13 Episoden des „Spreewaldkrimis” wurden seit 2006 im ZDF ausgestrahlt. Weniger als in anderen Krimiserien im deutschen Fernsehen. Das Besondere aber ist: Alle stammen vom selben Drehbuchautoren, von Thomas Kirchner, 1961 in Ostberlin geboren. Und dass sein Fokus auf den tief sitzenden Sorgen der Ostdeutschen liegt, verrät jede einzelne Episode mit seinem vom eigenen Trauma geplagten Kriminalkommissar Thorsten Krüger.

Das wird noch deutlicher, seit der Verlag Sol et Chant die ungekürzten Drehbücher von Thomas Kirchner veröffentlicht. Die ersten vier erschienen im Sommer 2022. Hier liegen jetzt die nächsten fünf vor, erstmals gezeigt jeweils in den Jahren von 2012 bis 2016.

Es sind gar nicht mal die Plots, die daran besonders überraschen. Und so schnell, wie Krüger und sein Kollege Fichte dann oft auf die Lösung des Falles kommen, würden es sich viele Kriminalkommissare in Deutschland nur wünschen.

Kirchners Stärke liegt darin, dass er das stille Drama des Ostens zu packen versucht, das nicht in hübsch sanierten Städtchen liegt, auch nicht so sehr in Arbeitslosigkeit und gebrochenen Karrieren. Es liegt im Schweigen. Denn darin passt dieser Krüger mit seiner unbewältigten Vergangenheit nur zu gut zu diesen Menschen im Spreewald, die über ihre Sorgen und Konflikte ungern reden.

Da geht es Krüger meist so wie einst dem berühmten Maigret, der mit einer großen Portion Mitgefühl auf die Leute aus kleinsten Verhältnissen schaute, die in einem unglücklich gelaufenen Leben zu Tätern wurden.

Die Ansprüche der anderen

Kirchners Helden sind zwar in dem Sinn nicht immer Leute aus kleinsten Verhältnissen. Bauunternehmer, Hotelbesitzer, politische Aufsteiger gehören zum Beispiel dazu. Aber es sind auch Männer und Frauen, die in ihrer Existenz gescheitert sind, an ihren eigenen Träumen oder an den Ansprüchen der Anderen. Was oft dasselbe ist.

Denn unübersehbar hat man es hier auch mit einer kleinen, überschaubaren Welt zu tun. Jeder scheint jeden zu kennen. Und viele Figuren aus früheren Folgen tauchen wieder auf, mal als Opfer, mal als Täter, oft als Zeuge. Vieles verknüpft sich um das Hotel Wotschofska, das gleich in Folge 5 abbrennt, aber in späteren Folgen als Handlungsort wieder auftaucht. Denn viele Fälle und Konflikte haben das Hotel in der Vergangenheit als Schauplatz.

Und da Kirchner oft und liebevoll mit Rückblenden arbeitet, werden seine jeweiligen Fälle zu Geschichten, die den Atem der Vergangenheit spüren lassen.

Er ist allgegenwärtig. Dicht gepackt, dichter, als man ihn in der ostdeutschen Realität meist wahrnimmt. Aber gute Geschichten leben davon, dass sie alles verdichten und spürbar machen. Auch das, was die Zeitgenossen so gern verdrängen, kleinreden und in sich verschließen.

In der Realität kocht es meistens über, wenn mal wieder irgendeine politische Entscheidung jener Tropfen ist, der Volkes Zorn zum Überlaufen bringt. Dann wird die Straße zum Ventil und man fragt sich, was auf einmal in die doch eigentlich friedlichen Menschen gefahren ist. Was ist mit ihnen los?

Die meisten leben besser als in den Zeiten der DDR. Die Krisen, die das Land noch im Jahr der Hartz-Reformen 2005 (die auch in Kirchners Drehbücher hinein wetterleuchten) beutelten, sind für die meisten ausgestanden. Auch der Spreewald hat sich berappelt, ist zu einem der attraktivsten Tourismus-Hotspots gleich im Windschatten der Großstadt Berlin geworden.

Jeder in seiner Blase

Und trotzdem schwelt in vielen der Figuren, die Kirchner auftreten lässt, der Frust. Fehlt irgendetwas und tragen etliche seiner Heldinnen und Helden uralte Verletzungen mit sich herum, die nicht heilen wollen und sogar noch nach Jahren für dramatische Entwicklungen sorgen – und für brutale Todesfälle, die nicht nur Krüger an die Grenzen seiner Widerstandsfähigkeit bringen.

