Ursprünglich sollte das Buch schon vor einem Jahr unter dem Titel „Getrübte Erinnerungen“ in einem anderen Verlag erscheinen. Doch dann gab es noch vor Veröffentlichung einigen Ärger mit Personen, die drin vorkamen. Das Buch erschien nicht. Aber genau dieser Streit machte deutlich, dass das Thema tatsächlich brennt. Und wie umkämpft die Deutungshoheit über die ostdeutsche Geschichte bis heute ist.

Wer erzählt die Geschichte der Ostdeutschen? Wer gibt die Deutungsmuster vor? Und wie ordnet sich die ostdeutsche Geschichte eigentlich in die gemeinsame deutsche Geschichte der letzten 70 Jahre ein? Tut sie das überhaupt? Oder bleibt sie bis in alle Ewigkeit ein exemplarischer Sonderfall, eine Fußnote., die nicht richtig dazu gehört?

So wie auch die Ostdeutschen bis heute nicht so richtig dazu gehören, weil sie – so ja eine landläufige Interpretation – die Demokratie immer noch nicht verinnerlicht haben und die Sozialisation in der SED-Diktatur bis heute nachwirkt.

Wer hat die Deutungshoheit?

Aber wer hat dann eigentlich 1989 die Revolution gemacht? Die SED gestürzt und den Prozess der Wiedervereinigung ins Rollen gebracht?

Das sind nicht ganz unwesentliche Fragen, wenn man heute in mediale Diskussionen schaut, in denen zumeist westdeutsche Sprecher in gehobenen Positionen darüber sprechen, was die Ostdeutschen eigentlich alles falsch gemacht haben. Im Grunde kommt Rainer Eckert zu einem ganz ähnlichen Fazit wie jüngst erst Dirk Oschmann in seinem Buch „Der Osten, eine westdeutsche Erfindung“.

Denn wer kann über den Osten überhaupt reden? Wer hat die Meinungs- und Deutungsmacht? Und welche ostdeutschen Sprecherinnen und Sprecher haben Gewicht genug, in diesem deutsch-deutschen Diskurs eine Rolle zu spielen? Und wo findet der überhaupt statt, wenn es praktisch kein einziges wirklich publikumsstarkes ostdeutsches Medium gibt und die Debatten dann im Feuilleton westdeutscher Magazine und Zeitungen ausgetragen werden?

Oder nur auf lokaler Ebene, wo sie die bundesweite Nachrichtenebene selten mal erreichen. So wie einige der Leipziger Debatten, die Rainer Eckert besonders intensiv beleuchtet. Denn Leipzig ist er ja als ehemaliger Direktor des Zeitgeschichtlichen Forums eng verbunden. Hier war er auch eng eingebunden, als die Stadt erste Ideen für den Matthäikirchhof brauchte. Und die Leipziger Querelen um den „Campus der Demokratie“, das Freiheits- und Einheitsdenkmal und den Streit um das Lichtfest hat er direkt mitverfolgen können.

Wo hat die ostdeutsche Forschung ein Haus?

Natürlich tauchen sie in diesem Buch auf, in der er einen persönlichen Rundblick versucht über all das, was mittlerweile an Erinnerungsstätten für die jüngere ostdeutsche Geschichte entstanden ist, an Mahn- und Gedenkstätten und an Deutungsmustern, die drumherum gepackt wurden. Und das ist ein Minenfeld. Bis heute. Denn natürlich stand am Anfang die Notwendigkeit, die SED-Diktatur möglichst gründlich aufzuarbeiten. Denn aus Diktaturen lernt man nur etwas, wenn man begreift, wie sie funktionierten.

Doch die Forschung zu institutionalisieren, war ein langer und zäher Kampf. Wofür auch das Zeitgeschichtliche Forum steht, das ursprünglich nur so etwas wie eine Zweigstelle des Bonner Hauses der Geschichte sein sollte – und keine eigenständige Einrichtung, die ihre eigenen Wege geht, ostdeutsche Geschichte in ihrer Vielfalt zu zeigen und zu erzählen.

