Das Genre des historischen Kriminalromans blüht. Und man wird den Eindruck nicht los, dass er den historischen Roman gerade etwas ins Abseits stellt. Oder auch mit seinen bewährten Mitteln zeigt, dass der historische Roman viel zu lange auf den überholten Erzählmustern der Romantik schwamm. Zwar passend für tränendrückende TV-Serien, aber nicht für den kriminologischen Umgang mit Geschichte. Und dann heißt der Bursche auch noch Knobelsdorf.

Was einen geradezu an die vielen preußischen Knobelsdorffe erinnert, die als Offiziere in den Armeen der Preußenkönige dienten, abgesehen von Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff, der noch viel berühmter ist, weil er als Architekt das Berlin Friedrich des Großen baute.Aber Ralph Knobelsdorf hat nur ein „f“ abbekommen und wurde auch nicht in Berlin geboren, sondern in Löbau in Sachsen, ist in die IT-Branche gegangen und lebt heute in Erfurt.

Aber mit seinem ersten Kriminalroman geht er direkt nach Berlin, ins preußische Berlin des Jahres 1855, dorthin, wo noch nicht so viele Krimi-Autoren unterwegs waren, auch wenn Kriminalromane aus dem früheren Berlin das Genre des historischen Kriminalromans aus Deutschland geradezu dominieren. Doch diese fokussieren sich bisher alle auf das frühe 20. Jahrhundert, als die Polizeiarbeit zunehmend dem zu ähneln begann, was wir heute als kriminalpolizeiliche Arbeit kennen.

Aber Ralph Knobelsdorf hat nicht ohne Grund seinem 600 Seiten starken Krimi einen Anhang beigegeben „Fakt oder Fiktion?“, in dem er auf die Grenzen und Ansprüche eines historischen Kriminalromans eingeht und damit vielen Krimi-Leser/-innen aus dem Herzen spricht: Wirklich spannend wird so ein historischer Krimi erst, wenn die historischen Hintergründe stimmen, die Geschichte so tatsächlich auch hätte passieren können.

Und wer sich wirklich ernsthaft diesem Genre widmet, weiß, dass er genauso akribisch Quellenforschung betreiben muss wie zumindest die profilierteren Autor/-innen im historischen Genre. Da müssen die richtigen Fahrzeuge auf der Straße unterwegs sein, die Beleuchtungsart stimmen, die Kleidung und die Namen der Straßen und Gaststätten. Da muss einer schon wissen, wie man damals von Berlin nach Prag reisen konnte und wo damals das erste Berliner Polizeipräsidium stand.

Und da Knobelsdorf genau zu diesen Anfängen zurückgeht, als sich Berlins Polizei unter ihrem legendären Polizeipräsidenten Karl Ludwig Friedrich von Hinckeldey professionalisierte, muss erst recht möglichst alles stimmen. Auch wenn er im Anhang durchaus zugibt, wo er der Geschichte ein wenig nachhelfen musste.

Denn natürlich findet man in alten Zeitungen (die man mittlerweile auch online recherchieren kann) und Archiven nicht alles. Irgendwie fehlt ja dann, wenn die Dinge sich herauskristallisieren, immer einer, der damals alles akribisch aufgeschrieben hätte. Und man darf auch nicht vergessen, dass es tatsächlich erst Arthur Conan Doyle war, der den ermittelnden Detektiv zur zentralen Gestalt von Kriminalgeschichten machte.

Vorher hat das auch in Deutschland kaum einen Autor oder Leser interessiert, da lebte das Genre noch komplett von der Faszination des Verbrechens. Deswegen war für das Krimigenre eher das typisch, was bei Brockhaus in Leipzig als „Der neue Pitaval“ erschien.

Wenn Knobelsdorf jetzt also seinen Helden, den gerade erfolgreich sein Jura-Studium zum Abschluss bringenden Wilhelm von der Heyden, unverhofft zum Polizisten in diesem Berlin Hinckeldeys werden lässt, dann wird sein Roman zwangsläufig auch eine Zeitreise in dieses Berlin der Nachrevolutions-Ära.

Denn die Revolution von 1848 ist gerade sieben Jahre her, eine von diesen typischen deutschen Revolutionen, von denen eingebildete Historiker bis heute immer wieder behaupten, sie seien missglückt, weil sie nicht wie die schöne Französische Revolution von 1789 so herrlich radikal und blutig geraten sind.

Niedergeschlagen wurde der Aufstand in Berlin ja tatsächlich blutig. Und der geflohene Prinz Wilhelm, der später König und Kaiser werden sollte, spielte dabei zumindest eine sehr zwiespältige Rolle. Aber Knobelsdorf will es gar nicht dabei belassen, nur die historische Berliner Polizei zu rekonstruieren und ihre Arbeitsweise sichtbar zu machen am Fall einer durch eine Bombenexplosion zu Tode gekommenen österreichischen Gräfin.

