58 Wochen lang in 58 Teilen konnten Leser/-innen der LZ mitverfolgen, wie Francis Nenik das letzte Regierungsjahr von Donald Trump verfolgte. Aus der Ferne und trotzdem nah dran, auch wenn er daheim im Muldental saß und ganz zu Anfang jede Menge Hilflosigkeit spürte: „Tagebuch eines Hilflosen“ nannte er darum das Mammutprojekt, das er am 20. Januar 2017 begann, dem Tag der Inauguration Donald Trumps als Präsident der USA. „Der Vogel hebt ab ...“

Anfangs ließ er in seinen täglichen Tagebucheinträgen durchaus noch durchblicken, wie hilflos er sich der Tatsache gegenübersah, dass es die Amerikaner fertiggebracht hatten, so einen Typen zum Präsidenten zu wählen. Aber man schreibt nicht 1.461 Tage lang Tagebuch, um darin immer nur sein Unverständnis auszudrücken über einen Präsidenten, der so unverschämt log, sich selbst in den Himmel hob und die Welt brüskierte, Verträge kündigte, die Presse beschimpfte, Frauen verachtete und in lauter schleimige Affären verwickelt war.Als Francis Nenik 2019 begann, komprimierte Versionen seines Tagebuchs in der LZ zu veröffentlichen, hatte sich der Charakter des Tagebuchs schon deutlich verändert. Anders als die mediale Berichterstattung in Deutschland über diesen trollenden und selbstgerechten Mann im Weißen Haus.

Denn anders als die selbst nur zu gern auf Empörung gebügelten Medien, die in Wirklichkeit immer nur dieselben Nachrichten aufkochen, aufschäumen und mit den Nutzern fraternisieren, als ginge es einfach nur darum, den Wüterich im Oval Office peinlich zu finden wie einen, mit dem niemand spielen würde, wenn er bei Verstand wäre, begann Nenik schon frühzeitig, die Möglichkeiten des Internets zu nutzen und all den Figuren nachzuforschen, die in Trumps Kasperletheater auftauchten, für Schlagzeilen sorgten und wieder abtauchten.

Die Wortspiele und kleinen Witze über den Mann mit der peinlichen Frisur wurden weniger. Denn eines wurde Nenik schon nach den ersten Wochen klar: Der Mann war weder ein Zufall noch ein Unglücksfall. Der Mann stand (und steht) für genau das Amerika, das wir alle vorher immer nur bewundert haben, ohne seine Schattenseiten sehen zu wollen. Und auch ohne die Risse sehen zu wollen, die „God’s own country“ längst hatte. Risse, die nicht nur die Republikaner zunehmend radikaler gemacht haben und am Ende regelrecht zur Schoßhundpartei für den polternden Sieger der Vorwahlen, der in der Vergangenheit die Parteien gewechselt hatte wie seine Hemden.

Aber um zu verstehen, warum gerade dieser Casino- und Golfplatzbesitzer mit seinem Ruhm aus dem TV regelrecht zum Heiligen des nicht nur weißen Arbeiter-Amerikas werden konnte, muss man verstehen, wie die USA tatsächlich ticken, wie Wahlkämpfe ablaufen und Wähler getriggert werden, wie Geld Politik macht und Politik Geld. Wie also letztendlich Millionäre und Milliardäre entscheiden, wie Demokratie zu funktionieren hat.

Und wie die Bosse der großen Konzerne direkt und indirekt Einfluss nehmen. Was natürlich deutlich wird, wenn man – wie Nenik – die online verfügbaren Datenbanken durchforscht, sich mit offiziell verfügbaren Statistiken beschäftigt und mit den Leuten, die Kampagnen inszenieren und Gesetze erlassen. Eine Tugend, die auch deutsche Medien nur zu gern vergessen. Die alte und niemals obsolete Frage: „Who done it?“

Krimileser wissen nur zu gut, dass es darum nun einmal im Leben immer geht, bei jedem Fall und jedem Vorgang: Wer hat hier die Strippen gezogen? Wem nutzt das Ganze? Welche Vorgeschichte haben eigentlich die Verdächtigen? Und welche Beziehungen bestehen zwischen den Beteiligten – etwa den mächtigen Lobbygruppen der Pharmaindustrie, der Agrarwirtschaft, den Waffendealern und Pharmakonzernen, ganz zu schweigen von den Öl- und Kohlekonzernen oder der Lobby der Privatschulverbände?

Logisch, dass der stille Beobachter im Muldental irgendwann aufhörte, seine Hilflosigkeit zu beklagen, sondern daranging, mit regelrechter Begeisterung die Täter zu demaskieren, ihre Milliarden öffentlich zu machen und ihre Kumpels und Mitverschworenen. Denn die eigentliche Verschwörung der Trump-Regierung fand ja nicht mit den Russen statt, obwohl die Russen eindeutig in der Präsidentschaftswahl mitgemischt haben.

