Es ist kein Zufall, dass dieser Buchtitel Assoziationen weckt. So ganz sachte an Milan Kunderas „Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“. Nicht nur bei der Wortwahl, die natürlich verblüfft, nachdem Berge von Büchern die Vor-Zeit der Friedlichen Revolution eher als düster, beklemmend, trist gezeichnet haben. Und nun das: das Porträt einer Gruppe junger Menschen, die ihre Lust am Leben in eine Rebellion verwandelte.

Der Verlag hat extra nicht das Wort Roman auf das Cover geschrieben, obwohl der Journalist Peter Wensierski den Weg dieser jungen Leipziger bis zu jenem Moment, da aus ihrem Mut eine Woge der Veränderung wurde, wie einen Roman schreibt. Voller Spannungsbögen, stimmungsvoller Szenen, aufregender Ereignisse, die geradezu danach drängen, verfilmt zu werden. Das hat nicht einmal Erich Loest mit seinem Roman „Nikolaikirche“ geschafft. Konnte er auch nicht. Die Distanz hat ihn daran gehindert. Denn was wir heute wissen über den Herbst 1989 und die Entwicklung bis da hin, das war immer gebrochen, gefiltert, vereinfacht – durch Medien, durch Erinnerungsbücher, auch durch Dokumentensammlungen. Und noch schlimmer: durch politische Einvernahme.

Das hat nicht nur die Nikolaikirche unheimlich aufgewertet und quasi zum zentralen Ausgangspunkt der Revolution gemacht, sondern auch das Personenensemble bestimmt, das letztlich als Heldengemeinschaft gefeiert wurde. Und es hat zu dem Mythos geführt, die Friedliche Revolution sei von der Kirche ausgegangen.

Als hätte mal wieder jemand anders für die Ostdeutschen Revolution gemacht. Und nicht ein paar sensible junge Leute in Leipzig die ganze Erstarrung und Trübsal nicht mehr ausgehalten, dieses weggesperrte Leben mit seinen verbauten Chancen. Jeder Funke eigener Initiative, Wünsche nach Veränderung und einem ehrlichen Miteinander wurden rigoros bekämpft. Darauf hatte sich der Herrschaftsapparat der SED seit 1953 spezialisiert. Und das hat auch immer wieder funktioniert – 1956 noch mit großen Schauprozessen, 1961 mit der Mauer, 1965 mit rabiaten Verboten von Filmen und Büchern, 1968, 1975, 1976 … Jedes Mal war es gelungen, eine ganze Generation einzuschüchtern und neue Angst zu installieren.

Mit Einschüchterung operierten Polizei, Staatssicherheit und Partei auch im Frühjahr 1988 noch, dem Zeitpunkt, den Wensierski ausgewählt hat, um seine Geschichte zu beginnen. Eine Geschichte, die man eigentlich schon zu kennen glaubt. Aber der Autor hat etwas gemacht, was Autoren solcher Bücher viel zu selten machen: Er hat Kontakt aufgenommen zu den Leuten, die damals begannen, den aufrechten Gang zu proben und die Nische Kirche zu verlassen. Denn nichts anderes waren die geduldeten Gruppen und Friedensgebete in der Nikolaikirche. Die Kirchen waren wichtig, denn sie waren der einzig verbliebene Ort, an dem Menschen noch unzensiert über ihre Ängste, Wünsche, Hoffnungen in diesem Land reden konnten. Aber es war trotzdem auch ein kontrollierter Ort, Pfarrer und Bischöfe mussten der Staatsmacht Rechenschaft ablegen und wurden immer wieder von grimmigen Funktionären aufgefordert, von ihrem Disziplinarrecht Gebrauch zu machen. Was dann auch zu den bekannten Konflikten innerhalb des Kirchenraumes führte.

Bis hin zu jenem legendären Ausschluss der Basisgruppen von der Gestaltung des Friedensgebetes, der dazu führte, dass sich ihr Protest erstmals auf den Nikolaikirchhof verlagerte. Womit alles begann – und was dazu führte, dass gerade die Gruppe um Uwe und Frank fortan die Freiräume immer weiter austestete, was in die ersten Protestzüge durch die Innenstadt führte und dann 1989 zu all jenen scheinbar verrückten Aktionen, ohne die der Leipziger Herbst nicht zu denken ist – vom Pleißegedenkmarsch über das Musikerfestival bis hin zum Statt-Kirchentag und der Aktion auf der Abschlussveranstaltung des Kirchentags auf der Rennbahn.

