Arme Menschen sind dumm, faul, können nicht mit Geld umgehen oder drücken sich vor der Arbeit – das sind Klischees, die Menschen aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit zur Arbeiter- oder Armutsklasse zugeschrieben werden. Also: klassistische Klischees. Dass es auch für Klasse einen „Ismus“ gibt, findet immer weitere Verbreitung in woken linken Social Media Bubbles oder sozialen Bewegungen.

Marlen Hobracks 100 Seiten beim Reclam Verlag zum Thema versuchen einen differenzierten Blick auf das Thema zu werfen. Mit dem Fazit: Es geht nicht um Privilegien oder Moral, sondern darum, die Verhältnisse zu ändern.

Dabei ist Klasse nicht nur eine neben race, Geschlecht oder Sexualität gleichwertige Schubladisierung und Diskriminierung, sondern eine Kategorie, die alle anderen durchzieht, überdeterminiert.

Bekannt geworden ist Hobrack mit ihrem Buch „Klassenbeste“, in der sie das Stereotyp des männlichen weißen Arbeiters aufbricht und (weiße) Frauen in der Arbeiterklasse in den Blick nimmt. Auch in diesem Roman spielen Klischees über Arbeitslose, akademischen Mittelstand, Reiche eine zentrale Rolle.

Über die verschiedenen Sichtweisen, die Hobrack in „Klassismus“ wählt, spricht Hobrack in einem Interview im nächsten Epaper der LZ und auf LZ Television.

Was ist überhaupt Klasse?

Klassismus ist für Hobrack erstmal ein Mittel zum Zweck: Es dient der Zuschreibung bestimmter Eigenschaften zu Menschen einer Klasse, um sie daran abzuwerten und dadurch ihre schlechte Behandlung, sowohl auf institutioneller als auch persönlicher Ebene, zu rechtfertigen. Sie ist notwendig, um das System Kapitalismus am Laufen zu halten.

Doch was ist überhaupt Klasse? Riccardo Altieris Unterscheidung zwischen Armutsklasse, Arbeitsklasse, Mittelklasse und Reichtumsklasse ist Hobrack zu oberflächlich. Schließlich seien in Deutschland die Klassen deutlich ausdifferenzierter. „Welcher Klasse würde Beispielsweise ein selbständiger Handwerker angehören?“, fragt Hobrack.

So führt sie neben Karl Marx auch Pierre Bourdieu ins Feld. Beide Theoretiker stellten die Frage, wie Klassenzugehörigkeit und -bewusstsein entstehen, ins Zentrum ihrer Überlegungen. Während Marx sie vor allem an ökonomischen Kriterien festmachte, entwickelte Bourdieu deutlich ausführlicher den Begriff des „Habitus“. Dieser stellt kultur- und wertebasierte Aspekte ins Zentrum: Was wird gegessen? Wie zieht man sich an? Geht man gern in die Oper oder ins Theater? Das sind die Fragen, über die hier Klassenbewusstsein hergestellt werden soll.

Dabei stützt sich Hobrack auf eine solide Kapitalismuskritik. Armut ist kein individuelles Versagen, sondern systemisch gewollt. Die Abwertung von Hartz IV/Bürgergeld-Empfänger*innen dient der Versicherung der eigenen „guten“ Lage und befördert Konkurrenzkampf. Die Spaltung innerhalb von Klassen, zum Beispiel aufgrund von Rassismus oder Sexismus (siehe bell hooks „Die Bedeutung von Klasse“), aber auch zwischen den Klassen, führt zu Abgrenzung und Entsolidarisierung und so zu einer Stabilisierung des Kapitalismus.

Klassismus, aber anders

Wie der Klassismus gesellschaftlich immer wieder konstruiert wird und welche Auswirkungen er hat, erläutert Hobrack aber nicht nur anhand von Theorien, sondern auch durch viele persönliche Erfahrungen. Auch der obligatorische Bezug auf Popkultur (diesmal die britischen TV-Shows „Country House Rescue“ und „Obsessive Compulsive Cleaners“, die für Hobrack zum einen den Habitus bestimmter Klassen besonders schön darstellen, ihn aber auch direkt wieder unterlaufen) darf natürlich nicht fehlen.

Themen wie Arbeit an sich, Sorge-Arbeit und auch die „feministische Blindheit für Klassenfragen“ nimmt Hobrack genauer unter die Lupe. Genauso wie eine Dämonisierung und Abwertung passiert, droht nämlich im Gegenzug auch eine Idealisierung von Personen aus der Arbeiter- und Armutsklasse, die ebenso entmenschlichend ist. Auch ein Blick auf aktuelle Themen, wie die Rolle verschiedener Klassen im Rechtsruck, schneidet Hobrack an.

Der Fokus auf kulturelle Aspekte mag den einen oder anderen Abschrecken, erinnert er doch an jene Politik, die beim Beschreiben und Sichtbarmachen der eigenen Lebensverhältnisse aufhört – ein enorm wichtiger Beitrag, der allerdings nicht in neoliberale Tendenzen der Repräsentation abrutschen darf, die sich damit zufriedengibt, marginalisiertere Menschen in die Chefetagen zu heben, anstatt die Chefetagen an sich abzuschaffen.

Dabei möchte Hobrack gern weitergehen. Privilegiencheck verändert erst einmal gar nichts. Politische Podiumsdiskussionen dürfen nicht in Gruppentherapie enden. Organisiert euch und verändert die Verhältnisse: So lautet das Fazit des Buches.

Marlen Hobrack „Klassismus. 100 Seiten“ Reclam Verlag, Ditzingen 2024, 12 Euro.

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