Bei Bielefeld kursieren ja unbestätigte Gerüchte, dass es die Stadt gar nicht gibt. Und Wuppertal ist wohl auch eher eine launige Erfindung. Jedenfalls kommt Benjamin Fredrich auch bei seiner ausgedehnten Lesereise mit seinem Buch „Die Redaktion“ nicht hin. Das hat der Katapult-Gründer 2020 veröffentlicht, wie man das so macht als Debütant – mitten in der Corona-Zeit. Alle Lesungen abgesagt. Aber das haut einen Fredrich nicht um.

Er macht einfach weiter. Er kann gar nicht anders. Davon erzählt nun die Fortsetzung seiner Eulenspiegel-Geschichte, die es ja doch irgendwie ist, Motto: „Alle illegalen Handlungen sind fiktiv oder verjährt.“ Was betont werden muss. Denn tatsächlich erzählt er die Katapult-Geschichte weiter. Katapult ist mittlerweile nicht mehr nur das Magazin mit den frappierenden Karten und Grafiken, welche die Seltsamkeiten unserer Gegenwart auch für Leute fassbar machen, die es mit dem Erfassen von Zahlen und Mengen nicht so haben. Also so ziemlich alle.

Denn das, was in deutschen Schulen als Mathematik in die Köpfe gekippt wird, ist ja bekanntlich selten so realitätsnah, anschaulich oder gar mitreißend, dass die Jugendlichen am Ende das Gefühl haben, das Fach hätte irgendetwas mit ihrem eigenen Leben zu tun.

Auch wenn sich dann viele wie echte Mathegenies fühlen. Reden wir nicht weiter darüber.

Was hat Fredrich dann studiert? „Irgendwas“, schreibt er in der Selbstauskunft. Wikipedia verrät: Politikwissenschaft und Geschichte. Also eher so Fächer, die man belegt, wenn man nicht so richtig weiß, wohin mit sich. Es sei denn, man will sich mal in einer anstrengenden Partei bis zu einem Mandat in MeckPomm hocharbeiten.

Fortsetzung folgt …

Fredrich hat lieber das Katapult-Magazin gegründet, dessen Chefredakteur er von 2016 bis 2023 war. Warum er zurückgetreten ist, hat er in einem Beitrag für das Katapult-Magazin selbst erzählt.

Dieses Kapitel aus seinem Leben erzählt er in „Funk in Wuppertal“ noch nicht. Auch wenn man ahnt, dass er sich immer zu viel vornimmt und lieber auf zehn Hochzeiten tanzt als nur auf zweien. Wer die Katapult-Geschichte nicht selbst verfolgt hat, erfährt hier, was Fredrich und seine Mitstreiter in den letzten Jahren getrieben haben, nachdem sich das Katapult-Magazin etabliert hatte und bis heute eine große Anhängerschar hat. Eben weil das Magazin Politik, Weltgeschehen und Gegenwart nun einmal so zeigt, wie es die meisten Zeitungen nicht tun.

Und weil er sich über die Berichterstattung der Ostsee-Zeitung, in deren Verbreitungsgebiet Greifswald liegt, mehr und mehr ärgerte, gründete er einfach mal eine eigene Zeitung: Katapult MV.

Weil aber gut ausgebildete Journalistinnen und Journalisten fehlen, die nicht alle zu den dicken Tieren auf der großen Medienweide abwandern, weil ihnen mühsamer Lokaljournalismus zu anstrengend ist, gründete er auch gleich noch eine Journalistenschule. Weil der Verlag aber auch ein eigenes Verlagshaus braucht, kaufte er eine alte Schule, die in gewisser Weise als Baustelle den Rahmen abgibt für diesen Baustellen-Roman, der eigentlich kein Roman ist.

Obwohl ja in die Kategorie Roman alles hinein gestopft wird, was irgendwie dreistellige Seitenzahlen hat. Manche Leute halten ja auch „Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman“ für einen Roman.

100 Karten über alles

Das Stichwort Eulenspiegel bringt es vielleicht eher auf den Punkt: Fredrich liebt Anekdoten. Und Streiche sowieso. Und so erzählt er sein Buch auch, gern schon einmal quer durch die Zeit hüpfend, sodass man nicht immer weiß, in welchem Jahr er jetzt eigentlich gerade steckt. Aber das musste wohl alles erzählt werden. Jetzt. Und zwar in einem Rutsch. Auch die Gründung seines Projekts Katapult Ukraine, um das er sich jetzt stärker kümmern will.

Im Buch selbst schildert er die abenteuerliche Fahrt mit Helmen und Schusswesten im Auto nach Kiew und seinen Besuch in Butscha – wenige Tage, nachdem die Kriegsverbrechen der Russen dort bekannt geworden sind.

Aber er erzählt auch von der Gründung eines eigenen Buchverlages, nachdem zwei Bücher, die Katapult in Zusammenarbeit mit einem bekannten Großverlag herausgebracht hatte, zu einem echten Verkaufserfolg geworden waren. Seitdem bringt Katapult Bücher wie „100 Karten über die Ukraine“ oder „55 Karten über Russland“ im eigenen Verlag heraus. Wobei in diesem Buch Sebastian Wolter, der schon dabei war, als der Verlag Voland & Quist als Dresden-Leipziger Kooperation gegründet wurde, ganz unverhofft zu Katapult stößt. Ganz so fiktiv, wie Benjamin Fredrich suggerierte, war auch der erste Band „Die Redaktion“ nicht.