Denn eines ist auch nach den Regalmetern historischer Kriminalromane, die schon erschienen sind, recht deutlich: Die schlechtesten davon tun so, als wĂĽrde es reichen, das Kolorit der Zeit als Hintergrundmalerei zu verwenden. Die besten aber zeigen, dass das Verbrechen der Zeit immer, wirklich immer ein Spiegel der Gesellschaft und der Politik ist.

Das glauben zwar selbst viele Politiker nicht und spielen „Ordnung und Sicherheit“ mit einer Blindheit, dass man heulen könnte. Aber unter so einer Politik leiden ja in der Regel immer nur die Menschen, die sich nicht wehren können. Die dann rebellieren wie 1848 und dann von überforderten Befehlshabern niederkartätscht werden. Macht macht ziemlich oft ziemlich dumm und ziemlich blind. Und sage niemand, dass das im Jahr 2021 anders wäre. Denn Politiker, die wenigstens begreifen, was man mit Macht alles an Schaden anrichten kann, sind rar gesät.

Deswegen kann auch Knobelsdorf in seinem Buch die Bewunderung für den jungen Otto von Bismarck nicht unterdrücken, der in diesem Jahr 1855 noch als preußischer Gesandter beim Bundestag in Frankfurt tätig ist, bis dahin vor allem bekannt als erzreaktionärer Junker und als Anhänger der Brüder Gerlach, die am preußischen Königshof enormen Einfluss auf den zunehmend debiler werdenden König hatten.

Bismarck taucht nicht ganz so zufällig in Knobelsdorfs Roman auf, denn diese beiden Vertreter der Hofkamarilla spielen in seinem Fall eine ganz entscheidende Rolle und sein unverhofft in den Polizeidienst geratener Wilhelm von der Heyden lernt quasi im Schnelldurchgang kennen, wie Macht und Politik in Preußen im Jahr 1855 funktionieren. Und von Bismarck gibt es geradezu eine komprimierte Analyse zum historischen Moment, der auf seltsame Art auch unserer Zeit ähnelt.

Denn auch unsere großen Medien tun ja so, als hätte sich seit Jahrzehnten eigentlich nichts geändert. Als wäre die Bundesrepublik noch dieselbe wie vor sieben oder sechzehn Jahren. Aber wer wirklich aufmerksam ist, spürt, wie sich grundlegende Dinge verschoben haben, dass in den alten Selbstverständlichkeiten längst etwas Neues steckt, das eigentlich nur noch einen kleinen Schubs braucht, dann kann es sich entfalten.

Und zumindest habe ich noch kein Werk eines Historikers gelesen, das sich einfach mal so dezidiert mit den Folgen der 1848er Revolution in Preußen beschäftigt hat, wie es Knobelsdorfs Bismarck hier tut. Denn erst so wird auch das Jahr 1918 begreifbar, das es ohne 1848 nicht gegeben hätte. Denn Preußen bekam nach dieser Revolution tatsächlich all das, was Grundlage eines modernen Staatswesens ist – eine Verfassung, ein Parlament, eine vielstimmige Presselandschaft und ein abgestuftes Wahlrecht.

Mit dem Zollverein von 1834 waren auch die ökonomischen Strukturen dessen schon sichtbar, was dann 1871 zum Deutschen Reich werden sollte. Auf all das weist Knobelsdorf dezidiert hin. Selbst wenn bei einer Revolution am Ende keine siegreichen Trikoloren gehisst werden, verändern sie das Land. Sie sind eher nicht die „Lokomotiven der Geschichte“ (wie Karl Marx noch 1850 glaubte), sondern eher die Erdbeben, mit denen längst spürbare Veränderungen sich endlich Geltung verschaffen.

Wenn auch selten bis nie in den Formen, die sich die Revolutionäre vorher mal gedacht haben. Hinterher gibt es zwar (dafür stehen die beiden Gerlachs) immer Leute, die mit aller Macht zurückwollen in alte, glorifizierte Zustände (so wie heute die Poltergeister der AfD), aber Leute wie Bismarck wissen, dass man die Zeit nicht zurückdrehen und die entfesselten Kräfte nicht wieder in die Büchse sperren kann. Und Knobelsdorf bittet ja die Historiker sogar um Verständnis, dass er seinen Bismarck hier so auftreten lässt, betont aber auch, dass er ihn nichts sagen lässt, was er so nicht tatsächlich gesagt hat oder hätte sagen können.

