„Glauben heißt, dazugehören“, lautet eine Überschrift in diesem Buch des Politologen Jonathan Rauch, das 2021 unter dem Titel „The Konstitution of Knowledge“ erschien. Das war dem Stuttgarter Hirzel Verlag vielleicht nicht knackig genug, weshalb er den Untertitel zum deutschen Titel machte: „The Defense of Truth / Die Verteidigung der Wahrheit“. Denn der Kern unserer Gesellschaft hat mit Wissen und Erkenntnis zu tun. Glauben und Meinen sind ganz schlechte Ratgeber – gerade in chaotischen Zeiten.

Dafür hat Hirzel gleich mal einige dieser Probleme einer Zeit in den Untertitel genommen, in der selbst Politiker scheinbare emotionalen Amok laufen und Generalangriffe gegen die Institutionen der demokratisch verfassten Gesellschaft starten: „Fake News, Trolle, Verschwörungstheorien und Cancel Culture“.

Mit diesen Phänomenen beschäftigt sich Jonathan Rauch auch im Einzelnen und teilweise sehr ausführlich. Aber im Kern geht es ihm darum, seinen Leserinnen und Lesern überhaupt erst einmal klarzumachen, was eigentlich die Grundlagen der Demokratie sind, warum sie nicht nur überlebensnotwendig sind, sondern sogar funktionieren und die tatsächliche Basis dafür sind, dass die Menschheit in den vergangenen 200 Jahren auch einen derartigen ökonomische und wissenschaftlichen Aufschwung geschafft hat.

Der Wert des freien Redens

Es geht nicht nur um Meinungsfreiheit. Aber auch. Aber ganz bestimmt in einem völlig anderen Sinn, als ihn die meisten Leute verstehen, die immerfort um die Beschneidung ihrer Meinungsfreiheit jammern, während sie öffentlich und digital gerade nichts anderes tun, als ihr Meinung in alle Welt zu posaunen.

Aber das Verständnis dafür gewinnt man erst, wenn man mit Rauch ganz zu den Anfängen zurückgeht, zu den funktionellen Grundlagen der Demokratie, die es in der Geschichte niemals leicht hatte und immer wieder auch Opfer von Populisten, Charismatikern und anderen autokratischen Männern wurde, die immer davon profitierten, dass eine Menge Leute nur zu bereit waren, ihnen zu glauben und zu folgen.

Nur hat das die Menschheit selten wirklich weitergebracht. Denn es unterdrückt genau das, was den Fortschritt erst in Gang bringt: Eigeninitiative, Neugier, die Lust am Ausprobieren, am offenen Diskurs und der Suche nach neuen Lösungen. All die Dinge, die die Welt seit 200 prägen und so radikal verändert haben.

Aber kaum einer ist sich dessen bewusst, dass die Grundlage dafür das ist, was Rauch die „Verfassung der Erkenntnis“ nennt, bewusst angelehnt an die amerikanische Verfassung, die in erster Linie eben nicht nur aus ein paar aufgeschriebenen Bürgerrechten besteht, sondern die frühen Erfahrungen der amerikanischen Verfassungsväter bündelt.

So, wie ein Staat eigentlich gebaut sein muss, damit er möglichst dauerhaft verhindert, dass sich charismatische Karrieristen und vom Ehrgeiz getriebene Männer wieder zum Alleinherrscher aufschwingen können oder wie Sekten agierende Parteien die Macht und den Staat an sich reißen und dann doch wieder eine Diktatur errichten.

Die frühen Lehren des 18. Jahrhunderts

Rauch geht zurück bis zu all den Philosophen, die sich im 17. und 18. Jahrhundert Gedanken gemacht haben darüber, wie so ein Staat aussehen müsste: Hume, Locke, Rousseau. Leute, deren Thesen bis heute diskutiert werden. Doch selbst das schönste Staatskonstrukt ist wehrlos, wenn Eigeninteresse, Ehrgeiz, Eitelkeit und Machtsucht die Menschen ergreifen und ein paar Wenige die Macht okkupieren.

Wie bewahrt man einen Staat davor? Es waren am Ende amerikanische Staatstheoretiker wie Alexander Hamilton, die für dieses urmenschliche Problem eine Lösung entwickelten, die die Amerikaner heute „checks and balances“ nennen, ein System der politischen Machtteilung auf verschiedene Institutionen, die die politischen Akteure regelrecht zwingen dazu, immerfort Kompromisse auszuhandeln.