2014 hat Wensierski mit seinen Recherchen begonnen, fast das ganze Jahr 2016 hat er dazu verwendet, mit den Protagonisten dieser Zeit zu sprechen. Ein Glossar im Anhang stellt sie fast alle vor. Und spätestens da merkt der Leser, dass es wirklich eine Gruppe junger Leute war, die das alles in Gang gebracht hat. Junge Menschen, die mit dem Bestehenden abgeschlossen hatten, die selbst erlebt hatten, wie Berufs- und Lebenschancen ganz systematisch verbaut wurden, wenn man sich nicht krümmte, anpasste und schwieg. Wer die Parolen von Frieden, Demokratie und Gerechtigkeit ernst nahm, die auch die SED vor sich her trug, der rasselte unweigerlich mit der Staatsmacht zusammen, der wurde zum Überwachungsobjekt der Stasi und lernte den ganzen Apparat der Einschüchterung kennen.

Jahrelang hatte auch das „Dampfablassen“ funktioniert, waren Menschen, die gegen die Verhältnisse opponierten, in den Westen abgeschoben worden.

Doch die damals jungen Leute – kaum einer war älter als 25 – wollten das nicht mehr hinnehmen. Gerade in der Initiativgruppe Leben hatten sich Leute versammelt, die – wie auch Wensierski schreibt – „mit der Kirche nicht viel am Hut hatten“, aber eine Änderung des verkrusteten Landes wollten, die das formulierten, was sich Viele nur in aller Stille wünschten: ein offenes Land mit wirklich freien Menschen. Die sich nicht mehr bevormunden und einschüchtern lassen wollten. Auch nicht von der Kirche, die lange brauchte, um sich aus der Umklammerung durch die Staatsmacht zu befreien. Und als sie dann so weit war, da war der Protest dieser jungen Leute längst mit vielen mutigen Ideen, jeder Menge persönlichem Einsatz und immer mehr schwindender Angst auf die Straßen der Stadt getragen.

Wensierski lässt sie zwar alle nur unter ihrem Vornamen handeln, aber trotzdem gelingt es ihm, sie aus der Anonymität der üblichen Berichte herauszulösen. Da waren die Befragten selbst des Öfteren überrascht, welche Szenen und Erinnerungen auf einmal wieder aufkamen, lauter Dinge, die auch den eifrigsten Leser der Literatur zum Herbst ‘89 überraschen, weil es anderen Autoren nicht so wichtig schien, aufzuschreiben, wo diese jungen Leute eigentlich lebten, wie sie lebten. Nun erfahren wir, wie kreativ sie sich in Abbruchhäusern des Leipziger Ostens eingerichtet hatten, wie Freundschaften entstanden und in vielen abendlichen Gesprächen jene Netzwerke geknüpft wurden, in denen einer sich auf den anderen verlassen konnte und die so wichtig waren für alles, was dann 1988 und 1989 geschah.

Man landet mitten im vom Zerfall gezeichneten Leipzig, riecht die Espenhain-Luft und stolpert dann auch über die beigegebenen Bilderstrecken, die ja auch Szenen aus der Innenstadt zeigen. Man erkennt das alles fast nicht wieder. Wer heute durch diese Stadt läuft, begreift nicht einmal mehr, wie kaputt, verrottet und deprimierend sie 1989 war – und auch nicht, dass es diese zunehmend zerfallende Stadt war, die einer der wichtigsten Auslöser für den zunehmenden Protest war. Denn genauso desolat erlebten die Menschen ja auch ihre Betriebe, die Krankenhäuser und Altenheime. Das äußerlich Wahrgenomme ähnelte dem, was man als Substanz dieser Gesellschaft erlebte.

Und mit Wensierski erleben wir, wie diese kleine Gruppe, die sich später bei ihren Aktionen „Initiative zur demokratischen Erneuerung der Gesellschaft“ nannte, zunehmend die Angst verlor. Wozu ausgerechnet die Zuführungen, Verhöre und Beobachtungen durch die Stasi beitrugen. Tatsächlich trugen die Übergriffe der Staatsmacht nur dazu bei, die Aktionen bekannter zu machen und immer mehr Sympathisanten zur Teilnahme an den Aktionen zu bewegen. Dabei spielten alle Beteiligten durchaus mit ihrer Freiheit, gab es Wohnungsdurchsuchungen, Maßregelungen, Verfolgungsjagden. Wensierski kann ja auch aus den Protokollen der Staatsmacht zitieren und immer wieder das Handeln der Funktionäre einblenden. All das war real.

