Welchen Einfluss die sozialen Medien, besonders deren exzessive Nutzung, auf uns haben, darüber wird viel diskutiert. Die Verrohung der Sprache, die Schnelllebigkeit von Informationen und die mangelnde Überprüfbarkeit des Wahrheitsgehaltes werden oft beklagt. Welchen Einfluss haben die Internetplattformen, üben diese überhaupt Macht aus und wenn ja wie passiert das?
Dazu sprachen wir am 04. April mit Michael Seemann. Man kann Michael Seemann schon als Inventar der sozialen Medien bezeichnen. Als „mspr0“ macht er viele soziale Netzwerke unsicher und beobachtet, was dort vor sich geht. Seit 2010, in seinem Blog ctrl-Verlust, schreibt er darüber, wie wir sukzessive die Kontrolle über unsere persönlichen Daten verlieren und 2021 veröffentlichte er das Buch „Die Macht der Plattformen“.
Herr Seemann, um es einfach auszudrücken, wir kommunizieren über diese Plattformen, informieren und konsumieren dort, dafür bieten sie uns komfortable Möglichkeiten. Andererseits beeinflussen sie uns aber dabei. Kann man das so einfach sagen?
Ja, das kann man so sagen.
Herr Seemann, wir haben beide die Zeit Ende der 2000er, Anfang der 2010er im Internet erlebt. Viele User kamen aus der Forenkultur des „alten Internets“, es gab eine Vielzahl von größeren und kleineren sozialen Netzwerken, allein in Deutschland mit beispielsweise Studi- und Schüler VZ, „Wer kennt wen“ und anderen. Sie haben schon damals vor dem Kontrollverlust gewarnt, wie sehen Sie heute die Entwicklung?
Kontrollverlust ist immer nur der Verlust einer Erwartung von Kontrolle, also die Erwartung, dass die Dinge so laufen wie man geplant hat. Sobald die Realität von der Erwartung abweicht, empfinden wir das als Kontrollverlust. Wenn wir mit dem Auto fahren und jemand vor uns bremst, aber unsere Bremse funktioniert nicht: Das ist ein Kontrollverlust.
Als ich vor über zehn Jahren vom Kontrollverlust gesprochen habe, bin ich von einer bestimmten zu dieser Zeit existierenden gesellschaftlichen Erwartung an Daten und Datenströme ausgegangen, und habe gesagt: Diese Erwartung ist nicht mehr zeitgemäß, sie wird sich ändern. Das hat bestätigt, weil die Daten immer weniger unter Kontrolle sind. Was sich aber geändert hat ist, dass heute niemand von uns das noch erwartet. Ich glaube, das ist der Punkt.
Jetzt kam ja gerade heraus, dass es den größten Leak der Geschichte von Twitter-Daten mit Hunderten Millionen Konten gab. Elon Musk hat mehr oder weniger die gesamten Social Security Daten aus den staatlichen Datenbanken in den USA auf seine Festplatten kopiert. Wir erleben im Endeffekt gerade die absolute Datenbank-Schmelze, aber das ist halt nur noch eine Randnotiz. Alle Leute zucken nur noch mit den Schultern, weil das mittlerweile so ist.
Niemand erwartet mehr, dass irgendetwas noch kontrollierbar ist und deswegen gibt es auch keinen Kontrollverlust mehr, die Erwartung hat sich an die völlige Kontrolllosigkeit angepasst.
Es ist halt dieses „nobody cares anymore“. Das ist mein Empfinden.
Auf gut Deutsch gesagt: Wir verlieren nicht mehr die Kontrolle, sondern es ist uns eigentlich egal?
Wir haben die Kontrolle verloren und wir haben damit gelernt zu leben, würde ich sagen.
Die sozialen Netzwerke haben sich konzentriert auf großen Plattformen wie Meta und X, die im Besitz von US-Unternehmen sind. Mit der Übernahme von X (ehemals Twitter) durch Elon Musk und letztlich der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten ist das zum Problem geworden. Es gibt nicht nur Differenzen um den Begriff „Meinungsfreiheit“.
