Manche erleben eine ganz besondere Kindheit. So wie Dorothee Riese, die am Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östliche Europas (GWZO) in Leipzig arbeitet. Ihr Buch „Wir sind hier für die Stille“ endet damit, dass die Erzählerin einfach frustriert ihre Sachen packt und per Anhalter aufbricht in eine ungewisse Zukunft. Erst einmal Richtung Karpaten. Vom Mobbing an ihrem Internat hat sie die Nase voll.

Und aus dem Leben in dem kleinen rumänischen Dorf Sarmizegetusa, dem seine einstigen sächsischen Bewohner den Namen Waldlichen gegeben hatten, ist sie herausgewachsen. Ein Dorf, in dem Judith so unfreiwillig landete, wie es Kindern nun einmal geht, wenn Eltern beschließen, ihren Lebensmittelpunkt einfach zu verlegen. Wer fragt da die Kinder?

Nur dass Judiths Eltern ihre Zelte in Deutschland einfach abbrechen wollten und ein Leben jenseits all der Zwänge zum Arbeiten und Geldverdienen führen wollten, ein richtiges Aussteigerleben eben in einem der leeren Häuser in dem kleinen rumänischen Dorf, aus dem dessen Bewohner längst in die andere Richtung gezogen sind, so wie die meisten Siebenbürger Sachsen.

Wer gehört dazu?

Mit Judith sieht man diese neue Welt aus Kinderaugen. Eine Welt, in der auf einmal die alte Lizitanti eine Rolle spielt, das Mädchen Irina, das mit seiner Familie abseits vom Dorf in einer Bruchbude lebt, aber auch allerlei Tiere wie der Hahn, den Lizitanti eigentlich schlachten wollte.

Ziemlich schnell lernt Judith die Sprache im Dorf, merkt aber auch bald, wie hier die ethnischen Grenzen als Risse und Vorurteile durch die kleine Dorfgemeinschaft laufen und die deutsche Familie auf einmal in die Rolle der Wohltäter rückt, obwohl sie eigentlich nur über ein paar Mieteinnahmen und das Kindergeld für Judith verfügt.

Aber Rumänien Anfang der 1990er Jahre ist ein armes Land, in dem die Folgen der langjährigen Diktatur noch überall spürbar sind. Auch in den vernachlässigten Dörfern wie diesem, in dem Judiths Eltern ihren Traum vom Aussteigerleben verwirklichen. Ein Leben, das durchaus seine Reize hat. Und das dennoch in krassem Widerspruch zum tatsächlichen armen Leben der anderen Dorfbewohner steht, die mit dem Ende des alten Rumäniens auch ihre Anstellungen und Einkommen verloren haben.

Spätestens, als Judith auf die weiterführende Schule in der Stadt gehen soll und dort im Internat untergebracht wird, wird klar, dass sie gegenüber ihren Altersgefährten trotz allem privilegiert ist. Und das lassen sie Judith auch spüren, erst recht, als klar wird, wie zielstrebig sie lernt und dass ihr das Lernen leicht fällt.

Es sind auf einmal Probleme, die einem auch aus hiesigen Gefilden nur zu vertraut sind. Probleme des Fremdseins und des Dazugehörens, die sich in der bayerischen oder sächsischen Provinz genauso austoben können wie im hippen Berlin oder eben im abgeschiedenen Transsylvanien. Menschen vergleichen sich. Das prägt seit Jahrzehnten das Verhältnis auch des Ostens zum Westen.

Die Nichtprivilegierten vergleichen sich mit den Privilegierten, die nicht einmal wissen, dass sie über einen Berg von Privilegien verfügen. Auch Judiths Eltern merken bald, dass ihnen das Schicksal der anderen Dorfbewohner nicht egal sein kann, spätestens, als die Frauen des Dorfes allesamt vor ihrem Hoftor stehen.

Der Traum vom Westen

Und sie merken aber auch, dass sie die ethnischen Schranken nicht ignorieren können. Auch Waldlichten ist kein Paradies. Auch hier bestimmt das Geld, ob die Menschen etwas zu essen haben oder hungern müssen. Und gleichzeitig lernt Judith, dass die Menschen trotzdem hilfsbereit und offen sind. Und ihr Schicksal zu nehmen wissen. Denn anders als die Siebenbürger Sachsen können sie nicht so einfach ihre Sachen packen und ins reiche Deutschland umziehen, auch wenn selbst Irinas Mutter davon immer wieder spricht.

Das ist die Kehrseite der Stille, die im Dorf auch mit den verlassenen Hütten der Abgereisten zu erleben ist. Und natürlich durch die Abschottung der Reichen von den Armen. Wohin gehört da eigentlich diese kleine deutsche Aussteigerfamilie? Irgendwie doch eher zu Costache, der den Landwirtschaftsbetrieb übernommen hat, und dessen puppenhafter Tochter Blanca?