„Die Genialität des Kompromisses“, nennt es Jonathan Rauch und erläutert, warum der schlechte Ruf, den Kompromisse haben, falsch ist und jede Menge mit den Vorurteilen von Leuten zu tun hat, die glauben, alles besser zu wissen als andere. Und davon gibt es verdammt viele. Und viele von diesen sammeln sich in der Politik, weil es da etwas zu holen gibt, wonach eitle und eingebildete Leute geradezu gieren: Macht und Aufmerksamkeit.

Leute, die oft nicht mal begriffen haben, was selbst der alte Sokrates wusste: Wer wirklich weiß, weiß, dass er von dem, was man wissen kann, fast nichts weiß. Er ist sich der Begrenztheit seines Wissens bewusst. Oder mit einer Kapitelüberschrift von Rauch: „Du und ich sind voreingenommener als wir“. Denn wer wirklich etwas weiß, zweifelt. Auch an sich selbst und der Endgültigkeit seiner eigenen Erkenntnisse.

Was natürlich mit der Begrenztheit der menschlichen Erkenntnisfähigkeit zu tun hat. Gerade Wissenschaftler werden sich hüten, zu irgendetwas zu sagen, das sei die Wahrheit. Es gibt keinen Menschen, der den vollkommenen Zugang zur Wahrheit hat.

Wir erkennen die Welt nur als Bild, als Interpretation und These darüber, wie die Dinge wirklich sein könnten. Wir können darüber überprüfbare Behauptungen aufstellen. Aber belastbare Modelle davon, was die Wahrheit ist, bekommen wir nur, wenn wir unsere Vermutungen immer wieder überprüfen.

Niemand ist unfehlbar

Es ist kein Zufall, dass Rauch neben die Demokratie die Wissenschaft und die Medien stellt. Und auch die Ökonomie, die er aber eher nur am Rande behandelt. Aber alle vier Bereiche des menschlichen Wirkens sind evidenzbasiert. Was Wissenschaftler als Forschungsergebnis veröffentlichen, muss jederzeit von jedem anderen Forscher unabhängig überprüft werden können.

Was durchaus auch bedeuten kann, dass die Forschergemeinde das so schöne Forschungsergebnis falsifiziert, weil das Experiment nicht wiederholbar ist oder das Datenmaterial nicht stimmt oder auch der geniale Wissenschaftler seinen eigenen Vorurteilen aufgesessen ist. Auch Wissenschaftler sind nur Menschen. Der einzelne Forscher kann irren. Aber nicht die Wissenschaft.

Weshalb Rauch auch sehr ausführlich darauf ein geht, wie Wissenschaft tatsächlich funktioniert und in den vergangenen Jahrhunderten regelrecht institutionalisiert wurde. Denn es sind die Institutionen, die Wissenschaft als Prozess der Erkenntnis erst möglich machen, Forschungsergebnisse permanent der Kritik und der Lust auf Fehlersuche anderer Kollegen aussetzen.

Es ist ein System, das das Suchen nach Fehlern sogar honoriert. Erst so entsteht nach und nach ein geprüfter Wissensfundus, der das enthält, was wir derzeit über die Welt und die Wahrheit wissen können, abgelegt in Bibliotheken und Wissensreservoirs, auf die jeder jederzeit Zugriff hat.

Es so wird Wissen zum Allgemeingut, zusammengetragen wie der Honig in einem Bienenstock. Der Einzelne muss das gar nicht alles wissen. Aber die menschliche Gemeinschaft weiß es und kann jederzeit darauf zugreifen. Der Wissenschaftsbetrieb ist so aufgebaut, dass seine Mitglieder überhaupt nicht genial sein müssen, um darin forschen zu können.

Wichtig ist nur, dass sich alle an die Regeln halten und wissen, wie die Suche nach Wahrheit funktioniert. Regeln, zu denen so simple Dinge wie Fallibilismus und Rechenschaftspflicht gehören. Was behauptet wird, muss jederzeit einer Überprüfung offenstehen. Fehler müssen korrigiert werden.

Widerspruch muss möglich sein. Und kein Mitglied der Gemeinschaft hat ein Recht auf Exklusivität, kann also einfach deshalb, weil er etwas Besonderes sein will, bestimmen, was wahr und was falsch ist.

Die wichtige Rolle von Institutionen

Und siehe da: Es sind dieselben Prinzipien, die auch in den andern evidenzbasierten Bereichen unserer Gesellschaft gelten: In der Regierung, im Rechtswesen und – schau an – im Journalismus. Und da überrascht es nicht, dass alle diese Bereiche heute von Populisten aller Art verbal angegriffen werden.

Denn wer die realitätsbasierte Gesellschaft angreift, zerstört ihre Grundlagen. Der Angriff auf die „Mainstream Medien“ ist dabei ganz zentral. Denn er soll aushebeln, was auch der Journalismus in den letzten 100 Jahren erst nach und nach lernen musste und inzwischen in Regeln gegossen hat und – noch wichtiger, wie Rauch feststellt – in Institutionen.