Aber das tun sie überall, wo sie sich damit Vorteile für sich selbst versprechen. Oder – was aktuell ja die Hauptstrategie zu sein scheint – wo sie den Westen spalten und schwächen können. Weshalb nicht einmal die zum größten Teil geschwärzten Seiten des Mueller-Reports der große Skandal sind.

Denn die eigentliche Verschwörung war weder neu noch überraschend. Darin unterschied sich Trump in nichts von seinen Amtsvorgängern, auch wenn die demokratischen Präsidenten dieses Geschäft mit ihren Geldgebern nie so unverhüllt und schamlos betrieben haben wie die Präsidenten der Republikaner. Wie kaputt diese USA tatsächlich schon sind, machte dann spätestens die Corona-Pandemie sichtbar, in der Trump endgültig zeigte, dass er von seinem Amt überfordert war. Was nichts an der Treue seiner Wähler/-innen änderte und auch nichts an seiner medialen Präsenz.

Auch das gehört zur Analyse: Einfach mal zu untersuchen, wie eigentlich Macht im digitalen Zeitalter inszeniert wird, wie sehr ihre Wirksamkeit längst von ausgefeilten PR-Strategien bestimmt wird und eben nicht von klugen Analysen und Berichten in der Zeitung. Und natürlich von teuren Kampagnen, die von professionellen Kampagnen-Büros gestaltet werden und die alle in der Werbung erprobten Tricks anwenden, um die Wähler zu beeinflussen.

Etwas, was jetzt auch auf Deutschland zuzukommen droht, denn auch der CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak scheint den Bundestagswahlkampf jetzt mit einem „war room“ nach amerikanischem Vorbild organisieren zu wollen. Da sage keiner, dass die Demokratie nicht auch in Deutschland ihren Knacks weghat. Wobei die derzeit tief in der Krise steckende CDU ja nicht die erste europäische Partei ist, die das so verheerende amerikanische Modell übernimmt. Sebastian Kurz hat es ja auch schon so ähnlich versucht und damit durchaus Erfolg gehabt.

Ein von moderner PR geformtes Publikum wählt nun einmal nicht nach bestem Wissen, sondern lässt sich von Stimmungen, Gesichtern und emotional aufgemotzten Kampagnen mitreißen. In so einer Medien-Demokratie gewinnen die besten Schauspieler, aber nicht die besseren Lösungen.

Hätte Francis Nenik so weitergeschrieben wie im ersten Trump-Jahr, dann wäre das ein schlankes 500-Seiten-Buch geworden. Aber je mehr er merkte, was er alles selbst noch nicht wusste und was so auch in keinem deutschen Nachrichtenmagazin zu finden ist, umso länger wurden seine Einträge, vollgestopft mit verblüffenden Zahlen und Erkenntnissen. Und dabei waren ihm die Vorgänge in der amerikanischen Provinz genauso interessant wie die in Washington, wo Trump ja bekanntlich mit Präsidentenerlässen regierte und damit wichtige Gesetze und Schutzbestimmungen systematisch außer Kraft setzte.

Egal, ob es um den Bau einer Pipeline durch Naturschutzreservate ging, Standards in Hühnerfabriken, 50 Jahre alte Umweltschutzauflagen für Konzerne oder die Krankenversicherung für die working poor. Was Trump auf diese brachiale Weise einfach dekretierte war nun einmal der feuchte Traum jener Milliardäre, die ihr Geld schon immer lieber den Republikanern gegeben hatten, weil sie dort auf größtmögliches Entgegenkommen rechnen konnten. Wobei Trump dabei selbst seine republikanischen Amtsvorgänger übertraf.

Wenn man etwas sagen kann, dann das: Der Mann war eins mit seiner Rolle. Und das Amerika, das er nach einer zweiten Amtszeit hinterlassen hätte, wäre letztlich ein Amerika gewesen, das selbst die amerikatreuesten Europäer entsetzt hätte. Denn eigentlich hatte der Mann seine Reiche-bereichern-Agenda schon nach anderthalb Jahren abgearbeitet. Da hätte er sich eigentlich schon endgültig auf den Golfplatz verabschieden können.

Doch ab dem Zeitpunkt konnte auch Nenik beobachten, wie der Mann sich selbst radikalisierte, regelrecht trunken von seiner Macht, wie er geradezu nach immer neuen Gesetzen suchte, die er außer Kraft setzen konnte, und sich immer öfter mit den Leuten traf, die der kleine Immobilien-Tycoon zutiefst bewunderte: den Diktatoren aller Art, deren Machtfülle er auch gern gehabt hätte.

