„Ich bin Kairos, der alles bezwingt! Warum läufst du auf Zehenspitzen? Ich, der Kairos, laufe unablässig“, schrieb der griechische Epigrammatiker Poseidippos von Pella vor über 2.000 Jahren. Und auch wenn der Ruhm des jüngsten Zeus-Sohnes verblasste seitdem, weil die ach so geschäftigen Menschen lieber Chronos nachlaufen, dem von Uhren zerhackstückten Tag, war dieser ungreifbare Kairos zumindest bei den Dichterinnen und Dichtern nie vergessen.

Denn er erzählt von einem alten Zeitempfinden, in dem der Mensch noch im Fluss des Lebens unterwegs war, als noch der Sonnenlauf, die Jahreszeiten und die Lebensalter die Vorstellung vom Verfließen der Zeit bestimmten. Und der Mensch noch das Gefühl haben durfte, seine Zeit selbst am Rocksaum zu packen. Selbst zu bestimmen, wie schnell alles verfliegen sollte oder ob der Moment verweilen durfte, wie Goethes „Faust“ so sinnig sagt, in dem Moment, als er der Geschäftigkeitsideologie der modernen Nutzengesellschaft endgültig auf den Leim geht.

Dabei wusste Goethe durchaus, wie man sein Leben poetisch greifen konnte. Wie Poesie den Blick wieder öffnet für die Erfahrbarkeit der Zeit und des Seins. Man muss sich darauf einlassen. Das stimmt. Aber wer tut das schon in einer Zeit, in der Müßiggang eine verächtliche Tätigkeit ist in den Augen von Leuten, die immerfort geschäftig sein müssen?

Die Suche nach der eigenen Zeit

Manchmal noch die Dichterinnen. So wie Charlotte van der Mele, die sich im Herbst 2021 hinsetzte und begann, das Verfließen der Tage in „Gedichten wie Tagebucheinträgen“ festzuhalten. Ein Gedichtband wie ein Jahresbuch, beginnend im Herbst, auf Abschied und Melancholie gestimmt, und dann um Wärme und Nähe ringend in einem Winter, der sich zäh hinzieht und (ver-)zweifeln lässt an der Beständigkeit der Gefühle. Wenn doch erst das Frühjahr wieder ein „Zimmer voller gestern“ wird („in meinen Frühlingen“).

Ein Frühling, der auch die Dichterin aus ihrem Sinnen schleudert, da ja ein durchgeknallter Potentat unbedingt einen Krieg vom Zaun brechen musste. Poesie schützt nicht vor dem Irrsinn der Zeit. Oder der „Zeit“, dem, was Nachrichten draus machen und kleine Leute, die sich unendlich wichtig nehmen.

Diese Gedichte („barbarisch ist es“, „der schmerz der (russischen) dichterin“, „den hass will ich ehren“) fallen regelrecht heraus aus diesem gedichtreigen, der durch die Monate eilt, eigentlich immer auf der Suche nach dem ganzen, dem erfüllten Moment. Und dann donnern trotzdem die blutigen Meldungen des Tages in den Tag, in die Stimmung, in das Gedicht. Und stören es. Scheuchen es auf. Unterminieren diese beharrlich Suche nach der ganzen, der eigenen Zeit. Die nun einmal auch ein dichterischer Protest ist: „gegen die zeit“. Gegen die Zumutung dessen, was einem da schreiend und ununterbrochen als Zeit serviert wird.

Oder gar als Zeitgeist. Auf den Charlotte van der Mele ganz ähnlich wie Poseidippos reagiert – epigrammatisch nämlich, kurz und knapp: „zerstreut befahre ich / die oberfläche der dinge …“

Denn so „leben“ wir, wenn wir uns vom Zeitgeist hin und her treiben lassen: oberflächlich. Von Schein und Glanz geblendet. Aber nie bei uns, so wie in dem Moment, in dem wir wirklich spüren, wie uns das Da-Sein berührt. Aber genau darum geht es ja bei diesem (fast) täglichen Schreiben gegen die „Zeit“. Dort, wo man neben den ganzen ach so wichtigen Dingen steht und merkt, dass sie einen eigentlich nicht berühren. Dass etwas völlig anderes unser Lebendigsein ausmacht. Das, was manche als Ungewissheit, Unfassbarkeit des Tages empfinden, Betroffenheit, wenn wir merken, wie verletzlich, vergänglich, unhaltbar alles ist.

Aus dem Zeitfluss geschöpft

Würden mehr Menschen mit der Betroffenheit von Dichtern auf die Welt schauen, sie wäre besser, friedlicher, schonender. Und wärmer natürlich, denn wer sich Verletzlichkeit und Verwundbarkeit zugesteht, der geht sorgsamer um mit sich und seinen Gefühlen.

Auch wenn das schwer ist und auch Charlotte van der Mele sich vorwerfen lassen muss, dass ihre Gedichte oft so melancholisch werden. Woran liegt das? Vielleicht am Schöpfen aus dem Zeitfluss, wie sie es in „Über das Buch“ beschreibt – Nachwort und Nach-Gedicht in einem. „Zitate – aus dem Wörterfluss geschöpft, um einen Gedanken für sich zu stellen. Nicht, um ihn zu Ende zu denken, sondern, um ihn in den Blick nehmen zu können, um zu bedenken, was an ihm noch immer unabgegolten bleibt.“

Denn genau das ist unser Leben – das Unabgegoltene. Das, was man meist übersieht, wenn man Dinge „erledigen“ muss und gar keine Zeit hat, beim Spaziergang unter kahlen Bäumen den feinen Regen wahrzunehmen. Oder die Schneeflocke, die auf der Stirn taut. Dankbar und traurig zugleich. Weil man auch beim so aufmerksamen Gehen nicht vergessen kann, wie rund um einen eine völlig entgrenzte Welt fordert und schreit und wertet. „melancholie / – so sagen sie – / wohnt in all meinen gedichten / selbst wo du / von umarmung sprichst …“ („in all meinen gedichten“).