Institutionen, die ihre eigenen internen Prüfabläufe entwickelt haben. Institutionen, die dafür sorgen, dass Fakenews, Gerüchte, erfundene Geschichten usw. es möglichst nicht bis zur Veröffentlichung schaffen, sondern vorher ausgesiebt werden, hinterfragt werden, falsifiziert.

Auch hier gilt – wie in der Wissenschaft – die fallibilistische Regel, wie Jonathan Rauch feststellt: „Keiner hat das letzte Wort.“ Keiner kann mit einem Machtwort festlegen, was richtig und was falsch ist. Jeder Autor ist fehlbar und muss seine Beiträge der Überprüfung aussetzen.

Was es Journalisten sogar leichter macht, zu arbeiten, denn es gibt dann immer noch mehrere Instanzen und Kolleg/-innen, die seinen Text auf Fehler und Irrtümer hin untersuchen. Zehn Augen sehen mehr als zwei. Und wo einer sich irren kann, ist die Wahrscheinlichkeit, dass die ganze Redaktionsmannschaft oder gar alle Medien sich irren, um ein Vielfaches geringer.

„Entscheidend ist dabei, dass sie ein Netzwerk bilden und keine Hierarchie“, schreibt Rauch. „Kein einzelner Torwächter kann entscheiden, welche Hypothesen ins System gelangen …“ Das Netzwerk erst schafft den notwendigen Filter, dass es Fakenews und Gerüchte in den klassischen journalistischen Medien schwer haben, Aufmerksamkeit zu erwecken.

Das Problem mit den digitalen Plattformen

Anders als in den sogenannten „sozialen Medien“, wo es diese Filter bislang nicht gab und wo jeder seine Meinung hinausposaunen konnte – ohne Filter. Egal, ob Lüge, Verleumdung, Verdrehung, Verschwörungstheorie. Wenn man mit Rauch auf diese riesigen Plattformen schaut, die bis 2016 irgendwie überhaupt nicht begreifen wollten, was sie mit ihrer völlig enthemmten Veröffentlichungspraxis anrichteten, sieht man den Baufehler dieser Plattformen genauer, die sich nur zu gern hinter der postulierten Meinungsfreiheit versteckten.

Dass sie damit zu Instrumenten für Manipulation, Propaganda, Mobbing, Trollwesen und Verschwörungstheorien geworden sind, haben die Macher dieser Plattformen erst spät begriffen. Eigentlich erst im Präsidentschaftswahlkampf 2016, als ein Donald Trump mit Lügen und Verdrehungen zeigte, wie man die Basis einer vernunftgeleiteten Gesellschaft zerstören kann.

Jonathan Rauch schreibt dazu: „Drittens haben die digitalen Medien das Programm der liberalen Wissenschaft in den Rückwärtsgang versetzt, indem sie die sozialen Anreize verkehrt haben, auf die die realitätsbasierte Gemeinschaft angewiesen ist. Statt den Fluss der Informationen zu verlangsamen, indem sie vor ihrer Weiterverbreitung begutachtet und getestet werden, haben die digitalen Medien verzögerungsfreies, impulsives Verhalten belohnt.“

Emotionen regieren statt sachlicher Diskussionen. Und statt miteinander sachlich und faktenbasiert zu diskutieren, nehmen die Nutzer schnurstracks den Weg in ihre jeweilige Blase der Gleichgesinnten und entwickeln regelrecht Ängste davor, sich überhaupt noch mit Leuten zu unterhalten, die anderer Meinung sind. Oder auch nur in Punkten widersprechen.

Wie Netzwerke wirklich funktionieren

Dass es auch anders geht, analysiert Rauch am Beispiel von Wikipedia, einem Netzwerk tausender Freiwilliger, die sich aber Regeln gesetzt haben und lauter Filter eingebaut haben, sodass alle Artikel, die online gehen, auch überprüft sind und jederzeit falsifiziert und korrigiert werden können und müssen.

Denn alle, die hier mitmachen, sind sich dessen bewusst, dass es da draußen auch noch einen Haufen Menschen gibt, die nur zu gern auch Lügen und Falschbehauptungen in die Texte schmuggeln. Dass aber auch der gutwilligste Autor Fehler machen kann. Man gesteht sich die eigene Fehleranfälligkeit zu. Es ist erst die Arbeit des Netzwerkes, die dazu führt, dass am Ende belastbare und wahrhaftige Texte im Netz stehen.

Die Suche nach der Wahrheit ist immer Netzwerkarbeit.

