Geschichte in Buchform interessiert auch deshalb so viele Menschen, weil sie Fantasieräume eröffnet. Wie war es damals wirklich – zum Beispiel im Jahr 716, als ein englischer Mönch namens Wynfreth über den Ärmelkanal fuhr, um die heidnischen Friesen zu missionieren? Und dann erst einmal scheiterte, um später noch einmal wiederzukommen und dann als Bonifatius, „Apostel der Deutschen“, in die Geschichte einzugehen?

Eine Frage, die den ehemaligen Pfarrer Andreas Müller in seinem Un-Ruhestand in Arnstadt beschäftigte. Was wissen wir wirklich über diesen Bonifatius und seine Mission? Und wie sah seine Welt wirklich aus? Für fantasievolle Autoren durchaus eine spannende Frage. Denn immerhin hat dieser Bonifatius auch ein Stück deutsche Geschichte geprägt, war vor allem bei den Thüringern, Hessen und Bayern unterwegs, gründete Bistümer und war Teil der Organisationspolitik von Karl Martell, der eine straffe Kirchenorganisation als wesentlichen Teil seiner Machtausübung im Frankenreich begriff.

Dieser fränkische Hausmeier, der tatsächlich regierte wie ein König, bekam nicht ganz grundlos den Beinamen Martell, „der Hammer“. Denn seine Befriedungspolitik war immer auch mit bewaffneten und wohl auch brutalen Einsätzen verbunden. Und auch Bonifatius war ganz bestimmt nicht allein unterwegs. Und auch nicht in wilden Gegenden. Auch wenn uns diese Zeit heute unheimlich weit weg erscheint, 200 Jahre vor der eigentlichen Entsehung des deutschen Reiches.

Christliche Ordnungspolitik

Aber vieles, was in der Geschichtswissenschaft lange Zeit als „dunkles Zeitalter“ beschrieben wurde, war nie so dunkel, wie es dann oft in Romanen erschien. Auch wenn sich nach dem Niedergang des (west-)römischen Reiches die Machtkonstellationen neu formierten und neue Reiche und Herrscherdynastien entstanden. So wie das Frankenreich mit dem Merowingergeschlecht, dessen Erbe dann Karl Martell und seine Nachkommen antraten. Das Christentum war hier zumindest schon etabliert – wenn auch meist nur unter den führenden Adelsgeschlechtern.

Aber wenn man die Bonifatius-Geschichte einmal gegen den Strich der Chroniken und (Heiligen-)Legenden liest, dann erscheint dieser angelsächsische Missionar als ein sehr elementarer Teil der fränkischen Machtpolitik. Das Christentum musste er den von ihm besuchten germanischen Völkern nicht bringen. Das war schon da. Wenn auch bisher vor allem durch irische Mönche vermittelt und nicht als Teil von Machtstrukturen. So dass die alten germanischen Götterwelten noch problemlos daneben existieren konnten.

Bis dann Bonifatius kam. Aber eben nicht allein, sondern mit einem richtige Tross mit Kriegern, Handwerkern, Mönchen. Sie bauten Kirchen und gründeten Klöster. Ohrdruf und Fulda gelten als Gründungen von Bonifatius. Beide lässt natürlich auch Andreas Müller in seinem Buch lebendig werden, genauso wie er die Reisen nach Rom über die schneebedeckten Alpen schildert und die Auseinandersetzungen mit etwa dem damaligen Mainzer Bischof.

Kirche und Macht

Im Nachwort schildert Müller seine durchaus nicht kleinen Probleme mit der Bonifatius-Geschichte, denn vieles ist eben nicht durch verlässliche Quellen belegt, sondern taucht erst in viel später entstandenen Heiligenlegenden auf. Ist er wirklich auf einem tapferen Maultier und nur in Begleitung von ein paar Mönchen über die Alpen geritten? Wahrscheinlich nicht. Schon der Beginn seiner Missionstätigkeit war Teil einer konzertierten Aktion, mit der die römische Kirche den Einfluss der iroschottischen Kirche in den Germanengebieten zurückdrängen wollte. Und spätestens mit Karl Martell war der Aufbau zentral verwalteter Bistümer und eines Netzes von Kirchen und Klöstern klarer Bestandteil fränkischer Machtpolitik. Die auch mit entsprechender Militärgewalt durchgedrückt wurde. Und mit durchaus erzwungenen Massentaufen, die Müller durchaus kritisch beurteilt.

