Wie schreibt man eigentlich Kritik? Und was ist Kritik? Das sind Fragen, die augenscheinlich auch Literaturwissenschaftler wie Tim Preuß bewegen. Geht es nur um „Fundiertes Meckern“, wie Preuß es in seinem ersten Packen „Thesen zur kritischen Kritik“ mäandernd umfragt? Oder geht es um Orientierung für die Leserinnen und Leser? Der Kritiker quasi als Pfadsucher durch den Dschungel der literarischen Zumutungen? Und was hat es mit der Popmoderne auf sich?

Das Buch ist so eine Art Sandwich, auch wenn die hier in einem Bändchen der neuen Reihe „Fortfolgendes“ abgedruckten Texte größtenteils in einem jener Blogs erschienen, zu denen sich junge Leute zusammentun, um den Leuten Kultur nahezubringen – so wie die Kulturproleten, zu denen auch Tim Preuß zählt.

Dass die Texte nicht unbedingt für Nicht-Akademiker geschrieben sind, merkt man schnell. Und dass auch die im ersten Teil versammelten „Kritiken, exemplarisch“ eher zu einem innerakademischen Diskurs gehören, wird auch schnell klar. Denn das „Museum der Popmoderne ist einerseits so etwas wie eine Kritik der Kritik – also des Umgangs der etablierten deutschen Buchkritik mit Literatur, die Buchtitel zu Bestsellern und Wunderwerken erklären kann. Und andererseits die Kritik eines literarischen Phänomens, das von der Kritik in den großen Feuilletons jahrzehntelang geradezu gehätschelt und gepriesen wurde: die Popmoderne.

Buhlen um Aufmerksamkeit

Erst im zweiten Teil – „Kritik, thetisch“ – versucht Preuß – mäandernd – zu definieren, was Kritik eigentlich ist. Da tauchen die üblichen alten Herrschaften auf, die wahrscheinlich auch im Studium immerfort zitiert werden – Adorno, Benjamin, Bloch, Lukács, auch ein bisschen Hacks. Es geht um die Subjektivität von Leseeindrücken, Ideologie und das Funktionieren eines Literaturbetriebes, in dem es am Ende um Aufmerksamkeit geht. Eine heiße Ware, die auch in den Medien mit Sendeminuten, Sendeplätzen und Klicks gehandelt wird. Wer die Aufmerksamkeit bekommt, wird gelesen. Sodass so manches an Kritik zum Kritiktheater wird.

Dass es „Die Kritik“ nicht gibt, ist Preuß durchaus bewusst. „Nota bene, liebe/r Leser/-in, hier geht es um die Masse der als Kritik gelabelten Publizistik, weder um die immer vorhandene Handvoll (relativ) Progressiver noch um den Wahnsinn von Bookstagram, Buchbloggerei und Co.“ Es geht also um jene Leute, die in der Regel mit Buchkritik ihr Geld verdienen und in den üblichen Jurys auch meistens eingeladen werden, um die Buchchampions der nächsten Saison zu küren und hübsche Preise zu vergeben.

Denn wer so gekürt wird, bekommt die nötige Aufmerksamkeit. „Let’s talk about Sendeplätze, Bebi“, titelt Preuß also. Und zitiert dann auch so weise Autoren wie Hubert Winkels, Peter Hacks und Dirk Knipphals. Denn die literaturtheoretischen Diskussionen darüber, was Kritik zu sein hat, sein sollte und sein müsste, gehen ja immerfort weiter. In kleinen Zirkeln und etwas größeren akademischen Seminarräumen.

Nur die Leser wird es nicht die Bohne interessieren. Die Klagenfurter Klagerunde umso mehr. Und weil bebrillte Herren und Damen, wenn sie erst einmal ein Thema als problematisch zu sehen begonnen haben, schnell eine Krisis heraufbeschwören, scheint da irgendwo in den theoretischen Höhen des Olymps auch eine ausschweifende „Krisis der Literaturkritik“ vor sich hin zu schwelen.

Missverständnisse um Narrative

Die aber so neu nicht ist, sondern mindestens 100 Jahre alt. Denn wirklich viel hat sich seit Theodor Lessing nicht verändert, der sich zwar auch höchst akademisch ausdrückte, aber „Literaturkritik nämlich als Narrationskritik“ verstand. Und das heute so oft beschworene Narrativ als „sprachlich elaborierte Sinngebung des Sinnlosen“.

Was Preuß zitiert, aber den größeren Rahmen weglässt. Denn bei Theodor Lessing ging es zuallererst um die „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“. Das hören zwar Geschichtslehrer ungern, stimmt aber. Der Mensch ist das erzählende Tier. Indem er sich Geschichten über die Welt, das Leben und den ganzen Rest erzählt, gibt er der an sich sinn-losen Welt einen Sinn. Er erzählt ihn hinein. Geschichten machen für ihn die Welt begreifbar und deutbar.

