Der Kriminalroman lebt auch deshalb, weil er die großen moralischen Fragen stellt zu einer Gesellschaft, in der es sich immer wieder lohnt, die Regeln zu übertreten. Und wenigstens im Krimi klappt es dann, dass Kriminalkommissarinnen und Kommissare in aufopferungsvoller Arbeit die wirklichen Ganoven am Ende dingfest machen. Leute, die meinen, dass die Regeln der Gesellschaft für sie nicht gelten.

Und davon gibt es jede Menge. Wir sind weit davon entfernt, in einer Gesellschaft zu leben, in der es mit rechten Dingen zugeht. Krumme Geschäfte, Ausbeutung von Menschen, die sich nicht wehren können, Diebstahl, Korruption … all das läuft immer mit, wenn die meisten Menschen versuchen, ihr Leben anständig und gesetzestreu zu gestalten.

Die größten Ganoven laufen in Nadelstreifen herum, bewohnen protzige Villen, fahren fette Autos und begegnen auch Staatsdienern wie der Kriminalhauptkommissarin Karen Goldtotter mit Herablassung und der Kaltschnäuzigkeit von Leuten, die sich sicher sind, dass ihnen niemand etwas kann.

Karen Goldtotter ist gerade zur Chefin der Leipziger Mordkommission aufgestiegen, nachdem ihr einstiger Vorgesetzter in den Ruhestand gegangen war. Nun muss sie sich beweisen. Und ihr erster schwerer Fall kommt schneller als gedacht: Am Ufer der Elsterflutbetts wird die Leiche eines Mannes gefunden. Wer es ist, kann die Mordkommission schnell ermitteln.

Ein armes Würstchen, wie es sie in Leipzig so viele gibt, vom Leben gebeutelt, aus der Bahn geworfen, auf der Suche nach einer neuen Chance im Leben. In einer Welt, in der gerade die Gebeutelten und Geplagten ganz offen und von oben herab verachtet werden.

Gesellschaft unter Druck

Nur wird der Fall scheinbar immer aussichtsloser. Da zieht Ethel Scheffler alle Register des Kriminalromans, der die Ermittler tagelang im Dunkeln tappen lässt, ohne dass eine heiße Spur auftaucht, ohne einen Ansatzpunkt, der zu möglichen Motiven oder gar dem Täter führt. Was in diesem Fall mehrfach verzwickt ist.

Denn dass die Ermittler es tatsächlich mit einem smarten Täter zu tun haben, der auch ganz genau weiß, wie die Polizei ermittelt, und der seine Spuren bestens zu verwischen weiß, wird am Ende klar, wenn sich die Ereignisse geradezu überstürzen.

Überstürzen müssen, wie man merkt, denn nicht nur scheinen alle Kollegen in der Leipziger Kripo gewettet zu haben, ob Goldtotter ihren ersten Fall überhaupt gelöst bekommt. Auch ihr Vorgesetzter macht Druck und droht, den Fall ans LKA abgeben zu wollen. Es kommt also auch ein schönes Stück deutscher Arbeitswirklichkeit ins Spiel, wie es auch viele Menschen im öffentlichen und im nichtöffentlichen Dienst erleben. Chefs, die glauben, Druck und Niedermache würden schnellere Arbeitsergebnisse bringen.

Kein Wunder, dass Karten Goldtotter unter Magengeschwüren leidet, was nicht nur damit zu tun hat, dass sie in den Tagen der Ermittlung nicht zu einem normalen Essensrhythmus kommt. Wären da nicht ihre Schwester und ihr Schwager, mit denen sie zusammen im Haus der Eltern lebt, sie würde Tag für Tag hungrig ins Bett gehen.

Ein aufmerksamer Hausmeister

Wobei ihr Schwager Jörg, der seinen Lebensunterhalt als Hausmeister verdient, in dieser Geschichte auch noch mehrfach eine helfende Rolle spielt. Denn für die Arbeit seiner Schwägerin interessiert er sich genauso und wird selbst zum Detektiv, als sich die Ermittlungen hinzuziehen und dann gar noch eine zweite Leiche gefunden wird. Zwei Fälle, ein Täter? Aber was für einer? Ein Sadist? Ein Psychopath?

Und wo ist der Tatort? Dass es am Ende sogar drei Fälle werden, die gelöst werden, hat auch mit Jörgs Neugier zu tun. Und auch mit einem Moment der Ratlosigkeit, den Karen Goldtotter und ihr neuer Kollege Dirk aus Hamburg vor dem Clipchart verbringen, auf dem sie ihre Arbeitsergebnisse gesammelt haben. Ein Moment, der ihnen klarmacht, dass es in der ganzen Geschichte um Moral und Gerechtigkeit geht.

