Der große Meister des True Crime in Leipzig war bislang Henner Kotte. Aber sein Leipziger Autorenkollege Frank Kreisler kann das auch. Er setzt nur seine Schwerpunkte im ersten True-Crime-Band etwas anders. Auch wenn es so aussieht, als stünde auch bei ihm das unerklärliche Verbrechen im Mittelpunkt. Aber in Wirklichkeit ist es das Leipzig der frühen 1990er Jahre. Mit all seinen Schatten und Finsternissen. Wie schlecht es Leipzig damals ging, verraten die alten Polizeimeldungen und Gerichtsakten.

13 Fälle aus den frühen 1990er Jahren hat Frank Kreisler hier zusammengetragen. Einige haben seinerzeit auch für Aufsehen in der Presse gesorgt. Freilich in völlig anderer Gewichtung. Denn die Medien, die Leipzig damals hatte, interessierten sich ziemlich wenig für die ökonomischen, sozialen und psychologischen Hintergründe der Fälle. Bei manchen Medien hat sich das bis heute nicht geändert. Da tauchen die Täter noch immer als Monster und Bestien auf. Regelrecht entmenscht. Als fielen Menschen in dem Moment, in dem sie ein Verbrechen verüben, aus allen menschlichen Rastern.Würden Kriminalpolizisten, Staatsanwälte und Richter genauso denken, würden sie keinen einzigen Fall lösen. Denn Verbrechen lassen sich nur entwirren, wenn man weiß, warum jemand so gehandelt hat. Das ist das Motiv. Oder der Auslöser. Denn wenn Situationen eskalieren, aus denen die Beteiligten von selbst keinen Ausweg finden, dann geht es nicht um Motive, sondern um Auslöser.

Oder um diesen berühmten letzten Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Oder eben Menschen in ihrer empfundenen Sackgasse so verzweifelt und letztlich grausam handeln lässt, wie es in den meisten dieser Fälle passiert ist.

Ausgeknockt

Und es gab damals in Leipzig viele Menschen, die sowieso schon am Rand ihrer psychischen Stabilität lebten – zehntausende hatten ihre Arbeit verloren, die Industrie in der Stadt wurde abgewickelt, Berufsqualifikationen zählten nicht mehr und neue Jobangebote gab es entweder gar nicht oder zu Bedingungen, die jeden menschlichen Stolz infrage stellten.

Und wer vor 1989 schon nicht zurechtkam im straff durchkontrollierten System der DDR, der hatte es danach nicht die Bohne leichter. So Mancher setzte da seine kriminelle Karriere aus Vor„wende“zeiten fort, mancher schlitterte aber auch erst recht hinein.

Denn was für Arbeitnehmer in Westdeutschland auch danach noch viele Jahre der Normalfall blieb, war für die meisten Arbeiter und Angestellten in der DDR mit einem Schlag zu Ende: die Arbeit im erlernten Beruf in einem Betrieb, in dem man eigentlich bis zur Rente hätte arbeiten können.

Und die meisten hatten nicht gelernt, ihr Leben am Schopf zu packen. Das mussten fast alle erst lernen. Und die Wagemutigsten lasen die Stellenanzeigen in westdeutschen Zeitungen, packten die Koffer und zogen weg. Pech für die Dagebliebenen. Da gingen Freundschaften und Partnerschaften in die Brüche – oder endeten – wie in einem Fall aus Gohlis – tragisch.

Die Psyche einer angeschlagenen Gesellschaft

Der Kriminalroman ist nicht ohne Grund die Leitprosa der modernen Gesellschaft. Nirgendwo sonst werden die wirklichen Probleme einer von Geld, Karriere und Status beherrschten Gesellschaft derart gründlich untersucht – mitsamt ihren Folgen. Gute Krimi-Autoren wissen, dass die Verbrechen in einer Gesellschaft immer der Spiegel ihrer uneingestandenen Tabus sind.

Und die Flut der Verbrechen in diesen frühen 1990er Jahren erzählt davon, dass diese Transformation nicht so glimpflich und menschenfreundlich abgelaufen ist, wie uns westdeutsche Geschichtsdeuter gern zu erzählen versuchen.

Und das liegt nicht nur an vorbelasteten Polizisten, die damals aus guten Gründen aus dem Polizeidienst flogen und dann in obskuren Detekteien und anderen Unternehmungen versuchten, sich eine goldene Nase zu verdienen. Wobei so mancher echte Ganove lächeln wird über die Summen, um die es hier ging und für die die Auftraggeber jahrelange Gefängnisstrafen riskierten.

Nichts scheint wirklich angemessen zu sein. Für ein paar Mark für Büchsenbier wird eine alte Frau in Schönefeld ermordet. Die Träume vom versteckten Schatz platzen schon am Tatort. Aber das Prahlen können die Täter hinterher nicht lassen.

Die Titelgeschichte handelt von einem Sträfling, der aus dem Hafturlaub nicht zurückgekehrt ist und sich über Jahre von seiner Freundin aushalten lässt und ihr Erspartes verprasst. Am Ende, als sie sich trennt von ihm und ihr Geld zurückfordert, bringt er sie um. Und nicht nur Ermittler stehen ratlos da, wie so ein Leben so völlig entgleiten kann, auch wenn die Tat ihrer eingebauten Logik folgt. Für die Ermittler ist das in der Regel der Weg zum Erfolg in der Aufklärung: Das ganz menschliche Verbrechen hat seine Logik.

Die Logik des Verbrechens

Auch wenn diese – wie in „Ein Mörder steht allein im Wald“ – vor Gericht zu kippen droht, weil der Täter hier auf einmal versucht, Andere mit hineinzuziehen in sein Verbrechen. Ein Fall, in dem so einige Gerichtsfälle der Gegenwart schon durchschimmern mitsamt ihren Anwälten, denen kein Gutachten und kein Argument abseitig genug ist, um damit die Verhandlung zu verschleppen und für den Angeklagten doch noch eine Wende im Prozess einzuleiten.

Aber auch hier merkt man, dass es um allzu Menschliches geht – das Entgleisen einer Situation, bei der am Ende einer tot ist. Und wo dann Kriminalisten und Staatsanwälte all ihr Können aufzeigen müssen, um herauszubekommen, ob die Tat nun im Affekt oder im Suff oder in einer gewalttätigen Situation geschah – oder mit Vorbereitung und Kalkül. Was tat der Mann tatsächlich, als in Lindenau seine Lebensgefährtin aus dem Fenster stürzte?

Hat er sie gestoßen, ist sie aus Verzweiflung gesprungen? Oder steckte doch nicht nur der ewige Alkohol dahinter, mit dem damals tausende Leipziger versuchten, ihre Verzweiflung wegzuspülen? Oder war der Täter nüchtern genug, die Tat nicht nur zu begehen, sondern auch noch systematisch die Spuren zu beseitigen, wo er doch seit Ewigkeiten die Wohnung nicht mehr geputzt hatte?

Natürlich schaut man da und dort in ein Elend, das einen damals schon jammern ließ. Ein Elend, das mit der Enttäuschung zu tun hatte, dass sich viele, sehr viele ein völlig falsches Bild von den versprochenen „blühenden Landschaften“ gemacht hatten.

Die Verlockung des schnellen Geldes

Und manche verzweifelten, manche versackten im Suff. Andere wurden geradezu über Nacht von bestens ausgebildeten Handwerkern und Facharbeitern zu Mitgliedern diverser Banden. Aber selbst die Kleinkriminalität so einer Lindenauer Bande endet mit einem Toten.

Und die vier Männer, die sich kurzerhand zum Überfall auf einen Geldtransport zusammentaten, gingen der Polizei viel schneller ins Netz, als sie die Beute verjubeln konnten. Gleich daneben die erstaunliche Geschichte eines Sparkassenräubers, dessen erster Überfall mit einer Ladung knallrot gefärbter Banknoten endet.

Fast hat man den Eindruck, in Leipzig herrschte ein paar Jahre lang eine Art Wildwest. Statt der versprochenen weltberühmten Unternehmen kamen erst einmal die diversen Kriminellen aller Art, eröffneten Spielcasinos, gründeten Drückerkolonnen und machten dubiose Immobiliengeschäfte.

Aber auch die Zigarettenmafia fand in Leipzig ein neues Betätigungsfeld. Die Polizei konnte quasi zuschauen, wie die Geschäftsfelder bereinigt wurden – blutig in der Regel. Am Ende geriet dann auch noch ein friedlicher Friedhofsgärtner in diese Stricke – und war am Ende seinen Job los.

Manche Fälle wird der Liebhaber von True Crime vielleicht sogar wiedererkennen, weil sie für jede Menge Aufsehen sorgten und in den Gazetten das große Rätselraten, Vermuten und Behaupten in Gang setzten. Frank Kreisler hat trotzdem sämtliche Namen verändert, um den Helden und Heldinnen seiner Geschichten eine gewisse Gleichbehandlung zuzugestehen.

Was auch den schönen Effekt hat, dass damit auch die Sensationsgeschichten aufhören, ins gewohnte Berichtmuster des Boulevards zu passen. Auf einmal wird auch hier deutlich, dass man es mit zutiefst menschlichen Schwächen zu tun hat, entgleisten Lebensmodellen und Situationen, in denen sich die Überforderung der Täter in Gewalt entlud.

Geplatzte Träume vom schönen Leben

So wird diese kleine Sammlung wahrer Verbrechen zu einem kleinen Porträt einer völlig überforderten Stadtgesellschaft, die oft mit Provisorien, strapazierter Geduld und der immer kleinen glimmenden Hoffnung, dass diese deprimierende Situation einmal enden würde, versuchte, wieder auf die Beine zu kommen.

Man könnte auch die Boxer-Bilder benutzen, die Clemens Meyer in seinen großen Leipzig-Romanen so gern verwendet. In dieser Zeit nach der großen Euphorie der Friedlichen Revolution und dem Rausch der Deutschen Einheit war Leipzig regelrecht ausgeknockt, lag mit lauter Hämatomen an allen Gliedern auf den Planken.

Und für viele Bewohner dieser Stadt war das nicht nur ein Bild. Sie schafften es wirklich nicht wieder auf die Beine. Ihre Vorstellung von einem erfolgreichen Leben war zertrümmert. Und auch die Träume vom schnellen und leichten Geld zerplatzten.

Träume, die sich in einem Bild spiegeln, das Frank Kreisler vom Lindenauer Markt in dieser Zeit zeichnet – einem von ruinösen, tristen Hausfassaden umstellten Platz, auf dem einige der Fassaden mit schrillen, knallbunten Werbetafeln behängt waren.

„Quer über den Lindenauer Markt rumpelten Straßenbahnen, deren trübes Gelb ein bisschen an Krankenhäuser erinnerte. Die Tristesse stand bis hoch zu den Dächern und spiegelte einen langen und stillen Untergang wider, der auch zu Beginn des Jahres 1992 nicht gestoppt war“, schreibt Kreisler.

Kaputte Helden

Die Fotografin Christiane Eisler hat einige der damaligen Tatorte in ihrem heutigen Zustand fotografiert. „Nichts deutet mehr auf die Ereignisse von 1992 hin“, heißt es unter dem Bild vom Lindenauer Markt. Es sind ja auch nicht die Orte, die kriminell geworden sind. Sie sind immer nur Kulisse für die Tragödien der Menschen, sie sich dort abspielen. Die Orte bleiben. Die Menschen reisen fort, landen im Knast oder ziehen einfach um.

Aber mit den Orten rückt eben auch die Stadt noch einmal ins Bild – das heutige Leipzig, das sich mit einer Menge Kraft aus dem Knockout herausgearbeitet hat, wieder auf die Füße gekommen ist, auch wenn manch einer von all denen, die 1990 noch so zuversichtlich waren, auf den Brettern geblieben ist, abgesoffen ist und verzweifelt.

Aber bei einigen dieser Geschichten versteht man, warum es so kam. Bei anderen ist man froh, dass man das so nicht selbst erlebt hat. Und bei manchen dieser „Helden“ merkt man, dass ihnen wohl auch kein Psychotherapeut mehr hätte helfen können. Wer dieses Leipzig der frühen Jahre erlebt hat, wird sich wieder zurückversetzt fühlen in diese Zeit. Und wer damals nicht dabei war, bekommt zumindest eine Ahnung davon, von wo sich die Leipziger/-innen wieder aufrappeln mussten.

Und warum sie sogar stolz darauf sind, dass sie es (wieder) geschafft haben, auch wenn es dafür meist keinen Orden und keinen Blumentopf gab. Aber manchmal darf man auch schon froh sein mit dem Gefühl, dass man auch das überlebt hat, ohne – wie etliche dieser Leute in Kreislers Geschichten – völlig aus den Seilen zu fliegen.

Christiane Eisler durfte dann erfahren, dass es an Dieben auch in der Gegenwart nicht fehlt: Als sie mit dem Manuskript im Supermarkt einkaufte, wurde es ihr mitsamt ihrer Tasche geklaut. Aber wer weiß, wie die True-Crime-Autoren in 30 Jahren von unserer Gegenwart schreiben werden. Denn manches sieht man erst aus Jahrzehnten Distanz im richtigen Licht. Dann erzählen auch Gerichtsakten eine etwas andere Geschichte, wo man auf Details achtet, die damals in den fetten Schlagzeilen keine Rolle spielten.

Oft sind die Verbrechen gar nicht rätselhaft, wenn man erst weiß, in welchen Sackgassen Menschen gelandet sind. Und dass Leipzig damals so darunter litt, ist keine Überraschung. Bestenfalls für all die Märchenerzähler, die bis heute glauben, dass die Landschaften von ganz allein blühten, nachdem der große Zauberer Markt die Herrschaft im Osten übernommen hat.

Frank Kreisler Wand an Wand mit einer Leiche, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2022, 14 Euro.

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