Es ist die Zeit der historischen Romane. Insbesondere solcher, die sich einmal all der Ereignisse aus der deutschen Geschichte annehmen, die dieses Land uns seine Bewohner geprägt haben. Da ist oft eine Menge Phantasie gefragt, den je näher man den Anfängen dieser Nationwerdung kommt, umso dürftiger werden die Quellen. Auch die zu einer der berühmtesten Schlachten in der deutschen Geschichte: der Schlacht auf dem Lechfeld.

Ganze sieben Seiten hat Widukind von Corvey in seiner „Sachsengeschichte“ diesem Ereignis gewidmet. Das ja immer zentral war für die Regierungszeit Otto I., der mit diesem Sieg über die Ungarn nicht nur seine Vormachtstellung als König im Ostfränkischen Reich sicherte, sondern auch ein halbes Jahrhundert permanenter Überfälle durch die Ungarn beendete. Denn für deren Streitmacht war die Schlacht vernichtend.

Aber wie die Schlacht im Lechfeld tatsächlich vonstattenging, darüber grübeln die Historiker bis heute. Aber das gibt einem Romanautoren natürlich viele Freiheiten, seine Version einer möglichen Schlachtentwicklung zu erzählen.

Denn auch Jens Essig hat sich schon seit Jahren intensiv mit dieser Schlacht beschäftigt, die von manchen Historikern als die eigentliche Gründungsstunde Deutschlands betrachtet wird. Manche Leute brauchen dazu unbedingt siegreiche Schlachten. Das macht sich so schön in Chroniken.

Eine kriegerische Zeit

Aber da war wohl auch Widukind, der ja immerhin Zeitgenosse war, den Ereignissen wesentlich näher. Und Schlachten in diesem Sinne prägten das ganze Zeitalter. Dass aus den Herzogtümern Sachsen, Franken, Bayern und Schwaben am Ende tatsächlich ein Reich mit König und Imperator an der Spitze entstand, war so auch in der Regierungszeit der Sachsenkönige Heinrich und Otto noch nicht selbstverständlich. All das wurde in blutigen Feldzügen ausgefochten.

Die ständigen Überfälle der Ungarn kamen noch obendrauf. Und es muss schon von großem politischen Talent künden, wenn es Otto überhaupt gelang, eine derart große Streitmacht gegen die Ungarn zusammenzubekommen.

Wie schwer es war, etwa den Böhmenherzog Boleslav in das Bündnis zu bekommen, erzählt Essig recht ausführlich. Dem es auch sehr bewusst ist, dass man das Ereignis nicht auf einen Tag, den 10. August, beschränken kann.

Er beginnt seine Erzählung mit dem 6. August 955 und rückt auch die von den Ungarn (oder Magyaren) bedrohte Stadt Augsburg mit ihrem Bischof Ulrich ins Bild und versucht die Entwicklung der Ereignisse in der Topografie an der Donau zu verorten und möglichst schlüssige Erklärungen für die Niederlage der Ungarn zu finden, die – den zeitgenössischen Quellen nach – in vielfacher Übermacht ins Feld gezogen waren.

Und mit ihren wendigen Pferden und ihren Kampfbögen, mit denen sie auch aus vollem Galopp schießen konnten, waren sie damals auch der Schrecken gut bewaffneter Ritterheere.

Eine Frage der Dramaturgie

Essig betont in einem kleinen Nachsatz zum Buch, dass er für seine Schilderung die größten genannten Zahlen zu den jeweiligen Heeresstärken genommen hat. Aus dramaturgische Gründen, wie er betont. Was natürlich die Frage aufwirft, ob man die Geschichte dieser Schlacht auch anders erzählen kann. Natürlich kann man das. Und das wird bestimmt auch geschehen.

Denn gerade, weil Essig so viel Wert auf die Dramaturgie legt, die dann auch die Schilderung riesiger Schlachtenpanoramen ermöglicht, macht er einen Aspekt deutlich, mit dem auch Historiker zu kämpfen haben: Auch sie entwerfen die Bilder der Geschichte ja in Dramaturgien, derer sie sich oft gar nicht bewusst sind.