Doch wirkliche Freundschaft hat Judith nur mit dem Hütejungen Georg und der Romni Irina. Mit der sie selbst in Stressmomenten ruppig umgeht. Die Vorurteile, die sogar in so einer kleinen Gemeinschaft existieren, hinterlassen ihre Spuren. Zu wem will man denn gehören? Wo sind die eigenen emotionalen Grenzen?

Und so gibt Dorothee Riese ihren Leserinnen und Lesern auch gleich mit einem Zitat zum Start einen Wink. „Was siehst du, ‘wenn du mich anschaust’?“, zitiert sie Charles Smith aus „Identität“.

Und auch wenn es Judith eher beiläufig thematisiert, merkt man, wie es trotzdem passiert, wie auch diese kleine transsylvanische Dorfwelt ihre Identitäten prägt und Kinder in Rollen hineinwachsen, die Erwachsene vorgeben. Und wie starr dieses Denken in Identitäten ist, selbst in einer Umbruchzeit, in der eigentlich alle aufeinander angewiesen sind.

Doch unsere Welt ist ganz offensichtlich so, dass viele Menschen nicht nur klare und eindeutige Rangunterschiede brauchen, eine saubere Sortierung zwischen Oben und Unten, sondern auch stabile und kaum aufzuweichende Bilder von Abwertungen und Ausgrenzungen.

Du gehörst nicht dazu

Und mit diesen Grenzen kollidiert auch Judith und macht sich im Verlauf ihrer Geschichte immer mehr Gedanken darüber, woher das kommt und welche Rolle z.B. der junge Pope und die strenge Aufseherin in der Schule spielen, die alten Vorurteile und Unterschiede immer neu zu konstruieren und den Kindern klarzumachen, welche Regeln für das Dazugehören gelten.

Was übrigens auch weit über das Identitäts-Denken hinausgeht. Denn Judith erlebt es eben auch in der Schule, wenn sie nicht mit den anderen Mädchen „zum Knutschtreff auf dem Zinngießerturm“ geht, sondern „mit einem Bücherstapel im Rucksack in die Schule“.

Kinder können sehr rücksichtslos sein, wenn jemand sich nicht in die Clique fügt, sondern sein eigenes Ding macht. Aber im Grunde ist das auch der Punkt, an dem für Judith die Kindheit zu Ende geht, wo sie selbst das erste Mal entscheidet, was sie will und was sie nicht mehr will. Und sie war es ja nicht, die „wegen der Stille“ nach Transsylvanien ging.

Sie fährt am Ende ganz unübersehbar in ein anderes Leben. Aber ihre Kindheit in Sarmizegetusa wird ihr bleiben – als Erinnerung an ein Aufwachsen in einer Welt, die so fremd eigentlich nicht ist, wenn man erst einmal Sprache und Regeln kennt. Und vielleicht bleibt ihr auch die Freundschaft mit Irina, der sie bis zuletzt Briefe schreibt.

Denn manchmal sind es eben die Außenseiter, die sich finden, weil sie, egal wie sie sich bemühen, nie zur Gruppe gehören können. Weil immer ein „Du gehörst nicht dazu“ im Raum hängt. Selbst bei Leuten, die glauben, sie wären tolerant.

Grenzen und Vorurteile

In gewisser Weise könnte so eine Geschichte auch hier bei uns passieren. Und passiert garantiert auch. Und sorgt dafür, dass Kinder früh schon lernen, wie sehr sich Gesellschaften an Grenzen und Vorurteilen festhalten, die eigentlich keinen Sinn ergeben. Die aber Kindern früh schon das Gefühl geben, dass sie in dieses Bild eigentlich nicht passen. Das begründet dann Lebensentscheidungen und Selbstsichten.

Und Geschichten, die eben davon ihren Glanz bekommen, dass sie diese Fremdheit so intensiv beschreiben, wie es Dorothee Riese hier tut. Aus der Sicht eines Kindes, das mit wacher Neugier beschreibt, was es erlebt und sieht und denkt. Und sich gar nicht fremd fühlt dabei, so wie es vielen Kindern geht, die Dinge für normal halten, bei denen Erwachsene schon automatisch auf Abstand gehen und die Welt rastern und einteilen.

Wer gehört dazu? Wer bleibt draußen?

Was nicht bedeutet, dass man sich an so eine Kindheit nicht mit Farbe und Liebe erinnern kann. Denn eigentlich sind die Raster der Erwachsenen egal, solange man das Abenteuer Kindheit erlebt. Nur später kommt man um die Entscheidung nicht herum, was für ein Mensch man werden will. Einer mit Rastern im Kopf. Oder einer mit lebenslanger Neugier auf die eigentlich nur scheinbar so fremde Welt.

Dorothee Riese „Wir sind hier für die Stille“ Berlin Verlag, Berlin 2024, 22 Euro.

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