Der Mensch steckt voller Vorurteile. Viele Medien bauen daraus ihre Geschichten und tun dann so, als wären sie unschuldig wie die Häschen. Es ist so schön billig, in den Leuten alles wachzurufen, was sie an Schablonen und Naserümpfen in sich herumschleppen, ohne es je im Leben nachzuprüfen. Denn das ist so schön bequem: Vom Sofa aus über andere Leute nur dummes Zeug zu erzählen. Zeit für ein eigenes Buch, befand die Katapult-Mannschaft.

Wissend, dass sie nicht die erste war, die auf die glorreiche Idee kam. Weshalb Lukas Laureck im Vorwort auch noch das Vorbild würdigt – den „bulgarischen Vorurteilsgott Yanko Tsvetkov“. Danach wird’s wortkarg und treffend. Denn das ist ja das Verlockende an Vorurteilen: Man muss nicht groß darüber nachdenken. Sie kleben wie Teer an den betrachteten Nationen.

Manchmal stimmen sie. Manchmal beschreiben sie wirklich eine Besonderheit, die das Ländchen und seine Bewohner von anderen unterscheidet. Meistens aber erzählen sie mehr über die Denkfaulheit und Ahnungslosigkeit der Leute, die glauben, mit ihren Vorurteilen wüssten sie alles, was es über andere Länder und Leute zu wissen gibt.

Das fängt ja, wie wir wissen, auch schon im deutschen Antiquitätenkabinett an, pflegen westdeutsche Kleingärtner ihre Vorurteile über die ostdeutschen und die ostdeutsche ihre über die westdeutschen. Und manchmal hat ein Magazin den Schneid, die Vorurteile über die eigenen Landsleute in Karten zu packen. Karten machen alles so schön sichtbar.

Fast schon ein Klassiker ist die Karte, in der rotbraun eingemalt ist, wo man meint, der Osten habe ein fettes Problem mit Rechtsextremen, und schwarz der Osten, wo man ein fettes Problem mit Rechtsextremen hat. Nur den hellblauen Fleck mit dem Landstrich, wo man kein Problem mit Rechtsextremen hat, findet man nicht.

Vorurteile als Dorftratsch

Einige der Karten sind schon in den vergangenen Jahren für Katapult entstanden. Und wer sie kennt, weiß, dass sie immer ein bisschen hintersinnig sind und die Betrachter an der Nase packen. Und natürlich bei dessen schöner Einbildung, er habe ja gar keine Vorurteile, nein, er doch nicht! Aber da dürfte so mancher charmante Mitmensch doch schmunzeln beim Blättern, wie man nur schmunzelt, wenn man bei den eigenen liebgewonnenen Meinungen über die Welt erwischt wird.

Es ist wie der Slapstick mit der Bananenschale: Eben stolziert man noch voller herrlicher Einbildung auf die eigene Vorurteilslosigkeit (manche nennen das sogar Toleranz) durch die Gegend, die Nase schön erhoben, damit die Sonne darauf scheint – und pardauz! legt man sich der Länge nach hin, sieht Sterne und merkt, dass es vielleicht doch besser wäre, hinzugucken, wo man lang stolziert.

Und die eigenen Meinungen über die Welt vielleicht doch mal lieber zu hinterfragen. Auch wenn sie natürlich die Orientierung erleichtern. Und manchmal auch treffende Bilder ergeben – etwa zu den Niederlanden, die man ja nicht nur mit Radfahrern und Käse in Verbindung bringt, sondern auch mit ihrer Gefährdung durch den steigenden Meeresspiegel. Oder Griechenland, das ja bekanntlich über Jahre zu Prügelknaben des deutschen Feuilletons wurde, das sich zerfetzte über die Griechen, die nicht mit Geld umgehen könnten.

Da gibt eine Karte mit den eingezeichneten deutschen Frührentnern in Griechenland einen erhellenden Einblick. Sie könnte auch die griechischen Frührentner zeigen, wenn es denn welche gäbe. Es sieht so einfach aus – nur eine Farbe auf einer Landkarte – und es steckt eine ganze Geschichte dahinter.

Nicht zu übersehen ist auch, dass es meistens unsere deutschen Vorurteile sind, die hier grafisch ins Bild gefasst wurden. Vorurteile, die im Boulevard und im politischen Feuilleton bestens funktionieren, weil sie die Leser da abholen, wo sie sitzen: in ihrer ganzen schillernden Ahnungslosigkeit von anderen Ländern, von denen sie aber mit stolzgeschwellter Brust immerfort alles am besten wissen.