Das beginnt schon damit, dass der wesentliche Chronist nun einmal Widukind von Corvey war, der die sächsischen Könige in den Mittelpunkt seiner „Sachsengeschichte“ stellt. Und so wurde bis in die jüngste Vergangenheit nun einmal Geschichte erzählt: über die Könige, Kaiser, Fürsten und Heerführer. Geschichte als ein permanenter Kampf um die Macht.

Als ginge es immer nur um den Gewinn von reichen Städten, Ländern und Schätzen. So, wie heute auch noch die meisten Computerspiele designt sind. Es steckt tief in den Köpfen, nicht nur in dem eines machtbesoffenen russischen Präsidenten. Und man darf es durchaus die mittelalterliche Denkweise über Geschichte und Politik nennen.

Im Falle der Schlacht auf dem Lechfeld ist das auch noch verbunden mit der Inszenierung der sächsischen Könige als christliche Herrscher in der Tradition von Karl dem Großen, die hier aus ihrer Sicht auch gegen die Heiden zu Felde zogen. Zum christlichen Königreich nach karolingischem Vorbild wurde Ungarn erst im Jahr 1000.

Aber das darf man ruhig im Hinterkopf behalten, wenn Essig immer wieder von Hunnen schreibt. Ein Begriff, der an dieser Stelle nicht stimmt. Tatsächlich ist man mitten im durchaus kriegerischen Prozess der Nationenbildung in Mitteleuropa, der Deutschland genauso betraf wie eben auch Ungarn.

Drei Außenseiter

Dass im Grunde parallel auch die Unterwerfung der Slawen im Gebiet östlich der Elbe auf der Tagesordnung stand, macht Essig mit der Figur des Rugiers Drago deutlich, der extra angereist ist, um Otto das Bündnis der Rugier anzubieten. Drago ist dann eine der drei „gottlosen Gestalten“, die Essig in seinem Roman quasi zum Retter Ottos und seiner Kampfverbände werden lässt.

Gottlos, weil Drago nun einmal an seine slawischen Götter glaubt, der Ritter Cunad nach seinen Kriegserlebnissen an den christlichen Gott nicht mehr glauben kann und nur noch seiner eigenen Kampfkraft vertraut, und Fenja, die Heilerin, die sowieso nach altem Brauch im Wald lebt und allein die Kräfte der Natur schätzt und achtet. An einer Stelle wird sie dann schon mal als Hexe bezeichnet.

Eigentlich drei völlig unzeitgemäße Gestalten in einer Epoche, in der das Christentum noch mit Feuer und Schwert verbreitet wurde und das Bekenntnis zum Gott der Christen auch eine klare Teilung in Freund und Feind bedeutete, Akzeptanz oder Ausschluss aus der Gemeinschaft bedeutete.

Im Grunde ist Essigs Roman ein dickes Plädoyer dafür, nicht auf den Glauben der Menschen zu achten, sondern auf ihre Taten und ihre Bereitschaft, sich für die Gemeinschaft einzusetzen. Ob das 955 so locker gesehen wurde? Wahrscheinlich nicht.

Aber es gehört für Essig mit zur Dramaturgie – eine den Lesern von historischen Romanen nur zu vertraute. Denn das war auch das Erfolgsrezept jener Autoren, die den historischen Roman im 19. Jahrhundert erst zum Erfolgsprodukt gemacht haben.

Auch Alexandre Dumas, Walter Scott und Victor Hugo wählten Außenseiter zu ihren Helden. Helden, die gerade dadurch handlungsfähig wurden, weil sie sich erst einmal Respekt und Akzeptanz erstreiten mussten. Genau das, was auch Cunad, Drago und Fenja in diesem Roman tun, die natürlich nicht zum wirklich historisch verbürgten Personenensemble gehören, das hier auftritt.

Die Rekonstruktion geschichtlicher Ereignisse

Denn Otto, Ulrich Boleslav und den in der Schlacht zu Tode gekommenen Konrad gab es ja wirklich. Genauso wie die ungarischen Heerführer Bulczu und Lel, die am Ende gehängt werden. Zimperlich jedenfalls wurde damals mit den besiegten Gegnern nicht umgegangen.