Doch wer sollte eigentlich die ostdeutsche Geschichte erforschen? Und unter welchen Prämissen? Wer war dazu überhaupt geeignet? Ein Riesenproblem. Denn eigentlich – da ist sich Rainer Eckert sicher – war diese Aufarbeitung primär eine Sache der Ostdeutschen selbst. Sie hätten sich intensiv mit ihrer jüngeren Geschichte beschäftigen müssen, sich auch streiten, Debatten aushalten und sich ihrer eigenen Herkunft vergewissern.

Das aber fand nur bedingt statt. Denn Anfang der 1990er Jahre wurde auch an den Hochschulen und Forschungseinrichtungen so ziemlich die ganze alte, belastete Elite ausgetauscht. Die frei werdenden Positionen aber wurden flächendeckend mit Wissenschaftlern aus dem Westen besetzt.

Kein revolutionärer Einheits-Brei

Die einzige Gruppe, die mehr oder weniger unbelastet diese Forschung hätte übernehmen können im Osten, waren die Mitglieder der Opposition, die sogenannten Bürgerrechtler. Was hier keine Abwertung sein soll, sondern ein Blick auf das Problem, das dahinter steckt und das in den letzten Jahren auch in den Debatten der ostdeutschen Bürgerechtsbewegung wieder sichtbar wurde: Es war schon vor 1989 keine homogene Gruppe.

Der gemeinsame Nenner der DDR-Opposition war vor allem ihr Widerstand gegen die herrschende SED, deren Machtapparat und die verheerenden Folgen ihrer Wirtschafts- und Umweltpolitik.

Es einte sie freilich auch der Wille zum Respekt und zum fairen und offenen Sprechen miteinander. Und dass sie nicht alle dieselbe Sicht auf den Weg in die Zukunft hatten, das wurde schon in Herbst 1989 deutlich, als sich eben nicht nur eine gemeinsame Oppositionsgruppe zusammenschloss wie das Neue Forum, sondern binnen kürzester Zeit weitere Gründungen mit deutlich verschiedenen Zielen folgten, von der SDP bis zum Demokratischen Aufbruch.

Spätestens bei den Volkskammerwahlen im März 1990 standen die einst Verbündeten auf einmal in verschiedenen politischen Lagern.

Und natürlich gehört die Wahrnehmung ebenfalls zu den Versäumnissen der (westlichen) Sicht, die – was die Gesamtsicht der Bundesrepublik auf den Osten betrifft – irgendwo vor 30 Jahren oder noch früher steckengeblieben ist und geradezu aus einer geballten Sammlung von Vorwürfen gegen die Ostdeutschen besteht, welche ihnen die über 40-jährige Diktatur genauso zum Vorwurf macht wie diese Unverschämtheit, sich 1990 der armen Bundesrepublik auch noch aufgedrängt zu haben.

Das ist jetzt überspitzt. Aber im medialen Diskurs taucht diese Sichtweise immer wieder auf. Bis hin zu Behauptungen, die Bürgerrechtler hätten in der Revolution von 1989 gar nicht die Triebkraft gebildet und außerdem wäre es auch gar keine Revolution gewesen, sondern so etwas wie ein Zusammenbruch, Umbruch, eine Wende und was der Verharmlosungen mehr sind.

Vokabeln, die im Grunde auch diskreditieren sollen, dass es die DDR-Bürger 1989 fertiggebracht haben, eine als ewig gefühlte Partei zu entmachten und den Geschichtsprozess wieder in die eigenen Hände zu nehmen.

Wer hat die Hoheit über „Geschichte“?

Was ihnen ebenfalls meist abgesprochen wird, mit der etablierten Sichtweise, die Einheit sei ganz allein ein Verdienst des Dr. Helmut Kohl gewesen. Als hätte es keine frei gewählte Volkskammer gegeben, welche die Hauptlast dieses Vereinigungsprozesses trug. Alles nachlesbar. Es ist ja nicht so, dass es die Forschungsarbeiten dazu nicht gäbe.

Aber sie gehen unter im deutschen Gejammer und Besserwissen. Und viele Veröffentlichungen kamen natürlich zu spät. Zudem wurden sie medial kaum rezipziert, während die auch von Eckert analysierte Kowalczuk-Pollack-Kontroverse (in der es um die Frage ging, wer eigentlich treibende Kraft der Friedlichen Revolution war) jahrelang für mediale Schlachten sorgte. Und sorgt.

