erinnerung an seine Jugendliebe Manuschaka, zu der er eigentlich nach Verbรผรung seiner ersten Haftstrafe zurรผckkehren wollte.
Aus vier Jahren wird ein halbes Leben, das Dschude in sibirischen Lagern verbringt โ ein Spielball der Mรคchtigen. Imme wieder auf der Flucht, machtlos gegen die auf ihn lauernden Anklagen. Zu รผberleben hilft ihm am Ende immer wieder nur die Freundschaft von Mithรคftlingen, deren Achtung er sich erworben hat, oft durch einfache Gesten der Menschlichkeit, die scheinbar so gar keinen Platz haben im russischen Katorga-System, das so in unterschiedlicher Fรคrbung bis heute existiert. Ein System, das den Menschen vรถllig erniedrigt und ihn trotzdem immer wieder mit der Frage konfrontiert: Wie bewahrt man sich unter solchen Umstรคnden die Menschenwรผrde? Das bisschen Stolz, das einen durchhalten lรคsst und nicht aufgeben? Denn genau dafรผr war das System immer gedacht: Die Menschen, die hineingerieten, zu zermahlen, ihnen jede Lebensenergie, jeden Stolz und jede Selbstachtung zu nehmen. Da gleichen sich die Zwangssysteme aller Diktaturen, egal, in welchem Land sie installiert werden.
Aber es ist eben nicht nur eine Gulag-Geschichte. Sondern eine der Hoffnung. Nicht ganz grundlos steht im Buchtitel der Dreiklang โSonne, Mond und Kornfeldโ, auch wenn dieses Motiv erst auf den allerletzten Seiten greifbar wird. Aber das Bild steht fรผr die Kraft, die einem die Hoffnung gibt, dass wenigstens ein Mensch auf einen wartet, wenn man diese Hรถlle รผberlebt.
Ein Leben in Wรผrde
Und es hรคngt fรผr Dschude bis zuletzt am seidenen Faden. Denn seine letzte Flucht aus dem Lager endet eben auch nicht in der Heimat, sondern in einem Kloster, in dem psychisch kranke Menschen gepflegt werden. Dort erwacht er nach รผber zehn Jahren, die wie herausgeschnitten sind aus seiner Erinnerung. Denn nach der letzten Flucht, vor der ihm eine Wahrsagerin ein mรคrchenhaftes Leben in Aussicht gestellt hatte, muss er vรถllig zusammengebrochen sein. So, wie es sich die Mรคchtigen immer wรผnschen, wenn sie Menschen in das Mahlwerk einer gnadenlosen Justizmaschinerie schicken.
Und als er erwacht, landet er in einer Zeit, in der die als so unerbittlich und ewig erlebte Sowjetunion zusammengebrochen ist. Endlich tut sich tatsรคchlich der lang ersehnte Rรผckweg nach Tbilissi auf. Ist jetzt die Zeit der Abrechnung? Der beglichenen Rechnungen? Wenn es nach Dschude ginge, eigentlich nicht. Er will nur ein Leben in Wรผrde leben. Das Handwerk seines Vaters hat er nie verlernt. Und was Freundschaft ist, hat er auch nicht vergessen. Die Stadt ist ihm zwar fremd geworden, neue korrupte Seilschaften haben die Macht รผbernommen.
So einfach lรถsen sich alte Diktaturen nicht auf. Ihre Vorstellungen von Macht, Recht und Willkรผr stecken in den Kรถpfen. Und wenn dazu rรผcksichtslose Gewalt, Bestechung und Erpressung gehรถren, dann kehren sie immer wieder in neuen Formen zurรผck, so lange es keine wirklich starke Zivilgesellschaft gibt. Aber das sind Umstรคnde, mit denen Dschude eigentlich zurechtkommt. Ihm ist eigentlich nur eines wichtig: Manuschaka wiederzufinden und ein Leben zu leben, wie er es sich immer gewรผnscht hat.
Der lange Schatten der Autokratie
Dass die Geschichte dann trotzdem eine andere Wendung nimmt, hat auch mit seiner Vergangenheit zu tun. Auch wenn jetzt tatsรคchlich all das, was die Wahrsagerin ihm im Gefรคngnis prophezeite, eintritt. Das Mรคrchen scheint doch noch gut auszugehen. Und das tut es auch, auch wenn die Zeit der Verluste fรผr Dschude noch nicht zu Ende ist. Und auch nicht die Zeit der Flucht.