Und trotzdem verändern die Erinnerungen der von Wensierski Befragten jetzt das Bild. Denn wenn Menschen die Angst verlieren und es wagen, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, dann verändert das auch die Auswahl der Erinnerungen. Auf einmal kommen die ganzen schwejkschen Szenen wieder an die Oberfläche, die die Verhafteten im Verhör erlebten. Die ganzen Momente, in denen sich die martialischen Untersuchungsspezialisten als ratlose und letztlich machtlose Wesen erwiesen. Sie konnten drohen, locken, appellieren. Wenn die Maske einmal verschwunden war, zeigte sich ihre ganze Hilflosigkeit. Aus der schwindenden Verängstigung erwächst – Szene um Szene – das, was Wensierski im Titel zitiert. Und was zumindest 1989 noch den Beteiligen bewusst war, weil sie es gefühlt und erlebt hatten. Rolf Sprink hatte Wensierski auf das Zitat von Gudula Ziemer und Holger Jackisch in „Jetzt oder nie – Demokratie!“, dem allerersten Buch über den Herbst ’89, aufmerksam gemacht, wo sie formulierten: “Ohne Anstrengung haben wir die Regierung gestütrzt. Es war schön und leicht …”

Wobei dieses Gefühl der Leichtigkeit auch damit zu tun hat, dass das alles mit friedlichen, phantasievollen, fast übermütigen Aktionen gelang. Man ist mit Wensierski ja dicht dabei, wenn sich Uwe, Thomas, Frank, Jochen, Katti, Gesine und all die anderen treffen und ihre Aktionen ausbaldowern, wissend um die Allgegenwart der Stasi und auf höchste Konspiration bedacht, und dennoch nicht mehr zu bremsen, wenn eine Idee sie alle begeistert hat. Das, was man gern so beiläufig “für eine Sache glühen” nennt. Und sie glühten für ihren unbändigen Wunsch, ein freies Land mitgestalten zu können, in dem die Menschen frei sind in allem, was sie tun. Eine wirklich ehrliche und lebendige Gesellschaft, an der alle mitwirken dürfen.

Und auch wenn Wensierski im Nachwort betont, dass diese Gruppe nur ein Teil der vielfältigen Aktionen in Leipzig war, so macht sein Buch umso deutlicher, dass es gerade diese lebenslustigen, unbändigen und zunehmend angstlosen Freunde waren, die die Sache in Leipzig auf die Straße und ins Rollen brachten. Und die damit am Ende den ganzen Herbst ‘89 auslösten, der eben nicht am 9. Oktober 1989 begann. Der war nur der Punkt, an dem es zum großen Dammbruch kam, nach dem die Staatsmacht tatsächlich die Waffen streckte. Der 9. Oktober war erst möglich, weil der Mut dieser Gruppe junger Menschen binnen von kaum zwei Jahren immer mehr andere Menschen ermutigte und dazu brachte, sich anzuschließen, mitzulaufen und sich nicht mehr wegschicken zu lassen.

Und weil Wensierski die ganze Geschichte schreibt wie einen Roman, der immer emotionaler auf den September 1989 zurollt, wird auch viel von der Stimmung dieser Monate spürbar. Man sieht nicht aus der üblichen Vogelperspektive auf das triste, herbstliche Leipzig mit seinen „Wir sind das Volk!“-Rufen (die tatsächlich erst im Herbst 1989 kamen und bis heute die viel stärkere Forderung nach einem „freien Land mit freien Menschen“ überblenden, aber auch das wird im Buch erklärt), sondern man ist mittendrin – eigentlich in zwei großen Sommern voller Leichtigkeit, Zuversicht, zunehmender Freude daran, die Grenzen des Möglichen auszuweiten.

Und dabei immer auch an die Mitmenschen zu denken, die oft nur einen Mutmacher brauchten, das öffentliche Beispiel, dass ein aufrechtes und unverstelltes Leben möglich ist. Was ja eigentlich immer der Antrieb ist für Menschen, die ihr Leben wirklich leben wollen.

Dieser Teil der Rebellion taucht bislang in den Büchern zur Friedlichen Revolution oft nur am Rande auf. Hier wird er richtig lebendig und man lernt die Handelnden alle sehr persönlich kennen – mit ihren Lebensgeschichten und Beweggründen. Und irgendwann wünscht man sich nur noch, da überall mit dabei gewesen zu sein, möglichst ohne Angst und Beklemmung. Denn man spürt ja, wie genau diese Ängste nach und nach abfallen und der Mut der jungen Leute wächst, das Menschliche und das Mögliche nicht nur in der überfüllten Nikolaikirche zu äußern, sondern in aller Öffentlichkeit zu fordern.

Das gilt immer. Das Buch ist so aktuell, dass man es einfach nur genießen kann und das Jahr 1989 mit neuen Augen betrachtet. Denn es war ein junges Jahr. Und es waren junge Menschen, die die alten Stiesel herausgefordert – und am Ende besiegt haben. Mit Humor, Kreativität und unbändiger Lebensfreude.

Peter Wensierski Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution, DVA, München 2017, 19,99 Euro.

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