Denn wie stand Bonifatius eigentlich dazu, wenn er solche Massentaufen leitete? Eine verzwickte Frage. Denn wie er Glaube und Frömmigkeit selbst verstand, wissen wir nicht. Oder nur bedingt durch die überlieferten Bonifatius-Briefe. Und etliches, was er erzwang, hätte er ohne die Zustimmung der jeweiligen Herzöge und entsprechenden militärischen Schutz gar nicht tun können. Zwölf Jahre lang zog er durch Thüringen, Bayern und Hessen. Und das tat er ganz augenscheinlich eben nicht als alleinziehender Wanderprediger, sondern systematisch in der Schaffung eines kirchlichen Netzwerkes, mit dem nun auch die geistige Macht über die Bevölkerung etabliert wurde. Dauerhaft. Irgendwie bis heute. Nur dass die Menschen heute den Kirchenstrukturen in Scharen entfliehen.

Kirche wird schon lange nicht mehr als etablierter Bestandteil der Macht gesehen. Aber sie leidet unter diesen alten Machtstrukturen, die ganz offensichtlich nicht mehr genügen, die seelischen Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Stattdessen scheinen die Kirchen inzwischen ganz auf den Selbsterhalt fixiert.

Aber es gibt keinen Bonifatius mehr, der mit Bewaffneten durchs Land zieht und den römischen Glauben als allein gültiges Weltverständnis etablieren kann.

Götzenbilder

Und welchen Götzen würde er eigentlich fällen müssen, um heutzutage die Leute von ihren (alten) heidnischen Gewohnheiten abzubringen, vergleichbar dem Fällen der Donareiche bei Geismar im Jahre 723?

Müller schildert durchaus plastisch, dass der Missionar ganz und gar nicht allein zu Werke ging, sondern eine ganze Mannschaft dabei hatte, die das Unterfangen absicherte. Dass die zuschauenden Chatten dann, als ihr Gott Donar nicht donnernd eingriff, erschüttert gewesen sein sollen von der Macht des christlichen Gottes, weiß niemand. Müller diskutiert durchaus die phantasievolle Unzuverlässigkeit der Heiligenlegenden, die Bonifatius erst im Nachhinein so stilisierten, wie er bis heute überliefert ist.

Und ein Problem dieser Legenden ist eben auch, dass sie die Zeit vor der Mission des Bonifatius geradezu in den Schatten stellten, künstlich verfinsterten, als hätte der angelsächsische Missionar tatsächlich erst das Licht in das künftige Deutschland gebracht. Wobei eine Sache stimmt: Diese Art der Missionierung hat Deutschland tatsächlich für Jahrhunderte geprägt. Und vor allem die Macht der römischen Kirche für Jahrhunderte etabliert. Weltliche Macht und geistliche Macht gingen dauerhaft eine Symbiose ein.

Selbst der Streit um die Leiche des bei Dokkum umgebrachten Bonifatius erzählt ja von dieser Bemächtigung durch die römische Kirche, die sich ihre Heiligen schuf, wenn sie welche brauchte. Und dazu war auch der Leichnam des Bonifatius nicht ganz unwichtig, den man gern in Mainz begraben hätte. Aber dann kam er doch in das von ihm gegründete Kloster Fulda.