Ich weiche hier komplett ab vom mäandernden Suchen des Autors. Aber er gibt am Ende selbst zu, dass er leider nicht fand, was er suchte: „Wir mäanderten – auf etwas hin, was das kritische Anliegen der Kritik sein könnte.“

Kann passieren. Ist nicht schlimm. Alles, was Menschen sich über sich und die Welt erzählen, ist nun einmal – nur – eine Geschichte. Wissenschaftlich gesprochen: eine These. So könnte es sein. Danach muss man hingehen und prüfen, die These ordentlich auf den Experimentiertisch packen und ausprobieren, ob stimmt, was sie erzählt.

Und die gute Botschaft für alle erschrockenen Autorinnen und Autoren: Auch in belletristischen Büchern abgedruckte Texte sind Narrative. Sinnstiftende Erzählungen für die Horde, wie es Wikipedia so schön auf den Punkt bringt. Wer also Literaturkritiken schreibt, bekommt es zwangsläufig mit Narrativen zu tun und muss sich auch mit der Frage beschäftigen: Funktionieren sie für mich? Sind sie für mich nachvollziehbare Erzählungen über die Welt?

Die Schönheit subjektiver Kritik

Und noch schöner ist: Auch Kritiken sind Narrative. Sie erzählen davon, wie sich der Kritiker das Buch erschlossen hat und das Narrativ aufgefasst hat für sich. Womit dann schon mal die Hälfte aller literaturwissenschaftlichen Behauptungen sich als falsch erweisen: Kritiken können per se nicht objektiv sein. (Kleines Erschrecken: Eine objektive Literaturwissenschaft ist damit auch ein Ding der Unmöglichkeit.) Sie sind immer subjektiv.

Das dürfen sie auch sein. Manche Kritiker waren deshalb so beliebt, weil sie oft viel besser erzählen konnten als die Autoren, deren Bücher sie auf ihrem Nachtschränkchen liegen hatten. Manchmal war mehr Ego in ihren Kritiken als Bezug auf das Besprochene. Da liest man dann selbst die in Buchdeckel gepackten Verrisse eines Marcel Reich-Ranicki mit Genuss. Selbst dann, wenn man dessen Urteil nicht teilt. Und im Urteilen war er stark.

Aber man ahnt es schon im ersten Teil von Preuß’ Buch: Das Urteilen ist nicht wirklich Aufgabe von Kritik. Auch wenn es die Musterschüler unter uns so lieben. Da hat man so eine schöne Orientierung als fertig gebildetes Werkstück: Die Note zeigt, ob etwas gut ist. Auch wenn es hinterher keiner liest oder nach drei Seiten einschläft und den Bestseller nie wieder zur Hand nimmt.

Etwa jene Bestseller, die Tim Preuß exemplarisch noch einmal vorgenommen hat, weil sie die gefeierten Spitzentitel einer literarischen Mode waren, die man mit gutem Recht als Popmoderne klassifizieren kann: Wolfgang Herrndorfs „In Plüschgewittern“ und „Tschick“, Christian Krachts „Faserland“ und „Eurotrash“, Benjamin von Stuckrad-Barres „Soloalbum“, Jörg Fausers „Rohstoff“, Rainald Goetz’ „Subito“ und – nicht zu vergessen – Thomas Brussigs „Helden wie wir“ und „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“.

Wenn eine Gesellschaft ihr Narrativ verliert

Wobei Tim Preuß so nebenbei auch deutlich macht, dass diese Titel auch ein Zeitgefühl wiedergeben und geradezu typisch für die frühen Jahre des wiedervereinigten Deutschland waren. Titel, die augenscheinlich auch für die maßgeblichen Kritikerinnen und Kritiker ihr eigenes Zeitgefühl trafen – eins der Verwirrung, der Ziellosigkeit, der vergeblichen Suche nach (einem neuen) Sinn. Manche stecken da immer noch drin.

Denn es ist das Lebensgefühl von Menschen, die sich nirgendwo mehr wirklich heimisch und zugehörig fühlen, die den Sinnverlust im eigenen Leben auf die ganze Gesellschaft projizieren. Und damit auch ihr Kontra formulierten zu einer ziemlich schein-heiligen Gesellschaft, die so stolz ist auf ihre „Werte“ und ihren Fleiß und ihre Strebsamkeit. Die aber nicht merkt, dass weder Geld noch Karrieren Sinn produzieren.

Das Schöne ist ja, dass genau diese oft selbst mäandernden und radikal ich-bezogenen Bücher genau das benennen, was fehlt: das Narrativ. Davon lebt ja gerade die Provokation auch der scheinbar so gelangweilten Juroren, die am Ende dankbar sind für die Provokation, weil diese dann wenigstens noch etwas Greifbares ist im oft furiosen Auskippen eines Innenlebens, in dem alles gleich und gleichwertig ist. Was auch wieder eine Geschichte erzählt vom ziemlich einsamen Dasein des Menschen in einer Gegenwart, in dem Sinn kaum noch zu finden ist, weil alles nur noch Selbstzweck ist.