Was natürlich so gesehen werden kann. Denn wer innehält und sich einlässt auf den Moment, ist nicht mehr lustig. Denn da ist Da-Sein elementar und Vergänglichkeit allgegenwärtig. Im doppelten Sinn. Denn im Kairos fließt die Zeit wieder. Dort ist einem bewusst, was man schon verloren hat. Und auch noch verlieren wird. Das erschreckt. Davor laufen ja die Meisten davon, wenn sie ihre Tage vertakten und die Terminkalender vollstopfen mit lauter Geschäftigkeit. Nur nicht innehalten und gewahr werden, wie dieses unerhört kurze Leben verfließt.

Aus der „Zeit“ gestoßen

Dabei kennt Charlotte van der Mele die andere Seite nur zu gut, das, was da in den Uhren und Kalendern der ach so Geschäftigen immerfort rumort: „in der apokalypse / findet der weltschmerz / zu seiner aufhebung“, („dialektik“) Vielleicht ist die zunehmende Entfremdung, die sie empfindet, gar nicht ihr eigene, sondern die einer Mitwelt, die blindlings immer weiter macht, selbst dann, wenn sie um die Folgen dieses irren Immerfort-Produzierens weiß. Der Weltschmerz unterdrückt, in rasende Tätigkeit verwandelt. Nur nicht dran denken, was wir da alles verlieren und wohin das alles führt. Blindlings. Gnadenlos.

Grund genug, zutiefst melancholisch zu werden. Und ebendrum noch viel aufmerksamer auf die Momente, die wir greifen können. Manchmal. Wenn ein Bild, ein Wort, eine Stimmung ganz vorsichtig drängen, festgehalten zu werden, eingefangen. Und sie sich berechtigterweise fremd fühlt in einem Land, in dem die Untoten wieder „ihrer väter sprache“ krächzen. („novemberspaziergänge“)

Wer so aufmerksam achtet auf sich und die verfließende Zeit, der fühlt sich natürlich wie neben die Welt gestellt, gemeint schon mal gar nicht, wenn Minister großspurig ihre Orden verteilen. „vor den toren ehren sie / ruhmreiche helden / im haus beklagen wir söhne / die wir liebe nicht lehrten“. („das rad der geschichte“)

Denn darum geht es eigentlich: Die Fähigkeit zu lieben. Und damit natürlich den Schmerz zuzulassen, wenn das Geliebte verloren geht. Vor unseren Augen. Niedergewalzt von denen, die niemals Zeit haben, weil sie immerfort große Geschäfte machen müssen. Denn wo keine Liebe ist, muss Zeit mit Anderem gefüllt werden. Fluchten und Ausflüchten aller Art. „schon früh hatten sie dir / deinen sinn genommen / säuberlich dafür dein leben / in ihre ziele verpackt …“ („die folgen“)

Unversehens

Denn für wen lebt man eigentlich? Wessen Leben lebt man? Oder ist da tatsächlich noch Platz für den völlig unverpackten Moment, das Staunen, das so gern zum Gedicht werden möchte? „ich laufe durch meinen tag / und unversehens mitten hinein / in einen geruch aus dem gestern / und bin wieder wehrlos wie ein kind …“ („worin ich wohne“)

Genau das ist Kairos – „Momentaufnahme. Aus dem Zeitfluss geborgen“. Das, was uns die Dichte und Schönheit des Daseins spüren lässt. Meist wirklich nur für einen Moment, bevor wir wieder aufgeschreckt werden und uns mit den Quälgeistern des Alltags herumschlagen müssen. Kein Wunder, dass sich die Dichterin da heimatlos fühlt, fremd, obwohl sie dem Weben der Zeit immerfort auf der Spur ist: „verwachsen in der zeit / die ich bewohne / bin ich / doch ist / mein geist beständig fremd“ („in den zeiten“)

Der Plural ist wichtig. Denn „die Zeit“, die so viele anbeten, gibt es nicht. Sie ist ein künstliches Konstrukt, mit dem wir uns alle die Tage und Wochen und Monate zurechtzimmern. Und uns am Ende dennoch wundern, dass sich das alles so schnell, verbraucht und verflüchtigt hat. Und wir nicht mal das Gefühl hatten, dabei gewesen zu sein.

Um das nämlich zu spüren, müssen wir das Getriebe verlassen, uns auf Kairos einlassen und seine ganze Unberechenbarkeit. So, wie es Charlotte van der Mele in diesem Gedichtband durch ein ganzes Jahr versucht, vom Herbst bis in den Sommer, in dem schon wieder der Abschied steckt. „eine sehnsucht nach dem süden / ist tief schon eingeschrieben“ („in sommern“). Als wenn wir Zugvögel wären. Vielleicht, weil wir Zugvögel sind. Und in völlig andere Zeiten unterwegs, als wir uns täglich einbilden mit dem Blick auf Uhren und Kalender.

Charlotte van der Mele Kairologoi gegen die Zeit“, Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2023, 19,95 Euro.

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