Und auch die drei Außenseiter, die Essig zu seinen Helden gemacht hat, geraten immer wieder in lebensgefährliche Bedrängnis, in Situationen, in denen eigentlich keine Rettung mehr möglich ist.

Ein Motiv, mit dem Essig immer wieder spielt, denn so versucht er auch die Dramaturgie der Ereignisse zu steigern und die Schlacht ganz im Sinne der historischen Interpretation zur Schicksalsschlacht zu machen.

Ob sie das wirklich war? Aus der Perspektive der Zeitgenossen möglicherweise ja. Sie hatten ja überhaupt schon über 40 Jahre permanenter Ungarnüberfälle erlebt. Die meisten zu der Zeit lebenden Menschen im Ostfrankenreich kannten überhaupt keine Zeit mehr ohne blutige Überfälle der Magyaren.

Selbst die Rheingegend oder Ottos Herrschaftsbereich Sachsen waren vor ihnen nicht sicher. Und gegen ihre zahlenmäßige Übermacht schien einfach kein Kraut gewachsen. Da erschien es vielen natürlich wie ein Wunder, dass König Otto es tatsächlich schaffte, genügend Bundesgenossen zu finden, um die Ungarn zu einer Entscheidungsschlacht zu stellen – und diese Schlacht dann auch noch mit militärischem Geschick zu gewinnen.

Dass es möglicherweise auch noch ein heftiges Sommergewitter gab, das die hunnischen Bogenschützen quasi außer Gefecht setzte, ist durchaus möglich, auch wenn sich die Historiker auch über dieses Detail streiten.

Es ist also eine mögliche Geschichte, die Essig hier über den August 955 erzählt. Eine, die stark geprägt ist von heutigen Vorstellungen über Schlachten in digitaler Perfektion. Und auch von unseren heutigen Vorstellungen über die Geschwindigkeit von Nachrichten.

Reihenweise lässt Essig die Kundschafter ausziehen, um den Feind auszuspähen – aber dabei meistens erwischt zu werden. Was aber wussten die damaligen Heerführer tatsächlich über die Vorgänge rund um das Schlachtfeld?

Wie viel blieb ihnen verborgen, weil man mit schweren Schlachtrösser nicht schnell vorankam und Nachrichten nur zu leicht verloren gingen oder zu spät kamen?

Mit welcher Ungewissheit gingen sie tatsächlich in die Schlacht? Und wie sehr spielte dabei auch die Unsicherheit der Gegner eine Rolle? Alles Fragen, die einen auch als Leser beschäftigen. Gerade, weil es um die Rekonstruktion eines nicht wirklich unbedeutenden geschichtlichen Ereignisses geht.

Und auch die Frage, ob der Sieg tatsächlich nur an ein paar glückliche Zufällen hing oder der ja längst schlachtenerfahrene Otto 955 sehr wohl wusste, wie er die Streitmacht der Ungarn erfolgreich stellen konnte.

Schicksal oder Legende?

Hing die Zukunft des Landes, das noch nicht Deutschland hieß, am seidenen Faden? Oder wäre man hier mittendrin nicht nur in der Stabilisierung von Ottos Stellung als König, sondern auch der Stabilisierung des Gebildes, das er als König regierte?

Und damit an einem Punkt, an dem Otto sich endlich stark genug sah, die immer wieder ins Land einfallenden Ungarn vernichtend zu schlagen.

Denn das gelang ihm ja auf dem Lechfeld. Die scheinbar unbesiegbaren Ungarn wurden als Bedrohung ausgeschaltet und Otto konnte das Projekt Kaiserkrone in Angriff nehmen.

Was natürlich Liebhabern ausführlicher Schlachtenerzählungen und stolzer Dialoge die Freude an dem Roman nicht nehmen wird und auch nicht das Mitfiebern, wenn die handelnden Akteure immer wieder in Situationen geraten, in denen scheinbar nichts und niemand sie mehr retten kann. Eine Dramaturgie für Leser, die auf ruhige Nächte nach dem Buchzuklappen nicht unbedingt rechnen.

Jens Essig 955. Der Pakt der Todgeweihten Edition Hamouda, Leipzig 2022, 14,90 Euro.

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