Oder eben das, was draus wird, wenn ein Mensch, der eigentlich im Dienst der Gerechtigkeit stehen sollte, sich selbst zum Richter aufwirft.

Dass es ausgerechnet eine sowieso schon unangenehm aufgefallene Figur ist, die sich hier auf einmal von einer völlig unerwarteten Seite zeigt, sorgt natürlich für eine gewisse Spannung, ob der Kerl denn überhaupt dingfest gemacht werden kann. Aber eigentlich taucht dahinter die viel größere Frage auf: Ist unsere Gesellschaft nicht eigentlich deshalb so kaputt, weil sich immer mehr Leute zu Richtern aufwerfen und glauben, sie hätten das Recht, andere Menschen zu erniedrigen und zu verurteilen?

Keine ganz abwegige Frage.

Recht und Gerechtigkeit

Ihre Kommissarin jedenfalls lässt Ethel Scheffler beim Verhör des Verdächtigen zu ganz großer Form auflaufen und ihm seine moralische Anmaßung regelrecht um die Ohren hauen. Da kann nicht einmal der Anwalt des Verdächtigen einschreiten und seinen Mandanten zum Schweigen drängen. Denn der hat das wohl schon lange begriffen.

Nur ist die Kriminalhauptkommissarin nicht seine Richterin. Sie sagt ihm nur die Wahrheit ins Gesicht. So wie sie sich aus den Indizien und Beweisstücken (die gerade noch im letzten Moment alle gefunden werden) zusammensetzt.

Aber genau so funktionieren ja Kriminalerzählungen: Man erfährt, warum Menschen so gehandelt haben. Anders als im richtigen Leben und eben (leider) auch oft in Gerichtsverhandlungen nicht, wo Rechtsanwälte natürlich darum kämpfen, für ihre Mandanten möglichst geringe Strafen zu erreichen. Und das oft mit allen Mitteln. Auch das eigentlich ein moralischer Zwiespalt, der in diesem Fall der Geschichte zugrunde liegt, die Ethel Scheffler erzählt.

Da und dort erkennt man ein paar Leipziger Ecken wieder und die ein oder andere Nachricht aus der jüngeren Geschichte. Nachrichten, die auch die Stadtgesellschaft bewegt haben.

Wenn das Leben aus den Fugen gerät

Aber es ist nun einmal dieser tief sitzende Wunsch nach Gerechtigkeit, der Autoren und Autorinnen dazu treibt, Kriminalromane zu schreiben. Meist stecken sie selbst irgendwie mitten drin in der Geschichte, lassen ihre eigenen Erfahrungen aus Leben und Berufsalltag mit einfließen. Und auch ihr vieles Nachdenken darüber, wie gerecht oder unbarmherzig es zugeht in unserer Gesellschaft.

Und wie es eben – wie auch in diesen beiden von Karen Goldtotter bearbeiteten Fällen – auch die scheinbar so Erfolgsgewohnten und Smarten treffen kann – genau da, wo es um ihre eigentlichen Träume und Lebenswünsche geht. Die sie vorwiegend eben auch haben, auch wenn sie öffentlich so tun, als würden sie die Sorgen und Freuden der normalen Leute nicht die Bohne interessieren.

Und wenn es dann passiert, dann kann es auch die Smarten völlig aus der Bahn werfen und in Spiralen treiben, die am Ende tödlich sind. Nur dass die Smarten wahrscheinlich keine Kriminalromane lesen, sonst würden sie sich ja mit ihren eigenen Abgründen beschäftigen müssen. Den Fallen der eigenen Psyche, wenn das so schön geplante Leben auf einmal aus allen Fugen gerät.

Eigentlich etwas, was auch Ethel Schefflers Ermittlerin durchgemacht hat, denn auch sie hat vor einiger Zeit die Liebe ihres Lebens verloren. Daran kann man zerbrechen. Daran kann man verzweifeln. Oder trotzdem weitermachen und sein Verständnis für die Verletzlichkeit des Menschen bewahren. Trotz alledem, trotz aller polternden Chefs und missgünstiger Kollegen.

Denn darin ähneln sich dann wohl Kriminalautorinnen und gute Ermittler/-innen: dass es ihnen immer um das allzu Menschliche geht, um das man sich sorgen sollte. Und sich nicht vom Hass zerfressen lassen. Und schon gar nicht von Wut und Rachegelüsten.

Ethel Scheffler „Gestohlenes Leben“ Ruhrkrimi-Verkag, Mühlheim an derf Ruhr 2023, 17,95 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar