Pellworm soll eigentlich eine schöne Insel sein, wenn auch vom Meer gefährdet als Überrest der einstigen Insel Strand. Vielleicht ein bisschen einsam, erreichbar mit einer Fähre, von hohen Deichen umgeben, denn die Insel liegt einen Meter unter Normalnull. Und wer sie heute von Ausflügen kennt, wird sie wahrscheinlich nicht wiedererkennen in Matthias Stolzenbergs Kriminalroman, der eher ein Thriller ist und da und dort ein wenig an Theodor Storms „Schimmelreiter“ erinnert.

Das ist kein Zufall, denn Theodor Storms Novelle handelt ja in der Hattstedtermarsch in Nordfriesland, etwas nördlich von Pellworm gelegen. Hier wie dort wehrt man sich seit Jahrhunderten gegen die Fluten, verteidigt das Land gegen die hungrige Nordsee. Und wenn die Urlaubersaison zu Ende geht, kann es tatsächlich recht einsam werden.

Vielleicht nicht ganz so einsam, wie es Stolzenberg seinen dänischen Kommissars Owe Thomson erleben lässt, der im Auftrag von Interpol versucht, einen 16 Jahre zurückliegenden Entführungsfall auf der holländischen Insel Texel aufzuklären. Damals verschwand die zweijährige Marthe Saalkämper.

Der dunkle Schatten der Geschichte

Dass Stolzenbergs Insellandschaft so einsam und dunkel wirkt, hat auch mit der Zeit zu tun, in die er die Handlung der Geschichte verlegt hat – den Herbst 1993. Da muss sich der ostdeutsche Polizist Karl Sudberg, der zusammen mit einer Hamburger Polizeianwärterin zu Thomsons Unterstützung herbeigerufen wurde, noch sagen lassen, er käme aus der DDR.

Auch wenn der Osten eher keine Rolle spielt in seiner Handlung, sondern die alte, gemeinsame deutsche Geschichte. Weshalb auch das Jahr 1993 so wichtig ist. Denn noch leben einige der schlimmsten Täter aus der Nazi-Zeit. Einer spielt in diesem Buch eine sehr zentrale Rolle und sorgt auch dafür, dass Thomson, als ihn die Spur nach Pellworm führt, gleich das Gefühl hat, dass es hier richtig brenzlig werden wird.

Wobei das auch an diesem wunderlichen dänischen Kommissar selbst liegt, denn er agiert eher als Eigenbrötler, nimmt auf die eigene Gesundheit (und seine Kleidung) nicht viel Rücksicht und landet mehrmals in Situationen, in denen sein Leben an einem Faden hängt. Und das in einer Zeit, in der es noch keine Handys gab, sondern nur Telefonzellen und rustikale Bakelittelefone.

Wer da dann auf einmal allein in einer Mühle, auf dem Friedhof oder dem mit Steinbuhnen besetzten Strand von Pellworm auftaucht, kann auf schnelle Hilfe nicht hoffen.

Und manche riskieren ihr Leben im Watt sogar mit Absicht. Oder weil sie betrunken sind.

Rätsel über Rätsel

Und dann sind da noch die drei Mädchen, die dem Buch den Titel gegeben haben, bekannt geworden durch ihre Besessenheit von den Wellen der Nordsee, auf die sie fast bei jedem Wetter mit ihren Surfbrettern hinausschwimmen. Oder es getan haben, vor Beginn dieser Geschichte. Denn einem von ihnen war es längst zu unheimlich geworden auf der Insel. Das erfährt Thomson sogar lange, bevor ihn der Fall tatsächlich nach Pellworm führt.

Er ist zwar einer, der sich alles Mögliche leicht merkt und der schon früh die richtigen Puzzlesteine zur Lösung des Rätsels zusammenbekommt. Aber statt direkt zu fragen und Verdächtige gleich mal mit polizeilichen Mitteln festzusetzen, versucht er irgendwie undercover den Fall zu lösen. Und noch weitere Rätsel zu knacken, wenn eigentlich alle Spuren schon offen liegen.

Vielleicht, weil er tatsächlich Angst hat, einem der Brandungsmädchen könnte etwas zustoßen. Vielleicht auch, weil er einen Schuldigen schonen will, weil er irgendwie Verständnis hat für dessen Tun. Oder auch, weil er einer Zeugin auf Texel, die den Schuldigen deckt, irgendwie für sich versprochen hat, sie nicht zu verraten.

Und gleichzeitig weiß er, dass auch noch ein paar andere Leute interessiert daran sind, dass so Manches über Pellworm nicht ruchbar wird. Leute, die auch vor Mord nicht zurückschrecken. Und die auch noch lange nach dem Krieg ihren abstrusen Ideen nachhängen und wie eine Art Geheimbund agieren.

Die Abgeschiedenheit der Insel hilft dabei. Aber nur bedingt. Denn gerade erst erschüttert ein Skandal um einen dänischen Minister die Medien, dessen Lebenslauf sich als eng verquickt mit der Nazi-Zeit erweist. Spät beginnen die Mühlen der Aufklärung zu mahlen. Aber die Zeit, dass alles unter den Teppich gekehrt wird, ist vorbei.