Wie die Debatte auch von persönlichen Eitelkeiten und Besitzständen geprägt war, zeigt das Kapitel „Kampf um Hohenschönhausen“ und die medial jahrelang überpräsente Rolle von Hubertus Knabe, der für (west-)deutsche Medien jahrelang so etwas wie der einzig kompetente Sprecher für die ostdeutschen Opfer galt und so die Debatte über die ostdeutsche Aufarbeitung regelrecht verzerrte.

Und damit auch den Blick verstellte dafür, dass es schon lange nicht mehr gut ankam, wenn die Ostdeutschen das Gefühl haben mussten, dass Westdeutsche ihnen (immer noch) ihre eigene Geschichte erklärten.

Die Vermutung von Rainer Eckert, dass das zur seit Jahren spürbaren ostdeutschen Verbitterung beigetragen ist, ist so abwegig nicht. Das Gefühl erlebte ja auch die heutige sächsische Sozialministerin Petra Köpping, als sie für ihr 2018 erschienenes Buch „Integriert doch erst mal uns! Eine Streitschrift für den Osten“ mit zahlreichen Bürger/-innen des Freistaats sprach.

Und das hat eben wenig damit zu tun, dass es den Menschen vielleicht schlechter ginge oder sie nicht alle Teil gehabt hätten am hart erarbeiteten Aufschwung nach 1990.

Ein fast vergessener Moment

Doch Stimmungslagen entstehen im Kopf und haben mit Emotionen zu tun. Und wenn Menschen das Gefühl haben, dass immerzu nur andere über sie reden und sie selbst keine Stimme haben in der Selbstvergewisserung einer Gesellschaft, dann entsteht Frust. Dann werden Menschen auch manipulierbar. Und seit 2015 hat die AfD massiv angedockt an diesen Gefühlen der ostdeutschen Minderwertigkeitskomplexe.

Man kann es auch Entmündigung nennen. Denn wer nicht ganz selbstverständlich Teil des öffentlichen Sprechens übereinander ist, der hat keine Stimme. Etwas, was augenscheinlich erst die „neue Generation“ thematisieren kann, der Eckert ein eigenes Kapitel widmet.

Da geht er auch auf das Buch „Empowerment Ost“ von Thomas Oberender aus dem Jahr 2020 ein, in dem Oberender seine Ernüchterung 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution thematisiert, die auch für ihn ein großartiger Moment der Befreiung war.

Aber statt die Dinge selbst gestalten zu können, erlebten die meisten Ostdeutschen in den Jahren danach Entmündigung. Aus der Selbstermächtigung wurde ein neues Erlebnis von Machtlosigkeit. Womit sich dann natürlich die Elitendiskussion verbindet, denn es sind nun einmal die Eliten, die das, was eine Gesellschaft bewegt – zur Sprache bringen. Die auch zeigen, dass der Aufstieg gelingen kann, wenn man sich nur reinhängt.

Marginalisierte Stimmen

Nur erleben das die meisten Ostdeutschen nicht, weil sie weder über den nötigen finanziellen Schub noch die nötigen Verbindungen verfügen. Und so bleibt die ostdeutsche Elite ohne Sprache und den Leerraum füllen Populisten und Nationalisten aus.

„Zumindest das geistige Erbe von Bürgerbewegung und Revolution als ostdeutsche Erfahrung gehört zwingend in eine gesamtdeutsche Identitätserzählung und die krasse Ost-West-Umverteilung von Gestaltungsmöglichkeiten muss ein Ende haben“, schreibt Eckert mit Bezug auf Wolfgang Engler.

Aber wie, ist die Frage. Denn von ganz allein werden die Ostdeutschen nicht Teil der Elite. Das glaubte Eckert vor 20 Jahren noch, gibt er zu. Inzwischen hat sich seine Meinung gewandelt. Denn längst haben die ab 1990 etablierten westdeutschen Eliten ihre Nachfolger aus den eigenen – westdeutschen – Netzwerken gekürt. Die ostdeutschen Stimmen bleiben marginalisiert.

Wobei es, wie Eckert richtigerweise betont, ein „kollektives Ich des Ostens“ nicht gibt und nicht geben kann. Auch das ist eine Fremdzuschreibung, die seit 1990 zum Topos westdeutscher Medienkonzerne gehört, die es nie geschafft haben, eine wirklich eigenständige ostdeutsche Berichterstattung auf die Beine zu stellen, deshalb auch kaum fähig sind zu Differenzierung und authentischer Darstellung.