Gefürchtete Missionen

Und dass Bonifatius so ganz schuldlos nicht starb in Friesland, bringt zum Beispiel Wikipedia so prägnant auf den Punkt: „Neue Untersuchungen kommen zu der Schlussfolgerung, dass die Täter friesische Gegner der christlich-fränkischen Missionierung gewesen seien, die sich sehr wohl bewusst waren, mit wem sie es zu tun hatten, und deshalb gezielt gegen den Repräsentanten der fremden Religion vorgingen. Das Motiv, Beute zu machen, scheint dagegen der Barbarentopik zu entsprechen, durch deren Einsatz die Biografen das Urteil der Leser über die Friesen zu steuern trachteten.“

Es ist wie so oft: Die Geschichte schreiben die Sieger. Sie prägen das Bild der „Wilden“, die sich – wie die Friesen und die Sachsen – lange Zeit erfolgreich gegen die durchaus gewaltvolle Mission aus dem Frankenreich wehrten. Ganz ähnlich wie später die Slawen in den ostelbischen Gebieten. Geschichte wiederholt sich auch.

Aber wie nah kommt man diesem Bonifatius wirklich? Andreas Müller versucht den Mann zu verstehen, auch in seiner Unerbittlichkeit etwa, wenn es um den priesterlichen Zölibat geht. Eine kirchliche Entwicklung, die zu seiner Zeit gerade in der Diskussion war und noch lange nicht so allumfassend dekretiert wie dann ab dem 11. Jahrhundert. Viele enggeführte Moralvorstellungen des ach so christlichen Europas stammen aus dieser Zeit und sind viel dichter mit Macht und Kontrolle verbunden, als es ihre Verfechter heute noch wahrhaben wollen. Denn eine Kirche, deren Priester im Zölibat leben müssen, lässt sich besser kontrollieren als eine, in der Priester auch Frauen und Kinder haben.

Heiliger oder Machtpolitiker?

Es wird sehr deutlich, dass Andreas Müller die sehr christliche Perspektive auf diesen Bonifatius sucht und erzählt, einen Mann, der von seiner Mission getrieben wird und die widrigsten Bedingungen auf sich nimmt, um die heidnischen Germanen zu christianisieren. Was durchaus auch in ein Bild mündet, das er tröstlich findet: „In dieser Zeit haben wir Christen solche Besinnung sehr nötig“, schreibt er im Nachwort. „Gott benutzt Menschen wie Bonifatius und solche wie uns, um seine Kirche(n) zu bauen.“

Vielleicht ist es das, was so irritiert an der Bonifatius-Geschichte, die eben eher nicht – wie in den alten Heiligenlegenden – von einem Mann erzählt, der von Gott getrieben in das Land der Barbaren zog. Selbst in Müllers Erzählung wird deutlich, dass Bonifatius mit einer sehr weltlichen Mission unterwegs war, eingefügt in die sich verfestigenden Machtstrukturen des Frankenreiches, in denen die Kirche fortan immer eine zentrale Rolle als Teil der Macht spielte.

Müller merkt selbst an, dass seine Geschichte den einen vielleicht als zu heilig, den anderen als zu wenig heilig erscheinen könnte. Es ist seine Version einer möglichen Biografie für diesen Bonifatius, auch ein Versuch der Annäherung, den die Helden der älteren Geschichte in ihrer legendenhaften Überhöhung oft kaum zulassen. Eine Suche nach dem Menschen Bonifatius, der aber eigentlich nur dort sichtbar wird, wo Müller selbst versucht, die Erlebnisse des Missionars bildhaft zu schildern. Ihm ist sehr wohl bewusst, dass ein Autor im Grunde immer seine eigene Geschichte erzählt, wenn er versucht, sich so eine sperrige Gestalt aus dem achten Jahrhundert anzueignen und lebendig werden zu lassen.

Was immer schwierig ist, gerade, wenn sich Macht und Legende derart dicht verzwirnen, wie das in der Bonifatius-Geschichte der Fall ist.

Andreas Müller „Bonifatius’ Mission“, Wartburg Verlag, Weimar 2023, 15 Euro.

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