Die Jahre kurz nach der „Wende“ waren harte Jahre – auch für die Leipzigerinnen und Leipziger. Viele verloren ihre Arbeit. Anderen wurde die Wohnung gekündigt. Berufsperspektiven gab es kaum. Und gleichzeitig machten allerlei Glücksritter und Immobilienkäufer ihr Schnäppchen. Manchmal mit durchaus kriminellen Methoden. In genau diese Zeit kehrt Grit Poppe mit diesem Leipzig-Krimi zurück. Und selbst ohne das, was den weiblichen Hauptfiguren in diesem Roman zustößt, dürfte so mancher herzlich froh sein, dass auch diese harten Jahre hinter uns liegen.
Jahre, in denen die einen den Neuanfang suchten, andere mit ihrer Lebensgeschichte haderten und wieder andere keine Skrupel hatten, sich mit den angelernten Methoden eines rücksichtslosen Geheimdienstes neuen Auftraggebern anzudienen. Denn irgendwie scheint die Nachfrage nach Leuten, die die Drecksarbeit machen, immer aktuell zu sein.
Auch wenn das in diesem Fall gründlich schiefgeht. Obgleich die junge Kriminalkommissarin Beate Vogt anfangs noch nicht weiß, dass da etwas gewaltig schiefgelaufen ist, schon mit dem Verschwinden der Lehrerin Ina Reinhardt, mit dem alles beginnt.
Polizei unter Druck
Eigentlich war der Vermisstenfall gar nicht Beate Vogts Angelegenheit. Aber die Leipziger Kripo ist unterbesetzt. Und selbst über den Leuten, die noch da sind, hängt das Schwert der Überprüfung. Haben sie sich in der DDR schuldig gemacht? Haben sie ihre Stellung missbraucht?
Aber auch Josef Almgruber, der neue Kollege aus dem Westen, fühlt sich unwohl. Er kennt die ostdeutschen Gepflogenheiten noch nicht, begegnet den alten Geschichten, die da aufschwappen, mit Unbehagen. Das ist ihm alles fremd, macht ihm auch schwer, die Motive der Leute zu durchschauen, denen die beiden Ermittler im Lauf der Untersuchung begegnen, die bald nicht nur ein Vermisstenfall ist.
Denn noch während Beate Vogt versucht, das Verschwinden der Lehrerin zu rekonstruieren, findet sie in Auerbachs Keller die Leiche des Mannes, der ganz offensichtlich verantwortlich dafür war, dass Ina Reinhardt aus ihrer Altbauwohnung vertrieben wurde.
Nur hilft das im Vermisstenfall Ina Reinhardt überhaupt nicht weiter. Sie bleibt verschwunden. Nur die Leser wissen, wie es ihr geht. Denn immer wieder schaltet Grit Poppe auch um zu der Gefangenen tief im alten Stasi-Bunker in Machern, wo sie von der Außenwelt völlig abgeschnitten ist und auch nicht weiß, wer der Kerl ist, der sich hinter der Atemschutzmaske verbirgt und was er mit ihr vorhat.
Und noch dramatischer wird es, als Almgrubers Sohn Florian aus dem Heim verschwindet, in dem der verwitwete Polizist den Jungen untergebracht hat. Die nächste Suchaktion startet. Und macht nicht nur Almgruber klar, wie sehr er an dem Jungen hängt. Und dass es vielleicht sogar Wichtigeres gibt als einen sicheren Job bei der Polizei.
Aber was, wenn er nun kündigt und Beate allein lässt? Die eh schon ihre eigenen traumatischen Erlebnisse hat und beinah selbst zum Opfer des Kerls mit der Gasmaske wird. Aber sie lässt sich nicht krankschreiben. Gerade weil nun endgültig klar ist, dass Ina Reinhardt wohl in den Händen eines Mannes ist, der keine Skrupel kennt.
Starke weibliche Rollen
Auch wenn da noch lange nicht klar ist, wer den Immobilieninvestor aus Bayern ermordet hat. Der ganze Fall spiegelt die Unsicherheit dieser frühen Jahre nach der „Wende“, als alle sich neu orientieren mussten und für Kriminelle aller Gattungen ein riesiger Graubereich entstand, in dem sie sich austoben konnten, während die Polizei von der auf einmal offen ausbrechenden Gewalt immer wieder überfordert war. Was im Fall des kleinen Ermittlerteams, das Grit Poppe atemlos durch die Tage hetzen lässt, beinah tragisch endet.