Über die Ukraine genauso wie über Spanien, England und Dänemark. Ab und zu werden auch die Vorurteile anderer Länder aufgespießt, an denen man dann merkt, dass es bei Vorurteilen immer um Politik und Macht geht. Denn wer die „Anderen“ definiert, der markiert sie auch. Oder versucht sie in ihrer Selbstständigkeit zu zerstören, wegzuradieren aus Karten. Mit Karten wurde schon immer gelogen, dass es krachte. Richtig krachte.

Gepflegte Ahnungslosigkeit

Dabei können klug gemalte Karten erhellende Einsichten bringen. Etwa die Großbritannien-Karte mit den Abstimmungsergebnissen zum Brexit. Oder die Tschechienkarten zu den Puffgängern aus den deutschsprachigen Nachbarländern. Oder die Polenkarte mit den billigen Tankstellen, die so ungefähr auch zeigt, was die meisten Deutschen von Polen tatsächlich kennen.

Manche Karte könnte mit dem von den Kartenmalern gern benutzen Spruch „keine Ahnung“ beschriftet werden. Denn das ist wohl der dominierende Zustand unseres Wissens über andere Länder. Im Grunde reist der heutige Mensch ja auch nicht mehr, um andere Länder und Sitten kennenzulernen. Denn aus seinem Lieblingsmedium weiß er ja schon alles darüber. Da muss man dann nur noch hinfahren, um die medial gepflegten Vorurteile bestätigt zu sehen.

Das ist jetzt zwar ganz hoch gegriffen. Aber auch A.C.Crayling beschäftigt sich in „Die Grenzen des Wissens“ mit diesem Komplex. Nur dass sich Wissenschaftler für gewöhnlich der Tatsache bewusst sind, dass sie Vorurteile haben und Methoden finden müssen, die beobachteten Phänomene trotzdem möglichst objektiv zu beurteilen.

Das ist aufwändiger und ein bisschen anstrengender, als einfach die eigenen Ansichten über alles zu stülpen und sich quasi überall die Bestätigung zu holen, dass man sowieso schon immer alles richtig gesehen hat. Diese Leute kennt jeder, die einem mit nasser Aussprache die Versicherung abringen wollen, dass sie wieder mal alles goldrichtig erkannt haben. Lauter Sherlock Holmesse, die glauben, mit praller Sofa-Erfahrung würde man die Welt begreifen.

Will man sich ertappen lassen?

Es ist ein manchmal lustiges Buch. Manchmal tut’s auch ein bisschen weh. Immer wieder regt es an, darüber nachzudenken, wohin man eigentlich gelangt, wenn man mit den Ansichten aus alten Zeitungen und Youtube-Clips glaubt, die Welt sortieren und verstehen zu können? Denn letztlich helfen sie überhaupt nicht beim Verständnis, was die Karten zum Balkan sehr schön zeigen.

Sie verwandeln die Welt in einen geistigen Sandkasten und damit in einen schablonierten Ort. Und gewiss braucht man ein kleines bisschen die Fähigkeit, über sich selbst lachen zu können, wenn man sich allein oder mit Freunden durch dieses Buch blättert, immer wieder stutzend, weil der Witz hübsch versteckt in winzigen Fleckchen auf der Karte steckt.

Aber eine Karte hätte ich mir noch gewünscht, wo schon die Karte „Wie sich die Schweiz vorstellt“ im Buch ist: die Karte „Wie sich Deutschland vorstellt“. Die liegt garantiert noch irgendwo in Greifswald auf einem Schreibtisch und jeden Tag guckt einer darauf und schüttelt den Kopf: „Das können wir nicht veröffentlichen. Das ist zu heftig.“

Denn das geht ja schon bei so einer simplen Karte los, die „den Osten“ zeigt. Und gleichzeitig den „wirklichen Osten“, zu dem, wenn man es geografisch richtig macht, auf einmal Leute gehören, die nichts lieber tun, als ihre vorgefassten Meinungen über die Ostdeutschen jeden Tag in jedes Mikro zu knödeln, das ihnen unter die Nase gehalten wird.

Wir sind schon ein Volk. Und was für eins.

„Wahre Vorurteile über deine beknackte Heimat“, Katapult Verlag, Greifswald 2023, 18 Euro.

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