Also bedienen sie ihre alten Frames und Vorurteile, machen das beobachtete Subjekt zu einer Witzbudenfigur. Und empören sich dann, wenn sich die Witzbudenfigur wie eine Witzbudenfigur benimmt.

Lücken in der Wahrnehmung

Und natürlich stürzt man sich begierig auf jede Diskussion ostdeutscher Bürgerrechtler, Wissenschaftler, Kuratoren und Autoren, in der die Fetzen fliegen und auch für das schäbige Dauerargument Platz ist, da wolle wohl jemand die DDR zurück.

Noch so eine eklatante Lücke in der westdeutschen Wahrnehmung, die es geradezu für einen Sündenfall hält, dass viele bekannte Bürgerrechtler 1989 nicht für einen Beitritt zur Bundesrepublik kämpfen, sondern für eine demokratisch reformierte DDR und dann 1990 für einen gemeinsam gestalteten Vereinigungsprozess, den es so aber nicht gab. Da kann man dann über historische und ökonomische Kräfte sprechen.

Über die Zwänge von Politik, über Kompromisse und Niederlagen. Geschichte ist immer komplex, stellt Eckert immer wieder fest. Der auch auf die ebenso unübersehbare Lücke in der Wahrnehmumng der Friedlichen Revolution verweist – nämlich ihre Einbindung in den gesamten osteuropäischen Rvolutionszyklus von 1989/1990.

Da kommt dann nämlich eine andere westliche Ignoranz zum Vorschein, die sich auch im Verhältnis zum Putinschen Russland so tragisch ausgewirkt hat.

Man hat die Geschichte all der Staaten einfach nicht ernst genommen, die sich 1989/1990 aus der Umklammerung des sowjetischen Imperiums befreiten. Sie wurde nicht befreit, sondern haben sich selbst befreit. Und trugen alle die Erinnerung an das Wesen der Diktatur nach Moskauer Muster in sich, wussten also und sahen vor allem, wie unter Putin dieser alte russische Imperialismus wieder erstarkte.

Wer meint hier Freiheit?

Mit der Marginalisierung der ostdeutschen Geschichtserfahrung verschwand auch das aus dem Selbstverstännis der Bundesrepublik. Und damit droht freilich auch die Verbindung der jüngeren Generationen zur eigenen Geschichte verloren zu gehen. Umso wichtiger sind also all die Erinnerungsorte, welche die ostdeutsche Geschichte der letzten Jahrzehnte wachhalten sollen.

Auch wenn sie sich alle der Frage stellen müssen, ob ihre Vermittlung noch zeitgerecht ist und überhaupt heutigen Ansprüchen wissenschaftlicher Präsentation genügt. Der Streit betrifft ja bekanntlich auch das Museum in der „Runden Ecke“ in Leipzig.

Aber er spielt auch in das Pro und Kontra zum Leipziger Freiheits- und Einheitsdenkmal hinein, das in seiner ersten Wettbewerbsrunde auch deshalb scheiterte, weil zu viele Leute ihre Engsicht in den Wettbewerb gepresst hatten. Die zweite Wettbewerbsrunde ist ja erst mit erheblicher Verzögerung gestartet.

Aber vielleicht klappt es ja diesmal und die europaweit eingeladenen Künstler haben den Mut, tatsächlich der Sehnsucht der Ostdeutschen von 1989 einen künstlerischen Ausdruck zu geben: der Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung.

Was, wenn man es recht betrachtet, nach wie vor in Teilen eine uneingelöste Sehnsucht ist. Und damit auch ein Anspruch, den ja Eckert eigentlich mehrfach formuliert: der Anspruch, gehört und akzeptiert zu werden, so wie man ist. Mit einer Vergangenheit, die alle Facetten hat, die eine vollwertige Geschichte benötigt.

Samt Höhepunkt im Herbst ’89 – einer Revolution, die auch deshalb friedlich blieb, weil die Revolutionäre die friedliche Veränderung wollten. Gerade der 9. Oktober 1989 erzählt davon.

Rainer Eckert „Umkämpfte Vergangenheit“, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2023, 40 Euro.

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