Denn es reicht nicht, ein Leben in Anstand und Respekt zu fรผhren. Nicht in einer Gesellschaft, in der das Denken in Macht- und Gewaltphantasien noch immer dominiert. Oder wie es Wikipedia formuliert: โGeorgien wurde bis zur Rosenrevolution seit 1992 von Prรคsident Schewardnadse regiert. Seine Regierung fรผhrte zwar demokratische Grundregeln im Lande ein, verรคnderte jedoch nicht die traditionelle Clanwirtschaft und Korruption. Kredite der Weltbank sowie im Rahmen von Entwicklungsprogrammen der US-Regierung und der Europรคischen Union gewรคhrte Investitionsmittel versickerten in der Schattenwirtschaft. Georgien blieb eines der รคrmsten Lรคnder der Welt. Die Prรคsidentenfamilie nutzte die herrschenden Strukturen zum persรถnlichen finanziellen Vorteil.โ
Da hatte Georgien noch lange Jahrzehnte der Demokratisierung vor sich. Denn Demokratie fรผhrt man nicht รผber Nacht ein. Sie muss hart erarbeitet werden โ und das in der Regel nicht nur gegen die alten korrupten Strukturen, sondern auch gegen das autokratische Denken in den Kรถpfen der Mรคnner. Denn es sind in der Regel Mรคnner, die autokratische Vorstellungen vom Regieren umsetzen. Mit Gewalt und Rรผcksichtslosigkeit. Gewalt korrumpiert nicht nur, sie schafft auch eine Stimmung der Angst, in der sich dann die Friedfertigen wegducken.
Worum es tatsรคchlich geht
Das Buch geht also auch unser armes Deutschland an, in dem die Rรผcksichtslosen wieder Trรคume von einer gnadenlosen Autokratie hegen und nichts anderes wollen, als den Zugriff auf die staatliche Macht.
Es ist โ so gesehen โ auch ein bedrรผckendes Buch, weil Babluani mit seinem einsamen Helden auch den nackten Menschen zeichnet, dem nur die Hoffnung bleibt, dass er ein brutales und unberechenbares System am Ende รผberleben kann. Eine Hoffnung, die durch seine Jugendliebe Manuschaka, die auf ihn wartet in einem Kornfeld, zum Bild wird.
Was nichts daran รคndert, dass ihm durch Willkรผr seine Jugend und ein Groรteil seines Lebens geraubt wurden. Er erfรคhrt, was fรผr jeden Bewohner einer Autokratie zum Lebensproblem wird: Sie lรคsst die Menschen nicht in Ruhe, greift immer in ihr Leben ein, schafft permanente Rรคume der Verunsicherung, der Erpressung und der Angst. Zu Manuschakas Enkeltochter sagt Dschude am Ende, als er ein letztes Mal eine Flucht planen muss: โIch weiร, aber wenn wir ein normales Leben fรผhren wollen, haben wir einfach keine andere Wahl.โ
Das frappiert an diesem Helden, der gar keiner sein will: Wie nรผchtern und rational er auf die Umstรคnde blickt, die nicht nur ihm verwehren, ein โnormales Lebenโ in Frieden zu leben.
Und so erzรคhlt Babluani eben so nebenbei auch beispielhaft das Leben eines Menschen, dem am Ende nur die Flucht in ein anderes Land bleibt, um den simplen Traum von einem normalen Leben leben zu kรถnnen. Ein Schicksal, das Millionen Menschen teilen, die eben nicht nur aus Kriegen und Bรผrgerkriegen flรผchten, sondern auch aus Autokratien, die Menschen zu Marionetten und rechtlosen Subjekten machen, die sich jede Willkรผr gefallen lassen mรผssen.
Genau deshalb fiebert man mit diesem Dschude mit, Jahr um Jahr seiner elend langen Reise, in der ihn einzig das Bild von Manuschaka durchhalten lรคsst. Das โnormale Lebenโ ist eben nicht das Allerweltsleben: Es ist das Leben unserer Trรคume und Vorstellungen von allem, was fรผr uns wirklich wichtig ist im Leben. Und in der Regel sind das Menschen, von denen wir wissen, dass sie auf uns warten. Egal, wo wir sind und wie weit der Weg ist, bis wir endlich da sind und sagen kรถnnen: โIch binโs.โ
Temur Babluani โSonne, Mond und Kornfeldโ, Voland & Quist, Berlin und Dresden 2023, 28 Euro
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