Friedrich Bödecker war Pädagoge. Ein ganz besonderer Pädagoge, denn ihm lag ganz besonders daran, dass die Kinder in der Schule das Bücherlesen lernten und lieben lernten. Dem widmet sich bis heute der nach ihm benannte Friedrich-Bödecker-Kreis. Von dem gibt es auch einen eigenen Ableger in Sachsen-Anhalt, der sich seit 1990 um die Lese- und Literaturförderung kümmert. Dazu gehört auch die Herausgabe der vierteljährlich erscheinenden Literaturzeitschrift „oda – Ort der Augen“. Die schaut auch da und dort über die Landesgrenzen hinaus.

So wie in der vierten Ausgabe für 2025, die auch neue Gedichte des Leipziger Lyrikers Thomas Böhme enthält, der in diesem Jahr seinen verblüffenden 70. Geburtstag gefeiert hat. Und der natürlich auch beispielhaft für eine ganze literarische Landschaft steht, die an alten Landesgrenzen sowieso nicht endet. Wer die Sächsische Dichterschule nur in Sachsen sucht, macht sie kleiner, als sie ist. Und verliert den Blick dafür, dass die gesamte Region fruchtbare Dichterlandschaft ist.

Beispiele dafür versammelt „oda“ sowohl in Versen als auch in Prosa. Wobei gerade die Prosatexte diesmal dazu einladen, dieses so gern unterschätzte Bindestrich-Land doch einmal genauer wahrzunehmen. Auch in seinen Nöten, die der Tübinger Marcus Hammerschmidt in einem seiner Blog-Einträge als Stadtschreiber in Magdeburg beschreibt.

In Saarbrücken geboren, weiß er, wie es sich in einem Land anfühlt, dessen große Industrie-Geschichte Vergangenheit ist und wo sich die Einwohner nun damit arrangieren müssen, dass man nicht mehr der Nabel der Welt ist. Er schreibt von „Verlassenheit als Gemeinsamkeit. Oder die multiplen Ost-Verlassenheiten.“

Die ihn an seine saarländischen Verlassenheitsgefühle erinnern. Und dabei helfen, die ganzen verlassenen Orte in Sachsen-Anhalt besser zu verstehen. Und trotzdem schön zu finden.

Und auch die Menschen zu verstehen in ihrem „Groll auf die anderen, ein immerwährender Verdacht, verraten worden zu sein“. Nur weiß Hammerschmidt, dass dahinter eben ein unbarmherziges System steht, das Verlierer und verlorene Landschaften geradezu systematisch produziert. Dazu muss man wohl Autor sein, um das zu sehen. Aber welcher Politiker liest schon Bücher, um das zu verstehen?

Ein Städtchen namens Ballenstedt

Es hat tatsächlich mit Schule zu tun. Und der Tatsache, dass Bücherlesen den Kindern eher verleidet als nahe gebracht wird. Von den Zerstörungen durch die modernen digitalen Medien, die die Menschen zu Häppchen-Lesern machen, ganz zu schweigen. Dabei braucht alles, was wichtig ist in der menschlichen Gesellschaft, den großen Atem und die Fähigkeit, in großen Zusammenhängen zu denken.

Genau das, was gute Bücher einem nahebringen.

Und Aufmerksamkeit zu entwickeln für Orte und ihre Geschichten. So wie es mehrere Beiträge im Heft mit Ballenstedt tun, einem kleinen Städtchen am Ostrand des Harzes, das berechtigterweise den Beinamen „Wiege Anhalts“ trägt und mit dem einst legendären Adelsgeschlecht der Askanier verbunden war. Schlosspark und Friedhof kommen ins Bild.

Und Ammar Awaniy, der aus Syrien in dieses stille Land am Harz gekommen ist, entdeckt dabei Ballenstedt als Heimat eines zu seiner Zeit durchaus berühmten Musikergeschlechts, dessen berühmtester Vertreter – Carl Christian Agthe – im 18. Jahrhundert weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt war.

Literarische Spaziergänge als Gelegenheit, Vergessenes zu entdecken. Vergessene Menschen, vergessene Orte. Oder Sehnsuchtsorte wie New York, das im fotografischen Werk von Mario Schneider eine ganz zentrale Rolle einnimmt. Gleich zwei Beiträge widmen sich Schneids Sehnsuchtsort. Vielleicht muss man wirklich erst über den Großen Teich fliegen, um das Faszinierende einer Stadt in Bildern greifen zu können. Was vielleicht auch mit dem Stolz der New Yorker zu tun hat, die zwar arm sein können, aber ihr Gesicht nicht verloren haben.

