Es ist das berührendste Buch, das ich seit Längerem gelesen habe. Weil es ein Buch ist, das von unseren tatsächlichen Ängsten erzählt. Auch wenn es – „nur“ – vier Frauen sind, in deren Leben wir mit Verena Kessler hineinschlüpfen. Und nur eine von ihnen heißt Eva. Aber wer von Eva erzählt, erzählt auch von Adam. Beziehungsweise seiner Abwesenheit immer genau dann, wenn er eigentlich gebraucht wird und Farbe bekennen sollte.

Obwohl die Mannsbilder, die Verena Kessler auftreten lässt, durchaus dufte Typen sind. Egal, ob Milo, der die Journalistin Sina bezaubert und mit ihr die ersten Monate durchsteht, in denen die beiden versuchen, ein Kind zu bekommen, oder Roman, der mit Sinas Schwester Mona sogar drei Kinder hat und augenscheinlich ein begeisterter Vater ist.

Oder Georg, den die Lehramtsstudentin Eva kennengelernt hat und der sie als Freund bis zu dem Tag begleitet, an dem Evas Leben als Lehrerin völlig aus den Gleisen gerät.

Natürlich geht es um den Wunsch nach Kindern. Und auch die Verzweiflung, die alle erfasst, wen dieser Wunsch sich selbst mit ärztlicher Hilfe nicht verwirklichen lässt. Ebenso die Verzweiflung, wenn das geliebte Kind stirbt und das Leben nicht bekommt, das seine Mutter sich für es wünscht.

Aber von vornherein ist auch noch eine weitere Ebene eingezogen. Denn Sina interviewt Eva, die mit ihrer dezidierten Meinung schon für Schlagzeilen gesorgt hat. Denn Eva ist der festen Überzeugung, dass es in einer Welt, die sowieso schon überbevölkert ist und in der sich die Lebensverhältnisse für die kommenden Generationen dramatisch verschlechtern, unverantwortlich ist, selbst Kinder in die Welt zu setzen.

Das Tabu

Nach der Veröffentlichung von Sinas Interview schwappt erst recht die Welle der Empörung über Eva herein. Von ihrer Arbeit als Lehrerin wird sie suspendiert, denn auch die Eltern laufen Amok, halten eine Lehrerin, die derart über Kinder redet, für untragbar.

Es sind nicht die Kinder, die rebellieren. Es sind die Eltern. Es ist ein Buch, das genau den Nerv unserer empörten Gesellschaft trifft. Die Kinder bleiben übrigens auch nicht nur passiv, süß und niedlich. Wenn es Benni ist, Monas Sohn, den wir in der letzten Geschichte erleben, in der die ehemalige Sekretärin der Schule, an der Eva unterrichtete, die Erzählerin ist, dann ist Benni eines jener Kinder geworden, die sich heute aus Verzweiflung auf Straßen und Autobahnen festkleben.

Eine Verzweiflung, welche die Erwachsenen und ach so Empörten sichtlich nicht sehen wollen. Was geht sie die Zukunft dieser Kinder an? So reagieren sie doch, all diese empörten Erwachsenen, oder?

Die Sache ist komplizierter. Verena Kessler hat kein anklagendes Buch geschrieben, auch wenn ihre Titelheldin Grund genug hätte zur Anklage. Denn sie ist, was eine gute Lehrerin nun einmal ist: rational, einfühlsam, verständnisvoll.

Auch wenn Sina sie eigentlich mit ihrem Artikel bloßgestellt und die Deutung vorgegeben hat, wie die Leser diese kühle, kluge Lehrerin sehen sollten, die Vernunft predigt und auf Kinder zu verzichten – und dann einen Hund mit dabei hat. Ist das nicht Heuchelei?

Was hinterlassen wir unseren Kindern?

Dass es das nicht ist, erfährt man später, viel später, als eben dieser Hund mit einem mit Rasierklingen gespickten Köder getötet wurde. Und ausgerechnet Evas ehemalige Schulsekretärin ist so ganz unschuldig nicht daran. Auch wenn sie ihre ganz eigenen Gründe hat. Und hier ist die weibliche Sicht so wichtig, gerade weil Evas Forderung, auf Kinder zu verzichten, ans Eigentliche rührt.

Das, was sich so viele nicht eingestehen. Denn mit Kindern verbinden wir alle die Hoffnung in dieser Welt. Sie sind ja tatsächlich die Zukunft. Aber sie müssen das aushalten, was wir ihnen als Zukunft hinterlassen.

Das ergibt eine riesige Trauer. Auch Verzweiflung, etwa bei Josi, dem Kind aus der Nachbarschaft in dem Dorf, in das Eva gezogen ist, um Abstand zu gewinnen zu den Ereignissen. Anfangs verkraftet sie nicht, was Eva ihr über die zunehmende Verwüstung unserer Welt erzählt, flüchtet in ihr Baumhaus.