Man erkennt die wichtigsten Protagonisten und Protagonistinnen. Wer bei Katapult arbeitet, verschwindet nicht in einem anonymen „Team“. Dazu ist Fredrich auch viel zu stolz auf das, was er mit ambitionierten jungen Leuten (und manchmal auch Papas Hilfe) auf die Beine stellt. Daran kann man sich reiben, wie das „Übermedien“ gern tut. Aber wer sich im schönen deutschen Osten umschaut, sieht, dass es von solchen Projekten nicht wirklich wimmelt.

Im Land der Musterschüler und Fehlervermeider

Was solche unangepassten Projekte natürlich nicht bewahrt davor, den Unwillen anderer Leute wachzurufen. Oder Fehler zu machen, von denen es auch bei Katapult einige gibt. Nur dass Fredrich der Meinung ist, dass Fehler dazugehören und man was draus lernt. Und das ist wie eine Erinnerung an Zeiten, die es in Deutschland so nicht mehr gibt: Wir sind ein Land der Fehlervermeider geworden.

Und das Ergebnis ist: eine lahmende Wirtschaft mit Kolossen von Konzernen, die sich mit ihren Fettmassen dagegen wehren, irgendwas zu ändern an ihren Geschäftspraktiken. Bürokraten, die mit Federstrichen alles verunmöglichen, was nicht in ihrer Arbeitsvorschrift steht. Und natürlich ansonsten jede Menge Leute, die gar nichts mehr wagen. Aber dafür honorig bezahlt werden wollen.

In West wie in Ost. Das nimmt sich nichts.

Deswegen nimmt man diese Fredrichsche Rastlosigkeit auch nicht wirklich krumm, auch seine Flapsigkeit nicht. Denn Hierarchien mag er gar nicht. Bei Katapult kriegen alle das gleiche Gehalt. Auch wenn das mittlerweile schon emsig diskutiert wird, denn auch Fredrich leitet nicht mehr alles. Dazu laufen viel zu viele Projekte parallel. Also gibt es schon viele verteilte Verantwortlichkeiten. Aber keinen Extra-Bonus für die Verantwortlichen.

Es ist tatsächlich – wenn auch aus der schelmischen Perspektive des Chefs, der nicht den Chef spielen will, geschrieben – ein Einblick in Leben und Treiben bei Katapult. Fehlt eine Kantine, weil wegen Corona alles dicht ist, wird eben das kleine Lieblingscafé gekauft und danach noch ein Imbiss gegründet. Und als Frau Merkel kommt, wird es sowieso ganz seltsam. Was fängt man eigentlich mit solchen Promi-Besuchen an, wenn sich die Promis nicht wirklich dafür interessieren, was da getrieben wird? Ist das Ganze wirklich nur für ein nettes Promo-Foto inszeniert?

Was ist nur los in Wuppertal?

Seinen subversiven Geist verliert dieser Fredrich auch dabei nicht. Er übertreibt gern. Und in vielen Storys macht er sich auch über andere Leute lustig – gerade wenn die aus ihrem Trott nicht herauskommen oder einfach ihrem angelernten Raster folgen, so wie der Zoll, der immer wieder auf der Baustelle auftaucht, obwohl er nichts zum Beanstanden findet.

Aber im Gegensatz zu anderen Eulenspiegeleien, mit denen auch andere Autoren dann und wann den Buchmarkt beschicken, gibt es dieses Katapult-Magazin wirklich, gibt es die Schule und den umtriebigen Benjamin Fredrich, der seine Entgrenzungen natürlich gern auch auf seine engsten Mitstreiter projiziert. Etwa auf Tim, der im Baumarkt keine Grenzen mehr findet, wenn es um das Einkaufen von Profi-Baumaterial geht. Aber das geht auch anderen Männern so, wie man weiß.

Und wie geht diese Eulenspiegelei am Ende aus? Mit einem dicken Manuskript aus einem blauen Müllsack, das dann so heißt wie dieses Buch: „Funk in Wuppertal“. Nur dass keine einzige Szene in Wuppertal gehandelt hat. Aber es kommen jede Menge fleißige Bauarbeiter drin vor, einige überforderte Polizisten und ein aufgeblasener Center-Manager, ein entsetzter Lehrer für den Bootsführerschein, eine flugs gegründete Baumschule und natürlich eine kleine Selbstermahnung, die auch für alle anderen gilt, die sich die Verdummung der Welt durch rechtsradikale Politiker und dumpfende Populisten nicht gefallen lassen wollen.

Egal, wie die Herren in Blau auftrumpfen in Umfragen und verkorksten Sommerinterviews. Da hilft ein ganz simpler Ausspruch von Fredrichs einstigem Professor Hubertus Buchstein: „Wir machen weiter.“

„Die Politikwissenschaft, die Kunst, die anderen Wissenschaften, der Journalismus, alle, die noch irgendwie klar denken können – wir machen weiter“, schreibt Fredrich. „Dieser Satz erscheint so banal. Aber er wirkt nur so.“

Das wäre ein guter Satz fürs Finale gewesen. Aber da hockt Fredrich ja bekanntlich über dem blauen Müllsack und vergräbt sich in eine sehr komische Geschichte mit Funk in Wuppertal.

Benjamin Fredrich „Funk in Wuppertal. Die Redaktion II“, Katapult Verlag, Greifswald 2023, 22 Euro.

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