Wer die Zeitungen liest oder andere Medien konsumiert, ja ich gehöre auch zu diesen Medien, der kam gestern und kommt heute nicht um Einordnungen, Kritiken, Schadenfreude und Häme zur gestrigen Kanzlerwahl herum. Was war so schlimm am ersten Wahlgang, in dem Friedrich Merz zwar eine Mehrheit, aber nicht die erforderliche Mehrheit bekam?
Die Gewohnheit, dass ein Kanzlerkandidat nicht im ersten Wahlgang bestätigt wird, wurde durchbrochen. Wir alle haben ein Problem damit, dass Gewohnheiten plötzlich nicht mehr gültig sind. Das war’s auch schon.
Übrigens, Friedrich Merz war somit der Kanzlerkandidat mit dem längsten Kandidatenstatus ever. Schließlich wird man Kandidat für ein Amt erst, wenn man sich zur Wahl für diese aufstellt. Das geschah gestern im Bundestag und mit dem Warten auf den zweiten Wahlgang verlängerte sich die Kandidatenzeit. Das war schon etwas Besonderes.
Wir alle sind es gewohnt, dass der Bundeskanzler im ersten Wahlgang seine Kanzlermehrheit erhält, warum ihn dann nicht gleich proklamieren? Schließlich stellt ja die Regierungskoalition, außer bei einer Minderheitsregierung, die erforderliche Stimmenanzahl dar. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes haben sich dabei wohl etwas gedacht.
Ja, die Koalition wurde vereinbart, aber in einem Koalitionsvertrag einigen sich die Koalitionäre nur auf eine Zusammenarbeit der Fraktionen. Die Begriffe „Friedrich Merz“ oder „Bundeskanzler“ tauchen dort nicht auf. Es ist also möglich, dass Abgeordnete, die für den Koalitionsvertrag sind, gegen den Kanzlerkandidaten stimmen. Das kann verschiedene Gründe haben. Für Abgeordnete der SPD kann dieser nicht sozial genug sein, für welche am rechten Rand der CDU ist er zu links oder woke.
Somit erübrigen sich auch Spekulationen über die „Abweichler“, wie bei tagesschau.de um 11.28 Uhr:
„Aus Kreisen der Unionsfraktion hieß es, die Union steht hinter Merz, das sei die DNA der Union. Fehlende Stimmen könnten nur von der SPD kommen. Im Fraktionssaal der Union habe es minutenlangen Applaus für Merz gegeben.
Kreise der SPD-Fraktion hingegen erklärten dem ARD-Hauptstadtstudio, man habe nicht den geringsten Hinweis, dass die SPD nicht vollständig für Merz gestimmt hat. 85 Prozent beim Mitgliedervotum seien ein Auftrag an die Fraktion und sie erfülle diesen. »Auf uns ist Verlass«“
Das ist nur der Versuch, dem anderen die Schuld zuzuschieben. Im Falle der SPD wird das deutlich. 85 % beim Mitgliedervotum bedeuten nur die Zustimmung zum Koalitionsvertrag, nicht zum Automatismus einer Personalie.
Was macht der öffentlich-rechtliche Rundfunk nach dem ersten Wahlgang? Alice Weidel kann unwidersprochen von Merz als Wahlbetrüger sprechen und Neuwahlen fordern. Das läuft dann, nicht nur beim ZDF, in Dauerschleife.
Während sich die Koalitionäre beraten und die CDU sogar, entgegen ihrem Unvereinbarkeitsbeschluss, mit den Linken spricht, um einen zweiten Wahlgang am selben Tag zu ermöglichen, suchen die Medien hektisch Ansprechpartner für Statements und Einordnungen.
Das Statement von Renate Künast kann man hier als noch das beste bezeichnen: „Es wäre Kaffeesatzleserei, zu sagen, was passiert ist. Aber wie verärgert müssen Leute sein, dass sie nach den Koalitionsverhandlungen die Regierungsbildung platzen lassen.“
Mit Unterstützung der Linken und der Grünen wird dann doch noch der zweite Wahlgang am Montag durchgeführt. Friedrich Merz wird zum Bundeskanzler gewählt, aber die Spekulationen hören nicht auf.
Wie beschädigt ist der Start der neuen Regierung, ist Merz gedemütigt, es ist von „gebeutelt“ die Rede und viele andere, nur für Schlagzeilen taugliche, Begriffe tauchen genau in diesen auf.
An dieser Stelle lohnt es auf die letzte Kanzlerwahl zurückzublicken. Olaf Scholz erreichte mit 395 Stimmen die Kanzlermehrheit souverän. Sieht man auf den Zerfall der Ampel, besonders auf die Rolle der FDP als Koalitionspartner, dann ist die gestrige Wahl vielleicht gar nicht so schlecht.
Was ist eigentlich passiert? Friedrich Merz ist im ersten Wahlgang durchgefallen, das ist unschön für ihn und eine Warnung von Seiten seiner Koalition. Er wird aufpassen müssen, dass er die Erwartungen aller erfüllt, was per se unmöglich ist. Er darf auch Linke und Grüne nicht allzu sehr verärgern, er könnte sie für Mehrheiten im Bundestag brauchen. Eine Zusammenarbeit mit der AfD schließt er ja aus.
Fazit: Es war ein holpriger Start in die Regierungsverantwortung, jetzt ist Friedrich Merz Bundeskanzler und zum Erfolg verdammt. Das weiß er auch, vermute ich. Ich wünsche uns allen viel Glück mit ihm.
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