Die Moral der Täter

Und trotzdem bleiben diese Leute gefährlich. Bereit zu töten und ihre Spuren zu verwischen. Gnadenlos auch ihren eigenen Kindern gegenüber. Das ist die eigentliche Geschichte in diesem von Blitz und Sturm durchleuchteten Plot, wahrscheinlich sogar das, was den 1964 in Hamburg geborenen Autor bewegte, überhaupt so eine Entführungsgeschichte zu schreiben.

Denn die Eiseskälte, mit denen die Nazis quälen und töteten, ist ja nicht einfach verschwunden, nur weil ihr Reich in Trümmer fiel. Sie lebte in einer grimmigen, eisigen Moral weiter. Und darunter litten auch zuerst die Kinder der Täter, in diesem Fall Richard Martens, dem sein Vater dereinst aus Wut ein Ohr abschlug, und der auch Jahrzehnte später immer noch alles tut, um in den Augen des gewalttätigen Vaters Anerkennung zu finden.

Die er aber nie bekommt. Denn Täter wie sein Vater, Obersturmbannführer Hans Erich Martens, lassen sich nicht erweichen, kennen erst recht kein Mitgefühl. Wenn sie einmal beschlossen haben, das Versagen der Schwächeren als Schwäche zu sehen, dann bleiben sie dabei. Und lassen es die Menschen auch spüren.

Wenn man das so formuliert, merkt man: Das ist mit den alten Nazis nicht gestorben. Das hat sich in vielen Familien als Trauma weiter vererbt. Denn oft werden die Söhne von Tätern ebenfalls zu Tätern. Auch weil sie um die Liebe ihrer Väter werben, die sie trotzdem nie bekommen. Und die jederzeit wieder genommen wird, wenn sie das zeigen, was diese „Herrenmenschen“ als Schwäche deuten.

Weshalb es rechtsradikale Parteien in Deutschland immer wieder so leicht haben, ihr Wahlvolk einzusammeln. Mit derselben Verachtung für Schwäche, Rücksicht und Toleranz. Sie reden zwar viel von Familie und Heimat. Aber sie sind jederzeit bereit, das alles auch mit Stiefeln zu zertreten und verbrannte Erde zu hinterlassen.

So wie in Albanien, wo Hans Erich Martens seine Spuren hinterlassen hat und einfach seine Tochter zurückließ, als er seinerzeit floh. Nur den Sohn bei sich, den er zum Gehorsam geprügelt hatte.

Klavierspielende Täter

Was aus seiner Tochter und deren Tochter Dita geworden ist, hat den Mann sichtlich nicht interessiert. Ein Mann, den Stolzenberg auch in seiner scheinbaren Widersprüchlichkeit zeigt – als brutalen Tätowierer im KZ einerseits und als Klavierspieler, der dann mit Richard Wagner scheinbar in den großen Kulturhimmel der Deutschen abhebt. Als ginge das nicht zusammen zu denken: Brutalität und Geniekult. Ging es aber doch.

Wahrscheinlich war das schon immer die falsche Ebene, den deutschen Faschismus begreifen zu wollen. Dem kommt man viel näher, wenn man sieht, wie die Erwachsenen mit ihren Kindern umgehen und was sie ihnen tatsächlich fürs Leben vermitteln. Und wie sie Liebe mit Gehorsam verwechseln.

Alice Miller nannte es einst „schwarze Pädagogik“, aus eigener Erfahrung wohl wissend, wie schwer es aus der Perspektive der Betroffenen überhaupt ist, diese Muster der Abhängigkeit und der missbrauchten Liebe zu erkennen.

Und dann auch noch die Machtstrukturen aufzulösen, die dahinter stecken. Und die eben auch die Politik und das Klima einer Gesellschaft färben. Auch noch weit über die Kindergeneration hinaus. Obgleich gerade die drei Brandungsmädchen sich scheinbar von diesem Druck nie haben beeindrucken lassen. Auch nicht von der damit ausgelösten Angst, die Owe Thomson schon beim Betreten der Insel verspürt.

Wobei er sie nicht richtig festmachen kann, außer in dem seltsamen Auftauchen eines älteren holländischen Polizeikollegen, dessen Spiel er nicht wirklich durchschaut. Hilft der ihm nun, den Fall aufzuklären? Oder will er verhindern, dass er den Täter findet?

Stolzenberg jedenfalls genießt es, jedes Kapitel atmosphärisch ordentlich aufzuladen. Als wolle er wirklich eine stürmische Hommage an Theodor Storm schreiben, der dieser geschundenen Küste ja ein literarisches Denkmal gesetzt hat, an dem man nicht vorbeikommt. Und vielleicht ist der Herbst tatsächlich die beste Gelegenheit, sich auf Pellworm eine ordentliche Gänsehaut zu holen.

Zum Surfen ist er wohl eher nicht so empfehlenswert, es sei denn, man wäre so tollkühn wie Espe, Greta und Sophie.

Mattias Stolzenberg „Brandungsmädchen“, Einbuch Buch- und Literaturverlag, Leipzig 2022, 21,90 Euro.

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