Kann ein Gesetz schwere Umweltschäden bestrafen? Das ist die Frage, die sich die Autorinnen und Autoren der Beiträge in diesem Band gestellt haben. Anlass ist der Versuch, Ökozid zu einem Straftatbestand vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu machen, den Belgien gestartet hat und den die EU unterstützt. Ökozid, das ist die kriminelle und bewusste Schädigung oder Zerstörung von Ökosystemen. Und damit unserer Lebensgrundlagen.

In diesem Band kommen Autorinnen und Autoren aus der ganzen Welt zu Wort. Aus gutem Grund. Denn die Zerstörung unersetzlicher Ökosysteme in anderen Ländern betrifft auch uns. Aus zwei Gründen: Die Folgen – etwa der Zerstörung des Amazonas-Regenwaldes – bekommen auch wir zu spüren. Und gleichzeitig ist es unser Lebensstil, der bei vielen dieser Zerstörungen die eigentliche Ursache ist.

Wir leben in einer Blase und nehmen gar nicht mehr wahr, welche Belastung unser Konsumverhalten und unser enormer Energieverbrauch tatsächlich für die Welt sind.

Und es zeigt, wie das fest verankert ist in unseren Vorstellungen vom Funktionieren des „Marktes“, der immer nur ein Phantom war, aber genau dort versagt, wo es um die Erhaltung unserer Lebensgrundlagen geht. Denn der „Markt“ kennt keine Prinzipien und keine Grenzen. Ihm ist das stetige Wachsen der Profite eingeschrieben. Und damit das immer rücksichtslosere Plündern der Ressourcen der Erde.

Ein riesiger blinder Fleck

Nur: Wir sehen es nicht. Denn die Zerstörungen im Namen des Profits finden anderswo statt, weit weg. Sie kommen auch nur in den Nachrichten vor, wenn es zu größeren Katastrophen kommt. Wir haben unseren Teil der Umweltzerstörung einfach ausgelagert. Was dann gleich mal als „Globalisierung“ gelabelt wird. Eindrucksvoll hat diese Externalisierung der Umweltzerstörung schon 2016 Stephan Lessenich in seinem Buch „Neben uns die Sintflut“ beschrieben.

Und so wundert es auch nicht, dass auch deutsche Konzerne munter mit dabei sind, wenn es an die Zerstörung unersetzlicher Biotope anderswo in der Welt geht – egal, ob das ein Heidelberger Zementkonzern ist, die Deutsche Bahn oder ein Chemie-Konzern vom Rhein. Und das in der Regel ohne Anklage, ohne Strafe, selbst dann, wenn die Menschen, deren Lebensraum dabei zerstört wird, protestieren und versuchen, alle möglichen internationalen Instanzen anzurufen.

Doch wer ist zuständig? Und vor allem: Wer hat die Macht, Konzerne zu verurteilen? Wo ist überhaupt die gesetzliche Handhabe dafür? Denn wenn man in die nationalen Gesetzgebungen schaut, endet der Schutz der Umwelt meist genau da, wo das moderne Besitzrecht beginnt. Auch in Leipzig immer wieder erlebt: Wie begossene Pudel stehen Anwohner und Umweltverbände da, wenn wieder ein Stück Fluss, ein Stück Wald, ein letztes Stück Grün plattgemacht werden.

Das Baurecht übertrumpft alles. Und das Baurecht fußt auf dem deutschen Besitzrecht. Und genau an dieser Stelle erweist sich der Satz aus dem Grundgesetz „Eigentum verpflichtet“ als heiße Luft.

Denn auf Eigentum – auch und besondere an Grund und Boden – fußt die komplette kapitalistische Wirtschaftsweise. Eigentum sichert Besitz. Eigentum schafft aber auch Recht. Und zwar immer Sonderrecht: Wo Eigentum gilt, verliert die Allgemeinheit ihren Einfluss. Auch dann, wenn es tatsächlich um Güter der Allmende geht wie Wasser, Luft, Boden.

Zeit für den internationalen Strafgerichtshof

So betrachtet sind die vielen Beiträge in diesem Buch auch erst einmal nur die Beschreibung unaushaltbarer Zustände und manifester Machtlosigkeit gegenüber den Ressourcenzerstörungen riesiger Konzerne – in Indien, in Indonesien, in Mexiko, in Brasilien und Equador. Aber auch in der Türkei und in Nordsyrien, wo die türkische Regierung die gezielte Zerstörung von Wäldern, Flusssystemen und Landwirtschaft zur scharfen Waffe gegen die Kurden gemacht hat.

Auch das gehört heute zum Standard: der Ökozid als brutales Mittel der Politik.

Erstmals weltweit zum Thema geworden, als die USA im Vietnam-Krieg Agent Orange einsetzen. Und seither in Dutzenden Kriegen – wie aktuell im Krieg Russlands gegen die Ukraine – immer wieder eingesetzt. Die Zerstörungen sind nicht mehr marginal und punktuell, sondern zerstören komplette Landschaften dauerhaft.