Was die Popmoderne deswegen nicht überflüssig macht. Literaturströmungen sind immer auch Spiegelbild der Gesellschaft. Preuß scheibt von „maßlosen Texten“, nachdem er die in den 1980er Jahren veröffentlichten Texte von Wolfgang Welt quasi zum eigentlichen Vorbild popmoderner Literatur erklärt hat. Denn hier zeigt sich, dass es im popmodernen Erzählen immer auch um die Hinterfragung der Rolle des Erzählers geht. Der sich als fehlbar outet und seine Version der Geschichte als durchaus falsifizierbar. Oder mit Preuß’ Worten: „Nun ist diese Umwelt dem filternden Subjekt jedoch nicht bloße Kulisse. Der Erzähler ist ihr Chronist und Beobachter, der sich selbst weder für unfehlbar noch für allzu wichtig hält.“

Kontra für die Allwissenden

Und der damit den Lesern eben nicht nur einen Egotrip vorsetzt, sondern auch ganz bewusst nur seine Version der Geschichte. Im Grunde die radikalste Absage an den bei deutschen Professoren so beliebten „allwissenden Erzähler“, der seitenlang in inneren Monologen schwelgen kann und den Lesern suggeriert, er könne auch jederzeit in die Köpfe seiner Heldinnen und Helden schauen.

Während gerade popmoderne Autoren genau diese Masche demontieren und konsequent ihre ganz subjektive Sicht auf das Geschehen darbieten – manchmal satirisch und lustvoll überspitzt, auch wenn dabei am Ende auch wieder jeder Menge Stereotype herauskommen. Nicht nur bei Brussig und seiner Eulenspiegel-Dekonstruktion der DDR.

So gesehen ist popmodernes Erzählen auch eine Bereicherung und erzählt eben nicht nur von den erzählerischen Einsamkeiten ihrer Helden in ihrer Halt- und Ortlosigkeit im Leben. Das kann man manchmal übersehen, wenn man dann auch noch mit Jugendslang und Popmusik-Versatzstücken genervt wird. Oder gar ganzen Passagen englischer Songs von Bands, die sonst kaum einer kennt, die aber geradezu zur Szene-Erkennungsmelodie werden. Verortung durch Songzitate.

Natürlich erzählt das dann auch vom Nicht-Erzählbaren eines erlebten Lebens in einer Welt, in der alles zur Ware wird und die großen, alle vereinenden Geschichten fehlen. (Was ja bekanntlich etliche Menschen dazu bringt, sich alte Kloppergeschichten aus der Mülltonne der Geschichte wieder herauszuholen).

Warum lesen Leute?

Gerade die von Preuß ausgewählten Vertreter der Popmoderne, die er hier in sein eigenes kleines Museum platziert, erzählen genau von dem Phänomen, das in Westdeutschland schon in den 1980er Jahren spürbar wurde, Resultat auch der sogenannten „geistig-moralischen Wende“, die ein Helmut Kohl schon Anfang der 1980er Jahre propagierte und die doch nirgendwo hinführte.

Außer zu der konservativ-bürgerlichen Verachtung für alle Außenseiter, Ausreißer, Nicht-Angepassten. Gegen dieses moralische Muffeln war Popmoderne von Anfang an auch ein Gegen-Narrativ.

Es geht eben nicht, Texte nur aus sich selbst heraus zu interpretieren. „Kritische Kritik muss also auf Sinnangebote und Weltmodellierung, auf Werte und Normen zielen“, stellt Preuß in Teil vier der „Thesen zur kritischen Kritik“ fest. Denn es geht immer um den Leser. Nur so am Rande: Auch der Kritiker agiert als Leser. Auch er liest nicht zweckfrei. Auch ihm geht es letztlich um die erzählte Geschichte, das Narrativ und um Orientierung. Auch deshalb liest der Mensch. Wenn das Buch gut erzählt ist, mit jeder Menge Gewinn.

Und so sollten eigentlich auch Kritiken geschrieben sein: kleine Narrative des Gelesenen. Schön subjektiv. Mit Ansichten und Einsichten. Das Urteil muss sich der Leser selber bilden. Wenn überhaupt. Denn Narrative funktionieren nur, wenn sie angenommen werden und berühren. Und vielleicht sogar neugierig machen auf das Erzählte. Und da ist der Kritiker eben nicht dem Wissenschaftler verwandt, sondern dem Autor. Womit wir wieder beim Stil wären.

Tim Preuß „Museum der Popmoderne. Kritik“, Thelem Universitätsverlag, Dresden 2022, 17,80 Euro.

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Keine Kommentare bisher

Gut geschriebene, d.h. erzählte Kritik. Also Kritik der Kritik der Kritik, sozusagen. Womit wir beim Thema vulgo Problem wären: die akademische Kritik würd zunehmend obsolet, der “Wahnsinn von Bookstagram, Buchbloggerei und Co”regiert. Wobei zu Fragen wäre, ob dieser vermeintliche Wahnsinn nicht unendlich demokratischer, relevanter und einsichtiger ist als die akadmisierte Analysiererei.

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