Wenn die Algorithmen, die die sozialen Netzwerke steuern, also beispielsweise die Sichtbarkeit von Tweets und Posts, nach den Interessen des Betreibers geändert werden, was sind die Gefahren? Ist es nur die Desinformation, oder schon eine Steuerung unseres Verhaltens?
Man muss davon ausgehen, dass diese manipulierenden Algorithmen längst im Dienst sind. Im Falle von X und Elon Musk, gehe ich ganz stark davon aus, dass die Algorithmen entsprechend verändert worden sind. Wir wissen es sogar schon bei Elons eigenen Tweets, dass er dort einen eigenen Algorithmus-Part hat, mit dem seine Tweets allen Nutzern angezeigt werden. Das ist im Endeffekt sein großes Lautsprecher-Ding.
Es gibt sehr viele Untersuchungen, die mittlerweile bestätigen, dass republikanische und rechte Narrative auf X eine viel größere Verbreitung finden als demokratische. Und das hat definitiv Effekte auf die Meinungsbildung, weil doch noch eine ganze Menge Leute dieses soziale Netzwerk nutzen.
Speziell bei X gibt es einflussreiche Menschen wie Journalist/-innen, Politiker/-innen und andere Influencer/-innen, die auch außerhalb von X eine große Reichweite haben. Das halte ich für sehr gefährlich, weil diese natürlich in einem anderen sozialen Umfeld leben als der Rest. Die bewegen sich in einem sozialen Umfeld, in dem es normal ist gegen Ausländer zu hetzen, in dem es normal ist nationalistisch zu sein, in dem bestimmte Dinge normal sind, die eigentlich nicht normal sein sollten.
Das ist kein Hacking im Sinne von: Jemand dringt in dein Unterbewusstsein ein und verändert deine Haltung zu etwas. Aber natürlich verändert es uns, wenn wir uns in einem sozialen Umfeld bewegen, in dem bestimmte Dinge normal sind und andere nicht. In der Medienwissenschaft spricht man vom overtone-window, das heißt von dem Fenster der Aussagen, die als sagbar gelten. In jeder Gesellschaft gibt es so ein Spektrum, es gibt keine Gesellschaft, in der man alles sagen kann.
Das ist keine harte Grenze, aber an den Rändern des Sagbaren gerät man schnell in Rechtfertigungsnöte. Dieses Fenster lässt sich aber verschieben und ich glaube, das ist die größte Macht dieser Plattformen. Innerhalb ihrer eigenen Netzwerke können sie dieses Fenster in die eine oder andere Richtung verschieben und damit den Diskurs beeinflussen. Sie beeinflussen damit nicht in erster Linie die Individuen, das ist ganz wichtig, sondern den Diskurs. Das heißt, sie beeinflussen das Empfinden der Menschen, was man sagen kann und was man nicht sagen kann.
Wie man im Deutschen sagt: Die Grenzen des Sagbaren verschieben.
M.S. Genau, die Grenzen des Sagbaren verschieben. Ich glaube, das ist das, was sie momentan sehr erfolgreich tun. Man sieht mittlerweile auch in unserer Medienlandschaft, dass bestimmte Dinge plötzlich sagbar werden, die vor noch ein paar Jahren nicht sagbar waren. Ich mache nicht allein X dafür verantwortlich, aber ich glaube X hat einen Anteil daran.
Wie stark oder schwach diese Verschiebungen sich auswirken, kommt auch darauf an, wie leicht oder wie schwer sich die Leute damit tun, eine Plattform zu verlassen. Natürlich sind die Leute nicht dumm, die sehen ja auch die Manipulationsversuche. Es wird auch thematisiert und es werden Artikel darüber geschrieben und Leute, die ihren X-Account immer noch haben, kriegen den ganzen Tag gesagt: „Hey, warum bist du da immer noch? X ist doch eine Propagandawaffe von Elon Musk.“
Aber sie haben meistens Gründe, die dafür sprechen, dort zu bleiben. Sei es Zugang zu bestimmten Wissenschaftler/-innen, Expert/-innen oder Politiker/-innen oder es findet irgendein Diskurs statt, von dem sie nicht ausgeschlossen werden wollen. Das nennt man den Lock-in-Effekt, das heißt man ist irgendwie auf dieser Plattform gefangen, weil dort bestimmte Dinge passieren, die auf anderen Plattformen nicht passieren.