Doch wohin flüchten wir Erwachsenen? Mal abgesehen davon, dass die Männer tatsächlich aus dem Leben der Frauen verschwinden, ohne dass wir ihre innere Sichtweise tatsächlich kennenlernen. Das wäre dann wahrscheinlich der Teil der Geschichte, den tatsächlich ein Mann schreiben müsste. Mit allen Ängsten, Überforderungen, Hoffnungen und Kinderwünschen, die Männer ja auch haben.

Auch wenn sie zunehmend Probleme haben, alle Anforderungen auszufüllen und ein anderes Rollenverständnis zu lernen. Der Spaßmacher, Superheld und Alles-locker-Nehmer funktioniert nicht mehr in einer Welt, in der es so unübersehbar ums Existenzielle geht. Und die Frage: Wie wollen wir weitermachen?

Was halten wir aus?

Fragen, die die vier Frauen, die Verena Kessler in den Mittelpunkt ihres Romans gestellt hat, bis ins Innerste aufwühlen. Denn zur Wahrheit gehört ja auch: Kinder machen nicht automatisch alles gut. Sie sind auch eine Herausforderung, kosten Kraft und Zeit. Und auch eine Auszeit, die sich Mona mit Sina zusammen nimmt, muss dabei nicht die Lösung sein. Kann sogar erst recht all das Unausgesprochene an die Oberfläche bringen, das in diesem Fall Mona an die Grenze des Auszuhaltenden bringt.

Während Sina gleichzeitig das Buch liest, das Eva doch noch geschrieben hat. Da braucht es natürlich manchmal eine nervende Lektorin, welche die sonst so besonnene Lehrerin darauf aufmerksam macht, dass das Gepöbel, Beleidigen und Niederschreien ja eigentlich nur einen Zweck hat: Ihre Stimme zum Verstummen zu bringen.

Und zwar nicht nur, weil die Menschen diese Haltung für inakzeptabel halten, sondern weil es auch vom elementar Menschlichen her nicht auszuhalten ist: Um das Überleben der Menschen auf dieser Erde überhaupt noch zu retten, jetzt auf Kinder verzichten? Das widerspricht allem, was man mit Kindern verbindet. Da schreit die Seele auf. Und natürlich wollen das Viele nicht hören, weil sie allein den Gedanken schon für unerträglich halten.

Da bekommt Sinas quälender Versuch, überhaupt einmal schwanger zu werden, eine völlig andere Wucht. Genauso wie Monas stille Verbitterung, die auch Jahre später noch spürbar ist, während aus dem so neugierigen Benni ein Junge geworden ist, der sich aus Verzweiflung auf die Straße klebt. Es sind nur wenige Szenen, die diese Dimension andeuten.

Wirklich schreiben über die Verzweiflung der jungen Menschen, die heute begreifen, was wir ihnen da als Zukunft zumuten, werden sie nur selbst können – vielleicht in ein paar Jahren. Noch viel wütender und frustrierter durch das Nicht-Handeln der „alten weißen Männer“, die an den zerstörerischen Mechanismen, mit denen wir unsere Zukunft untergraben, nichts ändern wollen.

Das Leben selbst

Verena Kessler aber bringt mit einer verblüffenden Klarheit die Sicht der Frauen ins Bild, Frauen, wie sie gleich nebenan leben könnten, hier in Leipzig, wo Verena Kessler heute lebt und schreibt, oder in Hamburg, wo sie aufgewachsen ist. Es ist egal. Es wird Hunderttausende, wenn nicht Millionen junger Frauen geben, denen es genauso geht wie Sina oder Mona oder auch Eva. Und die oft genug allein gelassen sind mit ihren Sorgen, Befürchtungen, Entscheidungen.

Denn natürlich sind sie es, die am Ende entscheiden, ob sie Kinder bekommen wollen oder – wie Eva – grundsätzlich darauf verzichten. Wohl wissend, wie viel dann im eigenen Leben fehlen wird.

Und Kessler gelingt es zu zeigen, wie intensiv dieses Leben ist. Man erlebt jede Zwickmühle mit, all die beklemmenden Stellen, an denen deutlich wird, dass das Leben auch in unserer ach so wohlhabenden Gesellschaft dennoch voller Fährnisse, Erschütterungen und Ratlosigkeiten ist.

Erst recht, wenn man – in diesem Fall also frau – nicht wirklich weiß, woher das alles kommt und warum einen die Gefühle derart niederreißen.

Es ist der erste Roman, der das so intensiv und stringent erzählt. Und der aus vier ergreifend weiblichen Perspektiven spürbar macht, dass es tatsächlich um die Kinder geht. Und um Ängste, die bei jungen Menschen längst präsent sind. Nur hilft es eben nicht, zu pöbeln, zu schreien oder zu verdrängen. Gar nichts.

Hier meldet sich das Leben selbst zu Wort. Und auch die Leser werden um die Frage nicht umhin können: Was passiert nun? Und: Was wird mit den Kindern?

Verena Kessler„Eva“, Hanser Berlin, München 2023, 24 Euro.

Empfohlen auf LZ

So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:

Keine Kommentare bisher

Schreiben Sie einen Kommentar