Während ganz offensichtlich ein Besuch im deutschen Osten eine Begegnung mit lauter gebrochenen Biografien und Persönlichkeiten ist. Etwas ist da grundsätzlich anders gelaufen. Und keiner kann es reparieren. Oder will es reparieren.

Ein Unangepasster aus Dessau

Wobei sich die Dichter ja bemühen. Einer wird in diesem Band besonders gewürdigt: Manfred Jendryschik, geboren 1943 in Dessau. Einer von den Unangepassten auch in der DDR, der sich in der Biermann-Affäre nicht einschüchtern ließ und der als Lektor beim Mitteldeutschen Verlag Entdecker und Betreuer dutzender literarischer Talente war. Selbst hat er über 30 Bücher veröffentlicht. Und André Schinkel würdigt ihn in seiner unvergleichlichen Art. Es ist seine Gedenkrede, die er zur Trauerfeier von Manfred Jendryschik hielt, der am 18. Juni 2025 in Wahren starb.

Da war sein letztes Buch, „Deckweiß für alle“, schon in der Druckerei, aber noch nicht erschienen. Ein typisches Jendryschik-Buch in der kleinen, frreundlich-ironischen Prosa, mit der er zeitlebens die Umstände und Kopfstände der Gegenwart aufs Korn nahm. Vielleicht ist es auch gerade dieser Humor, der so typisch ist für Sachsen-Anhalt, wenn einer Abstand gewinnt zu den Kalamitäten der Zeit und den gerade Mächtigen und das Närrische sieht in den Selbstinszenierungen der Leute, die sich in hohe Ämter gehangelt haben. Oh Eitelkeit der Eitelkeiten.

Warten auf die Flaschenpost

Wir wählen immer wieder die falschen Leute. Die Lauten und Selbstgerechten. Nicht die Bescheidenen und Fleißigen. Lassen uns von falschen Gesten verführen. Dabei ist gerade die Literatur Sachsen-Anhalts reich an Skeptikern und trockenen Humoristen, die sich – wie Jendryschik – jeder Romantisierung verweigern. André Schinkel erwähnt es.

Denn das ist Verwandtschaft über Landesgrenzen hinweg. So ticken sie fast alle in der Sächsischen Dichterschule, die noch allemal lebt. In den Schülern der großen Alten, die sich ihren unverstellten Blick auf eine rissige Gegenwart nicht nehmen lassen.

So gesehen lädt auch dieses „oda“-Heft ein, Sachsen-Anhalt einmal anders wahrzunehmen. Durch die manchmal ironische, manchmal gründlich ent-täuschte Sicht der Dichter auf ihr Land und seine Leute. Auch wenn man – wie Lutz Rathenow – auch nur Gast und Durchreisender ist.

Aber seine Geschichte über „Die Flaschenpost“ erzählt im Grunde etwas Wesentliches über die in ihren Träumen lebenden Menschen im Osten: Einmal nur eine Flaschenpost finden, eine Nachricht über die Meere hinweg, die einem den richtigen Fingerzeig gibt für das eigene Leben. Und Jahre am Meer damit zubringen, auf die eine Flasche mit der richtigen Botschaft zu warten.

Oder vielleicht doch – wie Thomas Böhme – nach Italien reisen und die Augen offen halten, was man alles sieht, wenn man nur aufmerksam genug ist. So aufmerksam, wie man daheim im grummelnden Norden meistens nicht ist. Vielleicht, weil einem alles zu nah ist. Und man den Blick für die Wirklichkeit erst richtig schärft, wenn man auf Reisen geht.

Und im Fremden das Vertraute wiederfindet. Aber wer macht das schon, wenn die ganze wild gewordene Gegenwart die sofortige Befriedigung aller Wünsche proklamiert? Und reihenweise Enttäuschte und Frustrierte produziert, die auch keine Bücher lesen. Weil das anstrengend ist. So wie das Leben, wenn man es ernst nimmt. In Ballenstedt, Magdeburg oder Dessau.

Aber wer tut das schon, wenn man sich tief in Frust und Enttäuschung vergraben kann?

Friedrich-Bödecker-Kreis in Sachsen-Anhalt e.V. (Hrsg) „oda. Ort der Augen, 4/2025“, Dr. Ziethen Verlag, Oschersleben 2025, 4,90 Euro.

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