Dieser Lock-in-Effekt führt dazu, dass die Leute sich nicht entscheiden können, die Plattform zu verlassen. Am gefährlichsten daran ist, dass sie damit jeden Schritt von Elon Musk in die Radikalisierung mitgehen. Das ist ja das, was er selbst macht: Musk und seine Plattform sind in einer wechselseitigen Radikalisierungs-Spirale, nehmen dabei alle anderen mit in den Wahnsinn. Das heißt nicht, dass dort jetzt alle zu Nazis werden, aber es werden eine ganze Menge Leute offen für Nazi-Content, für Nazi-Argumente, weil sie das einfach um sich herum als Normalität erleben.
Sie und ich, wir sind ja weg von X. Wenn ich aber auf X bliebe, hätte ich vielleicht gute Gründe. Dort ist der Kreisverband meiner Partei, meine Regionalzeitung, der Fernsehsender und so weiter. Dafür bekäme ich automatisch diese Art von Verschiebung der Grenzen des Sagbaren eingespielt und gewöhnte mich daran?
Genau, das ist ein Gewöhnungseffekt. Mein Punkt ist: Unsere Gesellschaft ist dadurch strukturiert, dass wir einander beobachten und daraus folgern, was gesellschaftlich für akzeptabel gehalten wird. Dabei kommt es immer wieder vor, dass sich Leute darüber beschweren, was andere Leute sagen, dass beispielsweise Rassismus oder Lügen widersprochen wird, was dann gerne als „Cancel Culture“ verdammt wird.
Früher ist man in eine Kneipe gegangen und hat mit vielleicht zwölf Leuten geredet, wenn einer dabei war, der widersprochen hat, dann war das schon ein großes Ding. Aber wenn man jetzt zu tausenden von Leuten spricht, dann wird es immer Leute geben, die widersprechen. Das Internet hat vor allem verändert, dass der Raum, in dem wir miteinander diskutieren, unglaublich groß geworden ist.
Das heißt, es gibt diese extreme Spannung im Diskurs, weil immer irgendwo Konflikte ausgetragen werden. Man kann praktisch nichts Schreiben, ohne dass sich irgendjemand findet, der widerspricht. Das ist das Gefühl von manchen. Aber das hat nichts mit einer ausufernden Cancel Culture zu tun, sondern mit einer Gesellschaft, die plötzlich gezwungen ist, sich beim Kneipengespräch zuzuhören. Und das in einer Kneipe so groß wie die Welt, aber gefiltert durch Algorithmen, die auf Sensation und Emotion optimieren.
Im Teil 2 sprechen wir über die Notwendigkeit einer europäischen Social-Media-Plattform, wie diese bestenfalls aussehen sollte und die Auswirkungen von KI auf die sozialen Medien.
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“Unsere Gesellschaft ist dadurch strukturiert, dass wir einander beobachten und daraus folgern, was gesellschaftlich für akzeptabel gehalten wird.”
Ich finde es absolut unakzeptabel, dass die sonst progressive und reflektierte LIZ ihre Hand und damit die Hand ihrer NutzerÏnnen zum zweiten Mal binnen weniger Monate auf die heiße Herdplatte drückt. Neuer Name “Bluesky” – altes Konzept: massenhafter Datendiebstahl in X Jahren um den Erfolgsdruck der Crypto Bros zu befriedigen. UND: es gleichzeitig schafft, ihren Account im Fediverse (Gemeineigentum, offener Code, lokale Server) stillzulegen UND noch nicht mal die Bridge installiert bekommt. Ich finde das so unakzeptabel, dass ich dieses Medium hier nicht mehr mit meinen Kommentaren verschönern werde.
Denn so ein Journalismus ist so unehrlich und arschig wie LVZ.