Längst ist er dabei, seine Zelte im Spreewald abbrechen zu wollen. Seine Wohnung hat er schon gekündigt. Doch dann passiert der nächste Mord. Es ist seine Arbeit, die ihn dann doch noch da hält. Und in gewisser Weise das Trauma seiner Kindheit, das ihn Ungerechtigkeit und ungeklärte Verbrechen nicht aushalten lässt.

Eigentlich genauso wie seine beiden älteren Kollegen – der eine, der ihn einst auf den Weg zur Kripo gebracht hat. Und der andere, der ihm einen alten Fall hinterlassen hat, der in „Das Nix-Projekt” dann noch tragische Folgen hat.

Eine Episode, die auf ihre Weise etwas zeigt, was unsere heutige Wirklichkeit so bizarr macht. Denn wo die einen schweigen und versuchen, uralte Ereignisse zu vergessen und in sich zu vergraben, treten hier drei junge Medienstudierende mit einer Gedankenlosigkeit und Unbekümmertheit auf, die geradezu verwirrt.

Aus der Legende vom Nix wollen sie einen Splatter-Doku-Film machen, gehen dabei aber Risiken ein, die vermuten lassen, dass sie aus einer Welt kommen, in der Realität und Virtualität so ineinander verwoben sind, dass sie die Gefahrensignale aus eben dieser Realität einfach nur für Filmeffekte halten.

Auch dieses Stück Wirklichkeit gehört ja zu unserer Zeit. Immer mehr Menschen leben in völlig verschiedenen Filterblasen und sind dann der Überzeugung, der Rest der Gesellschaft müsste genauso ticken. Und Krüger und seine Ermittlerkolleg/-innen bekommen es immer wieder mit solchen in sich geschlossenen Welten zu tun, diesen Gefängnissen im Kopf, die sich viele Menschen bauen und die sie daran hindern, ihr eigenes Leben wieder in Ordnung zu bringen und alte Niederlagen und Verletzungen zu verzeihen.

Trauma und Unmut

Manchmal sind es natürlich auch jene Gefängnisse, die tatsächlich durch erlebte Unglücksfälle entstanden. Etwa die Amnesie einer jungen Mutter nach dem Autounfall, der ihrem Baby das Leben gekostet hat. Fünf Jahre lang verhindert das selbst die Erkenntnis, dass dieser Unfall ganz und gar nicht so simpel ablief, wie er protokolliert wurde.

Und in „Duell mi Moor” thematisiert Kirchner die Erfahrungen junger Männer aus dem Osten, die besonders oft in Auslandseinsätzen der Bundeswehr unterwegs waren und entsprechend oft auch mit Verletzungen und traumatischen Erfahrungen zurückkommen. Junge Männer, die in der von Industrie entblößten Landschaft keine Arbeit gefunden hatten und schon mit dem Gedanken an eine Perspektivlosigkeit in ihrer Heimat aufgewachsen waren.

In diesem Fall verknüpft es Kirchner mit einem der großen Negativthemen ostdeutscher Politik, die jahrzehntelang ihre Augen verschloss vor der Etablierung rechtsradikaler Strukturen gerade in den ländlichen Regionen.

Gerade weil Kirchner so stark verdichtet, wird erlebbar, wie präsent all diese emotionalen Gemengelagen im Osten sind. In der Lausitz wohl noch stärker als anderswo – ideale Plattform für politische Streber wie Hagen Matzke in „Die Tote im Weiher”, die aus Volkes Unmut Kapital zu schlagen versuchen.

Nur dass Kirchner seinen Provinzpolitiker ganz und gar nicht als Teflon-Gestalt zeichnet, wie sich die meisten der ostdeutschen Populisten gern darstellen, sondern von seinen eigenen Gespenstern gejagt. Sehr realen Gespenstern – dieser Matzke hat noch ein Gewissen und fühlt sich schuldig.

Alte und neue Verletzungen

Auch das ein sehr ostdeutsches Thema. Denn Politiker mit Gewissen haben es schwer in dieser Landschaft von Menschen, die sichtlich nur ungern über ihre eigenen Schuldkomplexe, Ängste und Befindlichkeiten reden. Doch wenn immer nur andere oder „die da oben” schuld sind, dann wird das auch zur Ausrede für das eigene, nicht gelebte Leben. Von Bewältigung einmal nicht zu reden.