Aber die Beiträge machen noch etwas deutlich, auch wenn einige Autoren durchaus hoffen, dass die Verankerung des Ökozids in den Römischen Artikeln des Internationalen Strafgerichtshofes wenigstens eine Veränderung im Denken über Umweltzerstörung mit sich bringen: Es wird wohl nichts bringen, wen wir nicht verstehen, dass die uns heute präsentierte deregulierte Marktwirtschaft nichts anderes ist als eine neue Form des Kolonialismus – und damit letztlich die Fortsetzung des Kolonialismus mit den alten Mitteln.

Denn dass der Kolonialismus selbst schon mit geplanten Zerstörungen von Lebensräumen einherging, wird in diesem Band am Beispiel Indiens erzählt. Und mit dem Abzug der Kolonialtruppen aus den Ländern des Südens änderten sich die Machtverhältnisse eben nicht. Im Gegenteil: Die meisten dieser Länder gerieten in eine Schuldenspirale gegenüber den mächtigen Ex-Kolonialmächten.

Und gleichzeitig in eine Abhängigkeit, die sie gegenüber den Erpressungen der meist global agierenden Konzerne fast wehrlos macht. Erst recht, wenn korrupte Regierungen mit den Konzernen gemeinsame Sache machen.

Reichtum durch Ausplünderung

Tino Pfaff geht im Nachwort auf diese unsere postkoloniale Blindheit ein: „Für die meisten weißen Menschen ist die Geschichte des Kolonialismus eine Angelegenheit, mit der sie selbst nichts zu tun haben. Doch das ist falsch!“, schreibt er.

„Die Ausbeutung weiter Teile der Welt durch weiße Europäer ist konstitutiv für den Aufstieg Europas zum kapitalistischen Zentrum der Welt und für die Entstehung der Moderne. Die bis heute als fortschrittlich gepriesenen westlichen Demokratien fußen auf ebendiesen Verhältnissen.“ Und das extreme Macht-Ungleichgewicht tut es eben auch.

Frank Eckardt zeigt in seinem Beitrag zur globalen Rolle der Städte, wie auch Stadtplanung Teil dieser – externalisierten – Ausbeutung der Umwelt ist, wie gerade in den Städten vor allem dem enthemmten Kapitalismus der wichtigste Raum eingeräumt wird, während die ländlichen Räume drumherum nur als marginalisierter, auszubeutender Raum verstanden werden.

Und die Ruinierung natürlicher Ressourcen für Stadtbewohner geradezu unsichtbar gemacht wird, sei es die Überfischung der Meere, die Übernutzung der Wasservorräte, die Zerstörung subpolarer Gebiete durch Ölsandgewinnung oder der letzten Mangrovenwälder durch Sandgewinnung (für die Betonerzeugung) oder die Erschließung immer neuer Gas- und Erdölfelder, um die von fossiler Energie abhängige Weltwirtschaft weiter unter Hochdruck zu halten.

Das läuft eben nicht nur auf eine Zerstörung unseres bislang recht stabilen Klimas hinaus, sondern auch auf die dauerhafte Zerstörung artenreicher Biotope, die sich auf Jahrmillionen nicht wieder regenerieren werden. Und gleichzeitig verlieren Millionen Menschen ihre Lebensgrundlage, werden vertrieben oder gar kriminalisiert wie die indigenen Völker Brasilens oder Mexikos.

Und das alles meist nur, um weiterhin an die „billigen“ Rohstoffe zu kommen, mit denen der Konsumhunger der reichen Staaten gedeckt werden kann. Den Preis zahlen allein die betroffenen Menschen und die zerstörten Ökosysteme. Während der blinde Norden einfach weiter – billig – drauflos konsumiert in dem irren Glauben, das ginge ewig so weiter. Obwohl jedes einzelne zerstörte Biotop davon erzählt, dass wieder ein Stück lebendige Welt für immer demoliert wurde.

Wenn nur noch die Flucht bleibt

Doch in der selbst schon hochgradig erhitzten Diskussion um den Klimawandel wird diese Zerstörung unserer natürlichen Grundlagen fast immer ausgeblendet. Obwohl das Artensterben hier seine Wurzel hat. Und die weltweit drastische Zunahme von Migration übrigens auch.

Denn wenn die Lebensgrundlagen ganzer Völker durch mafiöse Bergbaukonzerne, systematische Waldzerstörung oder das weltweit um sich greifende Landgrabbing verloren gehen, dann gehen diese Menschen schon aus blanker Not auf die Flucht, versuchen irgendwo in erreichbarer Nähe zu überleben.

Da stolpert man. Denn wenn man weiß, dass es das unersättliche und blinde Wachstumsdenken des globalen Nordens ist, der in den Ländern des Globalen Südens die Lebensgrundlagen zerstört, dann ahnt man schon, dass die Flüchtlinge, die – nach Auffassung konservativer Politiker „illegal“ – bei uns anklopfen, unsere Flüchtlinge sind. Flüchtlinge unserer Art des Wirtschaftens auf Kosten der ärmeren Länder.