„Doch Facebook, um das prominenteste Beispiel zu nennen, ist eben nicht nur eine Plattform. Es ist auch eine Gemeinschaft, und Gemeinschaften implodieren, wenn sich Soziopathen ungehemmt austoben können“, schreibt Rauch.

Der Verzicht auf Filter und Regulierung schafft den Raum für Soziopathen, die in der Regel ungehemmt und mit enormem Aggressionspotenzial agieren. Sie sind eine Minderheit, aber da sie ungehemmt agieren können und sich fast immer auch mit ähnlich gestrickten Akteuren vernetzen, gewinnen sie eine geballte Macht, die zu regelrechten Vernichtungsfeldzügen durchs Internet streift.

Die Plattformen können sich also den Regeln unserer Gesellschaft nicht wirklich entziehen, wenn diese Gesellschaft überleben will. Wir sind darauf angewiesen, dass die Suche nach Erkenntnis Basis all unseres Handelns ist und dass wir grundlegende Institutionen haben, die sich der permanenten Suche nach der Wahrheit verschrieben haben.

Institutionen, die in den vergangenen 200 Jahren entstanden sind, nachdem zumindest ein paar kluge Leute was draus gelernt haben, was passiert, wenn man keine solchen Netzwerke hat. Netzwerke, die geradezu davon leben, dass das offene Gespräch möglich wird und viele Sichtweisen möglich sind.

Erst so werden Aussagen und Ergebnisse aus diversen Perspektiven überprüfbar und Wahrheit etwas, das im gemeinsamen Prozess immer besser erkannt wird.

Das Recht zur Kritik

Und das trifft auf Wissenschaft und Medien genauso zu wie auf die Gesellschaft selbst: Offen und ehrlich wird das gesellschaftliche Gespräch ernst, wenn sich niemand Deutungshoheit und Alleinanspruch auf die Wahrheit anmaßen kann, jeder sich der Überprüfbarkeit seines Sprechens ausliefern muss und auch aushalten lernt, dass Kritik am Gesagten möglich und oft sogar berechtigt und notwendig ist.

Am Gesagten wohlgemerkt, nicht an der Person. Denn wenn die Person angegriffen, gar diffamiert wird oder mit Existenzvernichtung bedroht, hat man es mit Trolling und Cancel Culture zu tun. Dann wollen die Angreifer sich gar nicht erst mit dem Gesagten auseinandersetzen, sondern den Diskurs zerstören. Und vor allem eines angreifen: die gemeinsame Suche nach Wahrheit. Und sie wollen die Angegriffenen zum Schweigen bringen.

Und auf einmal wird deutlich, wie sehr die freie Rede die Grundbedingung für eine nach Erkenntnis suchende Gesellschaft ist. Dass sie nicht nur das Miteinander bestimmt, sondern auch die Freiheit. So schwer das oft auszuhalten ist. Und es sind gerade die Institutionen, die den Mut der Einzelnen stärken (sollten), sich nicht einschüchtern zu lassen.

Rauch fasst es so zusammen: „Die Achtung vor den Tatsachen ist der wahre Kern der realitätsbasierten Gemeinschaft. Manchmal täuschen wir uns über sie. Selbstverständlich. Aber wir mogeln nicht. Wir nehmen nicht den einfachsten Weg. Wir machen uns – gegenüber anderen, gegenüber unserer Gemeinschaft – rechenschaftspflichtig dafür, dass wir bequeme Fiktionen und Halbwahrheiten ablehnen.“

Die Suche nach der Wahrheit ist nie beendet. Sie geht immer weiter. Doch das Bemühen, sie immer besser zu verstehen, ist die Grundlage unserer Gesellschaft. Diese Suche bringt uns voran – und zwar in all den Bereichen, die Jonathan Rauch unter die Lupe nimmt und die alle dazugehören.

Man bekommt einen funktionierenden Rechtsstaat nicht ohne eine demokratische Verfassung, nicht ohne ein Netzwerk der freien Wissenschaft und unabhängige Medien, die sich den Regeln des Fallibilismus unterwerfen. Und damit der Verfassung der Erkenntnis.

Erst das macht unsere Gesellschaft widerstandsfähig gegen die Zumutungen des Subjektivismus und der Voreingenommenheit, die sich selbst nicht infrage zu stellen bereit sind und sich ihre „Wahrheiten“ je nach Belieben selbst erfinden.

Jonathan Rauchs Buch ist ein richtig starkes Plädoyer für die evidenzbasierte Gesellschaft in allen ihren Facetten. Und dafür, diese Grundlagen überhaupt wieder wahrzunehmen.

Jonathan Rauch Die Verteidigung der Wahrheit Hirzel Verlag, Stuttgart 2022, 28 Euro.

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