Tille träumt vom eigenen Kampfsportstudio. Lofi träumt von Kindern – und zwar einem Jungen und einem Mädchen. Was für uns nicht ungewöhnlich klingt, ist in dieser Welt etwas Besonderes. Denn Geschlechter gibt es nicht mehr. Und wovon träumen ihre Kinder? Und ist das überhaupt eine Utopie? – Luise Kamiseks Buch entführt mich in eine nicht-binäre Welt. Eine Welt, in der Kleidung keinem Geschlecht zuzuordnen ist. In der es keine geschlechtsspezifischen Namen gibt.

Eine Welt, in der es mal Trend ist, große Brüste zu haben oder mal flache, in der alle Menschen das tragen können, was sie wollen und in der keine Pronomen mehr existieren. Tille lebt ganz selbstverständlich in dieser Welt, bis Tille Lofi kennenlernt.

Lofi ist Teil der Binären Bewegung. Diese will in der postrevolutionären, nicht-binären Welt die Geschlechterbinarität wieder herstellen. Die sogenannte Regenbogen-Revolution, ist die Revolution, in der die UN ihre Menschenrechtskonvention umschrieb und daraus jegliches Geschlecht entfernte und die Menschen alle geschlechtlichen Kategorien von sich warfen. In der postrevolutionären Welt können Menschen sich ihr Geschlecht nicht nur frei aussuchen, sondern es gibt keins mehr. Jegliche geschlechtliche Bezeichnung sei diskriminierend.

Laut Lofi und der Binären Bewegung würde damit den Menschen jedoch ein wichtiger Teil ihrer Identität genommen. Es gebe biologische Grundsätze, die Mann und Frau unterscheiden, sowohl körperlich als auch charakterlich. Das führt zu Konflikten.

Die gute alte Erziehungsproblematik

Tille und Lofi verlieben sich, denn die romantischen Zweierbeziehungen gibt es auch in der nicht-binären Welt noch. Lofi führt Tille in die Binäre Bewegung ein. Wie überzeugt Tille ist, lässt sich während der Lektüre nie schlussendlich feststellen. Zweifel bleiben jedoch, denn Tille ist der Bewegung gegenüber zurückhaltender als Lofi. Und auch die Erzählstimme, die sehr nah an Tille ist, bleibt nicht-binär.

Die beiden bekommen Kinder, erst ein sogenanntes Mädchen namens Belle. Lofi wünscht sich einen sogenannten Jungen, das zweite Kind hat jedoch eine Vulva auf dem Ultraschall. Also treibt Lofi ab ohne Tille darüber zu informieren.

Auch ansonsten trifft Lofi die Entscheidungen in der Beziehung der beiden und der Erziehung der Kinder. Denn das zweite Kind, das geboren wird, Adam, hat einen Penis und geht dafür für Lofi als Junge durch. Adams Aufwachsen ist jedoch geprägt von der Unzufriedenheit mit dieser Zuschreibung.

Binär vs. Nicht-binär

Als Adam und Tille ein Männlichkeitsritual der Binären Bewegung durchlaufen sollen, platzt Adam endgültig der Kragen. Adam und eine befreundete Person, Hektor, entscheiden sich, Teil der Antibi zu werden, einer Gruppe, die Aktionen gegen die Binäre Bewegung plant. Die Gruppe tut das im Geheimen, warum es so ist, erschließt sich nicht so ganz.

Schließlich verteidigen sie die hegemoniale Ideologie. Auch wie legal die Binäre Bewegung ist, wie groß und wie weit verbreitet, bleibt unklar. Sie scheint sich in einer Grauzone zu bewegen, ähnlich wie heutzutage rechte Gruppierungen mit verfassungsfeindlichen Ideologien.

Das bleibt jedoch nicht die einzige Unklarheit. Da ich die Hauptfiguren Tille und Adam fast nur in ihrer Familie erlebe, in der es nach Lofis Nase binär zugeht, erfahre ich kaum etwas über die nicht-binäre Utopie. Welche Machtmechanismen gibt es in Beziehungen, wenn Geschlecht keine Rolle mehr spielt? Welche Formen von Gewalt gibt es?

So verschieden von der heutigen Welt scheint diese auch gar nicht zu sein, außer dass Kleidungsläden anders aussehen. Ansonsten wird immer noch gemobbt, wer nicht die neuesten Sachen trägt, es gibt Menschen mit viel und mit wenig Geld, die Leute gehen acht Stunden arbeiten und dann nach Hause zu ihrer Zweierbeziehung.

Für viele Menschen mag das weit entfernt sein von einer Utopie: Es ist ein neoliberaler Kapitalismus, der Geschlecht als Unterdrückungsform nicht mehr braucht, weil er andere hat. Während des Lesens stellte ich mir oft die Frage, ob es eine „Revolution“ genannt werden kann: Schließlich bleibt unklar, ob es weiterhin häusliche Gewalt, ungerechte Aufteilung von Care-Arbeit oder andere intersektional mit Geschlecht verwobene Unterdrückungsmechanismen gibt. Meine Utopie ist das auf jeden Fall noch nicht.

Unscharfe Figuren

Nicht nur inhaltlich hatte ich an dem Buch zu knabbern. Die Handlungsfülle trug mich leicht durch die mehr als 400 Seiten. Da war es manchmal schade, dass ich nicht mehr von der nicht-binären Welt erfuhr, aber ich war ganz mit Adams Aufwachsen beschäftigt.

Oft stolperte ich jedoch, wenn Figuren aus ihren Rollen fielen, um mir als Leser*in wichtige Informationen mitzugeben: zum Beispiel, wenn eine erwachsene mit Tille befreundete Person Adam, 10 Jahre alt, erklärt, womit die Person ihren Lebensunterhalt verdient. Eine Information, die mehr für mich als Leser*in statt für Adam gedacht scheint. Die Dialoge treiben dadurch die Handlung voran, die Figuren werden in ihnen jedoch nicht plastisch.

Vor allem Tille, zu Anfang eine Hauptfigur, bleibt unscharf. Welche Motivation Tille in der Beziehung mit Lofi hat, obwohl Lofi kontrollierend ist und Tille die Abtreibung verschweigt, ist unklar. Tille liebt Lofi eben. Spüren konnte ich davon nichts.

Vielleicht lag es daran, dass in der dritten Person, aber eigentlich aus Tilles Wahrnehmungsperspektive erzählt wurde. Die Erzählstimme behielt beispielsweise, während Tille Teil der Binären Bewegung wurde, die nicht-binäre Sprache immer bei. Das ließ mich an Tilles inneren Motivationen zweifeln.

Wenige Ambivalenzen zeigten sich ansonsten in den Figuren: Es gab klar die Guten (Adam, Hektor und die Antibi) und die Bösen (Lofi, Adams Schwester und die Binäre Bewegung) und Tille, eine Figur, deren Meinung aber nie wirklich zu fassen ist.

Was man dem Buch aber lassen muss: Es zieht die geschlechtsneutrale Sprache konsequent durch. Und siehe da: Es lässt sich daran gewöhnen.
Luise Kamisek Binär Books on Demand, Norderstedt 2023, 20 Euro.

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