Denn da sie völlig unterbesetzt sind, bringen sich Beate und ihre Kollegen immer wieder selbst in Gefahr, vernachlässigen die wichtigsten Regeln der Absicherung. Und am Ende kommt es auch noch zu einem dramatischen Showdown auf einem verlassenen LPG-Gelände, wo ausgerechnet die jüngste Heldin in dieser Geschichte zur Retterin wird. Auch weil das Mädchen Elsa gelernt hat, sich selbst durchzubeißen im Leben.
Womit ja die Geschichte beginnt, in der die Leser Elsa barfüßig kennenlernen und Ina Reinhardts Impuls verstehen, sich einmal bei den Eltern von Elsa vorzustellen. Ein Ausflug ins noch wilde Connewitz, auf dem sie ja dann verschwindet.
Man hat es ja fast vergessen, wie grau und trist das Leipzig des Jahres 1991 noch war. Vogt und Almgruber kommen bei ihren Recherchen in einige dieser tristen Ecken der Stadt und begegnen noch einigen anderen Bewohnern der rußigen Stadt, die von den Umbrüchen gebeutelt wurden und ihrerseits durchaus Motive gehabt hätten, dem Immobilieninvestor aus Bayern eins auszuwischen.
Doch auch hinter Abwehr und rauer Fassade steckt oft genug ein nur zu menschliches Wesen, und manchmal sind es gerade die scheinbar so Grantigen, die am Ende den richtigen Hinweis geben. Auch wenn die Ermittler die Hinweise nicht immer richtig zu lesen verstehen. Jedenfalls sind sie weit davon entfernt, jene bärbeißige Ruhe auszustrahlen, mit der Simenon seinen Maigret ermitteln lässt. Dazu stehen sie alle viel zu sehr unter Druck. Und machen deshalb auch Fehler, die ihnen zum Verhängnis werden können.
Was machst du aus deinem Leben?
Und das alles vor dem Hintergrund einer Stadt, die damals gerade durch ihre größte Krise ging, noch heruntergewirtschaftet und schäbig aussah und in der die Menschen reihenweise ihr Arbeit verloren hatten, ohne wirklich zu wissen, wie es weitergeht. Eine Frage, die ja damals vor allem stand. Und manche gaben sich auf, andere wurden verbissen und wütend.
Und wieder andere verstanden den Bruch in ihrem Leben auch als Chance, endlich aufzuhören, nach den Vorstellungen anderer Leute zu leben. Sondern sich zu fragen, was sie wirklich wollen im Leben. Auch darum geht es in diesem Krimi eben auch, der seine Leserinnen und Leser in Atem hält. Und zugleich auch eine Abrechnung ist mit dem kalten Schatten der Stasi. Was die eine „Mauer des Schweigens“ betrifft, die im Titel zum Ausdruck kommt.
Es gibt noch ein paar andere Akteure, die ihr Leben hinter einer Mauer des Schweigens versteckt haben und meinen, mit eine bunten Camouflage in der neuen Zeit auch ein völlig neues Leben beginnen zu können. Auch das ist so ein Motiv, das einen zutiefst an diese frühen 1990er Jahre erinnert, in denen das Kostümieren und Rollenspielen auf einmal den Alltag der Ostdeutschen bestimmte. Und viele naive Bewohner des Ostens sich von falschen Kostümen und Versprechungen verführen und über den Tisch ziehen ließen.
Mit „Mauer des Schweigens“ lässt Grit Poppe diese Jahre noch einmal lebendig werden und es dürfte manchem auch jenseits der dramatischen Handlung da und dort eine Gänsehaut entstehen. Denn so schäbig und peinlich war diese Zeit ja tatsächlich. Man hat es nur verdrängt. Und landet so in einem fast vergessenen Leipzig, das man heute nicht mehr sehen kann, wenn man durch die sanierten Straßen geht, deren Fassaden nicht einmal mehr ahnen lassen, wie das alles vor 35 Jahren tatsächlich begann.
Grit Poppe „Mauer des Schweigens“ Ullstein, Berlin 2025, 12,99 Euro.
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