Der Leipziger Literaturprofessor Dirk Oschmann hat den Nerv vieler Deutscher getroffen. Sein Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ steht auf Platz 1 der Spiegel-Bestseller-Liste und wird in den deutschen Medien hoch- und runterbesprochen, in der LZ bereits Ende Februar 2023. Der zweite Teil des Interviews dreht sich um die westdeutsche Berichterstattung über das Buch, Sächsisch als Verlierersprache und die Frage: Und was kommt nun?

Sie haben die positiven Reaktionen auf Ihr Buch beschrieben. Haben Sie Angst, aus einer ungewollten Richtung Applaus zu bekommen?

Falls Sie mit Ihrer Formulierung etwa die AfD oder den rechten Rand meinen: Nein, aus dieser Richtung gab es keine mir bekannten Reaktionen zum Buch. Das sollte mich bei meinen eindeutigen öffentlichen politischen Positionierungen auch wundern. Sowohl im Buch als auch in anderen Zusammenhängen habe ich das politische Wirken der AfD scharf kritisiert und als extrem demokratiegefährdend beschrieben.

Ich halte die AfD für eine enorme gesellschaftliche Bedrohung. Das habe ich im Buch gleich mehrmals deutlich gemacht. Dass man dennoch bestimmte Zusammenhänge wie Sprache und Heimat und Herkunft reflektieren muss, liegt ja auf der Hand. Das tun beispielsweise auch die Grünen auf ihre eigene Art, weil es gar nicht anders geht, wenn man den Anspruch hat, Politik für alle Menschen im Land zu machen.

Was sich bei dem von mir beschriebenen Problem zeigt, gibt es ja auch in anderen Ländern: in den USA zwischen den Küstenregionen und dem fly-over-country, in Großbritannien der Spalt zwischen den somewheres und den anywheres und in Frankreich zwischen Stadt und Land. Es ist oft die Differenz zwischen hochgradig Gebildeten und den von der Globalisierung Benachteiligten. Die Politik wird meist nur noch für die mobilen, hochgradig gebildeten Eliten gemacht.

Im Buch kritisieren Sie, dass es kein ostdeutsches Leitmedium gibt. Wie haben Sie die mediale Darstellung Ihres Buches durch westdeutsche Medien empfunden?

Es gab in den Rezensionen scharfe Reaktionen, aber auch viel positive Resonanz. Interessant waren die verschiedenen Interviews in Presse, Hörfunk und Fernsehen. Bemerkenswert war, dass selbst unter politischen Journalisten gravierende Wissenslücken existieren.

Ich bin westdeutschen Politik-Journalisten begegnet, die Björn Höcke für einen „Faschisten aus Thüringen“ halten, obwohl er aus dem Westen kommt, nämlich aus Lünen im Kreis Unna, oder die nicht wussten, dass auch der Osten den „Soli“ bezahlt hat und bezahlt.

Diesen Dingen bin ich doch tatsächlich begegnet, und wenn selbst politische Journalisten solche Dinge nicht wissen, wie sollen das andere wissen, besonders wenn knapp 20 Prozent der Westdeutschen noch nie im Osten waren? Niemand muss sich für den Osten interessieren, aber gefährlich wird es, wenn jemand dennoch eine Meinung dazu hat und glaubt, irgendwas darüber zu „wissen“.

Dann war interessant, welches Framing in bestimmten Interviewzusammenhängen benutzt wurde. In einem ZDF-Beitrag wurden Bilder eingebunden, die zu nichts anderem dienten, als den Osten in die übliche Schublade zu stecken, dass er zurückgeblieben und hässlich sei, ein beliebtes Stereotyp, den ich mit dem Buch gerade kritisiere.

Der Spiegel wiederum nahm als Aufmacher für das Interview mit mir ein unsägliches Foto aus dem Jahr 1993 statt aus dem Jahr 2023, obwohl es mir doch um den Zustand unserer deutsch-deutschen Gegenwart geht. Das zu beobachten war interessant, aber ich verurteile es scharf.

Leipzig hat einen westdeutschen Bürgermeister, aber zahlreiche ostdeutsche Dezernenten. Ist das nicht eigentlich ein Gegenbeispiel zu ihrer These?