Natürlich ist Bismarck dabei nur ein Tupfer, mit dem Knobelsdorf die Machtspiele am preußischen Hof und auf europäischer Ebene andeutet, die irgendwie in den Fall hineinzuspielen scheinen, der von der Heyden quasi unverhofft zum Kriminalpolizisten werden lässt. Und in höhere Kreise reichen tatsächlich die Spuren, die von der Heyden, sein Freund Johann und sein neuer Kollege Vorweg nach und nach finden. Aber sie lernen auch schnell, dass selbst der mutigsten Polizei die Hände gebunden sind, wenn man den wirklich großen Tieren ins Gehege kommt. Gefährlich wird es außerdem. Man erkennt sein geradezu biedermeierlich erinnertes Berlin nicht wieder.

Aber mit dem Jahr 1848 war eben auch das Biedermeier in Berlin vorbei, die Zeit der Salons ging gerade zu Ende. Mit Fanny Lewald schildert Knobelsdorf eine der letzten Salondamen ihrer Art. Auf den Straßen rollen Pferdeonmibusse. Vor den Toren siedeln sich die ersten Industrieunternehmen an. Und auch einige der Akteure im Buch beschäftigen sich schon emsig mit Geldanlagen, Börsengeschäften und Unternehmensbeteiligungen. Im Anhang nennt Knobelsdorf die entscheidenden Daten. Es ist genau die Zeit, in der das einst beschauliche Berlin sich verwandelt in jene schillernde Metropole, die später Alfred Döblin schildern sollte.

Dieses sich wandelnde Berlin beschrieb damals der Journalist Julius Rodenberg. Und Knobelsdorf macht eigentlich sehr anschaulich, wie dieser Wandel von der preußischen Provinzhauptstadt zur modernen Metropole begann. Ein faszinierender Moment, den Knobelsdorf sichtlich genießt, wenn er seinen Helden in die noch junge und unfertige Berliner Polizei eintreten lässt und dabei auch zwiegesichtige Gestalten wie den (tatsächlichen damaligen) Polizeichef Dr. Wilhelm Stieber kennenlernen lässt.

Und bevor wir hungrige Krimi-Leser/-innen erschrecken: Natürlich geht es spannend und turbulent zu in diesem Krimi, geraten die Ermittler werden regelrecht auf falsche Spuren gelenkt, spielen mächtige Leute ihre eigenen Spielchen, um die Entwicklung in die für sie richtige Richtung zu lenken, kommen auch ein paar echte Ganoven drin vor (auch 1855 war Berlin in manchen Gegenden kein wirklich freundliches Pflaster) und auch ein paar schöne Liebes-Verwicklungen. Es gibt ja immer auch noch das richtige Leben jenseits der gefährlichen Verbrecherjagd.

Und jede Menge sympathischer Gestalten, bei denen man das Gefühl hat, mit ihnen zeichnet Knobelsdorf das eigentlich schönere, fontanesche Berlin, mit Frauen, die alle auf verschiedene Weise neue Freiheiten in Anspruch nehmen, Vätern und Müttern, die am Ende verstehen, dass sich nicht nur die Zeiten verändern, sondern auch ihre Kinder.

Und jungen Männern, die eigentlich mit Politik nichts am Hut haben, aber in der Begegnung mit den steifen Vertretern der Gegenseite merken, dass man eigentlich gar nicht anders kann: man wird politisch gemacht. Dafür sorgen schon die jeweils Mächtigen und ihre ganzen Dienstwilligen: selbst dem friedlichsten Menschen klarzumachen, dass man ihm zutiefst misstraut.

Es gibt da Stellen, die erinnern einen doch sehr daran, dass die deutsch-deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ohne dieses prägende 19. Jahrhundert nicht zu verstehen ist. Vieles wirkt bis heute nach, gibt sich gern als Maßstab und „Wert“ aus, stammt aber eigentlich aus der Mottenkiste der Macht und der Anbiederei.

Gerade weil Knobelsdorf mit Bismarck einen selbstbewussten Rationalisten auftreten lässt, bekommt man auch einen kleinen Maßstab dafür, wie klein und kleinlich für gewöhnlich die Rangelei um die Macht ist. Und folglich Machtausübung auch entsprechend verdruckst, ziel- und visionslos. Und Geschichte dann entsprechend verworren, so verworren, dass sich Historiker dann jahrzehntelang nicht darantrauen, den Haufen zu entwirren und auch mal zu schauen, wie deutsche Revolutionen tatsächlich funktioniert haben.

Ein rasanter Auftakt für eine neue Serie. Denn ganz bewusst trägt das Buch schon mal den Untertitel „Von der Heydens erster Fall“. Knobelsdorf hat sein Tableau bereitet, in dem er seinen Helden künftig agieren lassen will. Und wenn einen nicht alles täuscht, dürften einem dabei noch so manche Berühmtheiten über den Weg laufen, in Kriminalfälle verstrickt, von denen sich die Originale bestimmt nicht haben träumen lassen.

Ralph Knobelsdorf Des Kummers Nacht, Bastei Lübbe, Köln 2021, 16,90 Euro.

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