Aber schon am 8. November 2019 schrieb Nenik: „Eins ist mal sicher: Selbst wenn Donald Trump wiedergewählt wird, werde ich keinen zweiten Teil dieses Tagebuchs schreiben. Stattdessen werde ich am 20. Januar 2021 in den Copyshop gehen, dieses wunderliche Logbuch hier ausdrucken, mich mit den Blättern anschließend ins Bett legen und Trump dabei zuschauen, wie er zum zweiten Mal als Sieger in Washington vorm Kapitol steht.“

Und er würde sich denken: „Hach, was waren das damals doch für glückliche Zeiten!“

Das blieb ihm und uns vorerst erspart. Und da die Republikaner zu feige waren, das zweite Impeachment gegen Trump durchzuziehen, wo er für seinen Aufruf zum Sturm auf das Capitol hätte zur Rechenschaft gezogen werden sollen, ist der Spuk nicht vorüber. Denn damit darf Trump in drei Jahren wieder antreten. Und da die heutigen Republikaner allesamt abhängig sind vom großen Geld und diesem Kraftmeier geradezu untertänig, ist erst einmal sehr zweifelhaft, ob sie überhaupt Herausforderer finden, die Kreuz genug haben, diesem Berserker Paroli zu bieten.

Aber das ist Zukunftsmusik. Denn auch Joe Biden muss erst einmal zeigen, dass er die frustrierten und enttäuschten – nicht nur weißen – Amerikaner wieder einfangen und dem Land eine wirkliche Perspektive verschaffen kann.

Bis dahin dürfte wirklich neugierigen Leser/-innen gewiss nicht langweilig werden. Denn Francis Nenik hat sein Logbuch ja nicht in den Copyshop getragen, sondern zum Berliner Verlag Matthes & Seitz, der daraus ein 1.024 Seiten starkes Buch gebunden hat (und ein 929 Seiten dickes E-Book), ganz ohne Summs, Vorwort, Nachwort oder so. Das blanke Erlebnis in Buchform.

Und wer es liest, ist noch einmal mittendrin in der Zeit, wird sich an Ereignisse erinnern, die einstmals große Wellen schlugen und schon wie die Grenze zum Wahnsinn aussahen, aber irgendwie schon winzig wirken mit Blick auf spätere Wellen und „Skandale“. Bekanntlich hatte Donald Trump ja immer noch einen draufgesetzt und die Rolle genossen, als wäre es einfach nur eine weitere Reality-Show im Fernsehen, bei der es um Clickzahlen und Reichweite geht.

Und statt der komprimierten Beiträge, die in der LZ erschienen, gibt es auch fürs letzte Jahr des POTUIS Donald Trump die ungekürzten Tagebucheinträge, die Nenik mit ungebrochenem Fleiß immer weiter schrieb. Augenscheinlich längst so eingespielt in seiner täglichen Suche nach dem wirklich Berichtenswerten in der Amtszeit des Donald T., dass er gar nicht mehr dazu kam, sich irgendwie hilflos zu fühlen.

Im Gegenteil: Mit inniger Freude breitet er seine Fundstücke vor den Augen der Leser aus und findet dabei immer auch die Pointe, den bösen Witz in der Sache, der deutlich macht, dass die ganzen kleinen Leute, deren Jubel Trump so genoss, diesem Egomanen an der Macht völlig egal waren. Man bekommt schon ein sehr konkretes Bild davon, wie sich die Reichen in den USA ihr Land „great again“ vorstellen. Und dass sie dabei auch bürgerkriegsähnliche Zustände regelrecht einkalkulieren, machte ja gerade das letzte Donald-Jahr nur zu deutlich.

Aber etwa am 24. August 2020 schreibt Nenik über den berühmten Riss, die zerrissenen USA, dieses Dauerthema, das auch die deutschen Schlagzeilen bestimmte. „Die Rede vom zerrissenen Land scheint mir auf einer unbewussten Rückseite ziemlich rückwärtsgewandt. Die Moderne zeichnet sich ja gerade durch das Aushalten jener Differenzen aus, die ihr Wesen bestimmen.“

Natürlich bekommen deutsche Medien da und dort selbst ihre Breitseite ab. Denn wer sich so wie Nenik – wenn auch nur aus Online-Nähe – mit den ganzen gegenwärtigen Widersprüchen des heutigen Amerika beschäftigt, der merkt ziemlich schnell, was für eine magere Kost uns unsere täglichen Nachrichten ins Haus spülen: „Deshalb wäre diese Geschichte auch, um nicht zu sagen zuallererst als Medien- und Kommunikationsgeschichte zu schreiben. Das Problem wären also nicht die Differenzen, sondern die Art und Weise, wie die Menschen darüber reden. Und wie mit ihnen darüber geredet wird.“

Das vergessen Medienmacher – „hier wie da“ – zu gern, wie sehr das, was wir als Politik wahrnehmen, in Wirklichkeit eine mediale Konstruktion ist. An der mehr Leute absichtsvoll oder auch erschreckenderweise gedankenlos mitwerkeln, nicht einmal ahnend, welche Dienstbotenarbeit sie für die Akteure im Scheinwerferlicht leisten, die mittlerweile sehr gut wissen, wie man Politik zur großen Show macht und damit die potenziellen Wähler/-innen zu begeisterten Fans macht, die selbst dann jubeln, wenn man nichts von dem je getan hat, wofür man sich rühmt.

Francis Nenik Tagebuch eines Hilflosen, Matthes & Seitz, Berlin 2021, 34 Euro.

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