Denn etliche der Gestalten, denen Krüger mit seiner einfühlsamen Art begegnet, haben ja tatsächlich reihenweise Niederlagen erlebt. Haben erlebt, wie erniedrigend es ist, um Arbeit und Sozialhilfe zu betteln. Oder dann in dem Versuch, doch selbst ein Unternehmen auf die Beine zu stellen, zu scheitern, weil ein paar Herren in Nadelstreifen ihr eigenes perfides Spiel spielen.

Der Krimi kann und darf das alles zeigen. Dicht gepackt, immer wieder mit Rückblenden ergänzt, sodass die Zuschauer auch bildlich miterleben, wie sich die Konturen des Falles im Kopf von Krüger entwickeln und er den Tatmotiven auf die Spur kommt. Denn wenn man die entschlüsseln kann, kommt man auch dem Täter auf die Spur. Auch wenn Krügers Methoden öfter auch das polizeilich Erlaubte überschreiten.

Man merkt, wie es rumort in diesem gestandenen Ermittler, wenn ihm Staatsanwälte nicht die Mittel in die Hand geben, die er beantragt. Was dann? Und was, wenn Gefahr im Verzug ist und ihm seine Intuition sagt, dass er nicht warten kann, bis alle amtlichen Mühlen gemahlen haben?

Dass er gleichzeitig an seiner eigenen Vergangenheit zu tragen hat, macht die Krimi-Serie auch zu einer Reise durch Krügers Leben. Man sieht ihn in einen Reisewohnwagen umziehen und darin im großen Regen absaufen. Man sieht ihn in den vielen Szenen mit Marlene, der Gerichtsmedizinerin, mit der ihn eine lange und komplizierte Beziehung verbindet. Irgendetwas reift da heran, man ahnt es nur. Konkret wird es erst im letzten Fall in diesem Buch.

Eine ganz besondere Kulisse

Aber die beiden verbindet auch die tiefe menschliche Aufmerksamkeit für das Leid der Menschen. Sie lassen die Trauer zu, auch wenn es oft nur in knappen Sätzen hörbar wird: „Wir können nicht in die Menschen reinsehen”, sagt Marlene am Ende von „Feuerengel”. Und nach einem kurzen Zwischenbild: „Jetzt würde ich vielleicht auch wegwollen.”

Denn das Gefühl, dass die Bewohner dieser stillen und eigentlich romantischen Region noch vieles miteinander auszumachen haben, und das, was sie wirklich quält, tief in sich verschließen, kann auch entmutigen. Kann einen dazu bringen, den ganzen Bettel hinschmeißen zu wollen. Auch wenn Krüger ahnt, dass das eher viel mit seinen eigenen Dämonen zu tun hat.

Und das führt eben auch dazu, dass viele Szenen in Kirchners Drehbüchern zutiefst berühren, weil er etwa das zutiefst Menschliche erzählt über eine Region im Osten, die durchaus auch anderswo liegen könnte.

Da ist der Spreewald dann tatsächlich nur lebendige und stark symbolische Kulisse. Aber eben auch eine dankbare Bühne, weil die Kamera so oft mit stimmungsvollen Bildern das erzählen kann, was im gesprochenen Dialog wie Ballast wirken würde. Ganz abgesehen davon, dass dieser Krüger sowieso ungern alles erklärt und meist sehr kurz angebunden ist. Auch wenn man immer wieder merkt, wie sehr ihn die Fälle belasten.

Da die Drehbücher ungekürzt sind, also auch alle Szenen enthalten, die dann bei der Verfilmung unter den Tisch gefallen sind, bekommt man hier quasi Kirchners Intentionen kompakt und in allen Schattierungen.

Was den „Spreewaldkrimi” noch deutlicher abhebt von all den Tatorten, die im deutschen Fernsehen alle naselang gesendet werden und denen dann oft genau das fehlt: ein Gefühl für eine ganz bestimmte Region, ihre Bewohner und ihre Geschichte. Oft bekommt man dort nur den blanken Fall, serviert und einen Täter, der sich als Psychopath entpuppt.

Aber die eigentlichen Dramen spielen sich unter ganz gewöhnlichen Menschen ab, schwelen unter der Oberfläche des Schweigens und des Verdrängens und haben ihre Wurzeln meist tief in der Lebensgeschichte der Akteure. Die dann – wie in diesen Nestern im Spreewald – oft gar nicht anders können, als jeden Tag ihren alten Gespenstern und Verletzungen aufs Neue zu begegnen.

Thomas Kirchner „Spreewaldkrimi. Drehbücher. Band II”, Sol et Chant, Letschin 2022, 28 Euro.

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