Ich würde eher umgekehrt fragen: Wie sieht es in Heidelberg, Stuttgart und München aus? Gibt es dort Bürgermeister aus dem Osten? Unirektoren aus dem Osten? Es ist dann auch die Frage, wie viele Ostdeutsche im Westen in Führungspositionen sind. Solange der Osten das Gefühl hat, er kann nicht bei der Demokratie mitmachen – und alle Zahlen und Daten belegen das auf dramatische Weise – solange hat unsere Gesellschaft ein riesiges Problem.

Warum haben Sie, wie Sie in Ihrem Buch schreiben, Ihren Kindern mit Taschengeldentzug gedroht, wenn sie sächsisch sprechen. Ist das nicht eigentlich eine Unterordnung?

Das war natürlich ein Witz, aber mit ernstem Hintergrund. Ich hatte Kollegen, die Kurse belegt haben, um ihr Sächsisch loszuwerden, um so ihre Berufschancen zu verbessern. Schauen Sie Jan Böhmermann oder andere Satire-Sendungen: Wenn es darum geht, den Osten in die Pfanne zu hauen, geht es ums Sächsische.

Das Sächsische steht für das Hässliche, das Dumme, das Komische. Thomas Rosenlöcher hat bereits 1997 Sächsisch als „Verlierersprache“ betitelt. Es gab in Dresden in den 90er Jahren eine Annonce, in der angeboten wurde, das Sächsische loszuwerden, um erfolgreich zu werden.

Wie erklären Sie sich die unterschiedliche Bewertung der deutschen Dialekte? Bayerisch oder Berlinerisch haben auch ihre Eigenheiten …

Ganz einfach: Der Westen lobt seine regionale Vielfalt, dem Osten wird das nicht zugestanden. Der Soziologe Stephan Lessenich nennt dies Externalisierung: Das heißt, alle Probleme, die wir als Gesellschaft haben, schieben wir in den Osten oder lasten sie ihm an. Im Westen sollen es Einzelfälle sein, im Osten Probleme.

Es gibt hier verschiedene Perspektiven auf die Ukraine, auf die Flüchtlingskrise, auf die Energiekrise. Der Osten wagt es, Dinge anders zu sehen, weil er zwei Systeme kennengelernt hat und diese wilde Zeit 1989/90. Der Grund für die abweichenden Sichtweisen ist vielfach, dass der Osten über einen wesentlich größeren historisch-politischen Erfahrungsschatz verfügt, den der Westen aber als solchen prinzipiell gar nicht erst anerkennen will.

Carsten Schneider, der Ostbeauftragte der Bundesregierung, versucht, diesen Erfahrungsschatz hervorzuheben und ihn als Stärke zu begreifen. Dahinter steckt der folgende Gedanke: Wenn man verschiedene Perspektiven hat, kann man vergleichen und schon sind Positionen nicht mehr eindeutig. Wenn man ins Ausland reist, vergleicht man, gleicht man ab, nimmt kulturelle Ideen auf, hinterfragt die eigene. Die Menschen im Westen kennen zumeist nur ein System, dass der BRD seit 1949.

Herr Oschmann, was ist der Osten für Sie?

Der Osten ist für mich der historisch-gesellschaftliche Zusammenhang, in dem ich groß geworden bin, aus dem ich selber komme, der mich in meinem Herkommen geprägt hat. Aber mich bestimmt viel mehr, welche Entscheidungen ich in meinem Leben frei getroffen habe.

Wie geht es für Sie und mit der Debatte weiter?

Das kann ich überhaupt nicht sagen. Es gibt auch genug Behauptungen, die sagen, dass der Effekt des Buchs verpuffen wird. Das hat die Süddeutsche geschrieben, auch Jana Hensel in Die Zeit. Das kann passieren und es ist nicht abwegig, aber es war mir dennoch wichtig, diesen Text zu veröffentlichen. Ich finde, es ist damit ein sehr, sehr ernsthaftes Problem in den Blick genommen.

Als Folge der Veröffentlichung habe ich demnächst unter anderem einen Termin im Bundespräsidialamt, einen mit dem Ministerpräsidenten von Sachsen; mit dem Ostbeauftragten habe ich bereits gesprochen sowie mit seinem Stab, auch mit der Rektorin der Universität Leipzig gab es schon einen ersten Austausch. Aber wie es weitergeht? Keine Ahnung, das Problem ist vergleichbar mit einem riesigen Tanker, der umsteuern müsste.

Bestseller-Autor Dirk Oschmann im Interview (I): „Vorurteile wie im Kalten Krieg – Döpfner ist Beweis dafür“

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