Doch weil wir alle möglichen Umweltkosten und Umweltzerstörungen ausgelagert und externalisiert haben, sehen wir das nicht mehr, lassen uns eher von homophoben Rechtsaußen erklären, dass die flüchtenden Menschen abgeschoben und abgeschottet gehören. Ohne dass wir auch nur einen Moment über die Grundlagen unseres Wohlstandes nachdenken und wie sehr dieser Wohlstand nach wie vor auf der – postkolonialen – Ausbeutung des Globalen Südens beruht.

Was einige Autoren durchaus skeptisch werden lässt, ob die Aufnahme des Ökozids in die Artikel der Internationalen Strafgerichtshofs daran etwas ändert, wenn wir nicht auch unsere nationalen Gesetze ändern und die bewusste Zerstörung natürlicher Grundlagen nicht auch vor deutschen Gerichten stafbar machen.

Und vor allem auch Konzerne zur Verantwortung ziehen, in denen die persönliche Verantwortung für ganz konkrete Umweltzerstörungen diffundiert und Manager sich nur allzu gern auf den Shareholder-Value herausreden, als wären Konzerne tatsächlich nur dazu da, die Gier ihrer Aktionäre zu befriedigen.

Natur ohne Klageerecht

Hier endlich wird auch spürbar, wie tief das alte koloniale Denken sich heute in den Eigentümerstrukturen großer Unternehmen versteckt und wie es kriminelle Vorgehensweisen in Ländern befeuert, in denen sich die betroffenen Menschen nicht wehren können gegen die Übermacht der Konzerne, die oft genug skrupellose Pakte mit den Regierenden eingehen.

Aber der Band macht eben auch deutlich, dass sich an dieser Schieflage wohl auch nichts ändern wird, wenn wir nicht unser Denken über „Wohlstand“, Eigentum und auch Freihandelsverträge ändern, die meist alle im Interesse rücksichtsloser Konzerne geschrieben werden, aber nicht in dem der betroffenen Völker.

Wie schwer es ist, Umweltschäden überhaupt vor Gericht zu bringen, zeigen genug Geschichten auch aus Deutschland. Obwohl der Schaden sichtbar und bezifferbar ist, sind die Verursacher meist nicht dingfest zu machen, handeln sogar ganz legal so. Und das eben auch, weil zerstörte Flüsse, Seen, Wälder und Schutzgebiete keine eigenen juristischen Rechte haben.

Und selbst da, wo Umweltverbände ein Klagerecht haben, scheitern sie oft genug an der Borniertheit von Verwaltungen und Gerichten. Oder einfach am Geld. Denn Klagen ist teuer. Nicht nur in Deutschland. Und mit ihren Milliardengewinnen aus der geplünderten Umwelt ist es Konzernen ein Leichtes, jede Protestinitiative vor Gericht auszuhungern.

Unersättliche Gier

Es sei denn, Staaten ändern nicht nur die Gesetzgebung, sondern werden selbst zu Anwälten unserer gequälten Natur. Und entwickeln den zwingend notwendigen Mut, rabiaten Konzernen das Handwerk zu legen, auch dann, wenn diese sich „nur“ in Ländern des Globalen Südens wie Kolonialmächte benehmen, die Geschädigten mit Peanuts abspeisen und sich in keiner Weise verantwortlich fühlen, die zerstörten Landschaften wieder zu reparieren, so weit das möglich ist.

Tatsächlich erzählen die Beiträge in diesem Buch davon, dass wir unser Denken ganz schnell ändern müssen, denn die Zerstörung der Ökosysteme geht in einem forcierten Tempo voran. Immer neue „Schätze“ geraten ins Visier der Rohstoffkonzerne – die Bodenschätze der Tiefsee etwa oder neue Vorkommen von seltenen Erden in bisher streng geschützten Waldgebieten.

Und fast immer spielen Regierungen das Spiel mit, statt ein klares „Stop!“ auszusprechen – und Konzerne damit endlich zu zwingen, mit Rohstoffen sparsam und nachhaltig umzugehen. Stattdessen wachsen weltweit die Mülldeponien, die Staaten des Nordens verfrachten ihren Wohlstandsmüll extra auf Müllhalden im Süden.

Wer das ganze Bild sieht, sieht die alten kolonialen Machtverhältnisse.

Und zumindest eines könnte die Aufnahme des Ökozids in die Römischen Artikel bringen: mehr Aufmerksamkeit für diese Zerstörungswut. Dann könnten vor allem auch die Länder des Südens, die unter den Zerstörungen am stärksten leiden, vor dem Internationalen Strafgerichtshof klagen und die Machenschaften der Konzerne anprangern, die sich daheim in ihren „Mutterländern“ so gern als Unschuldslämmer und Wohlstandsgaranten verkaufen.

Tino Pfaff (Hrsg.)„Ökozid“, Oekom Verlag, München 2023, 32 Euro.

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