„Die Ignoranz gegenüber der Geschichte der anderen trägt dazu bei, dass sich alles nur um einen selber dreht“, sagt Ilko-Sascha Kowalczuk zum Auftakt des 4. Kapitels in diesem Gespräch zweier Männer, die sich eigentlich spinnefeind sein könnten. Die es aber nicht sind. Im Gegenteil: Selbst Bodo Ramelow wundert sich immer wieder, dass beide in so vielen Dingen eine ganz ähnliche Sicht auf das haben, was da vor sich geht. Und was getan werden müsste, um unsere Gesellschaft vor dem Absturz in die Autokratie zu bewahren. Und natürlich geht es in ihrem Gespräch auch immer wieder um den Osten und das, was hier schiefläuft.

Aber eben nicht nur hier. Denn wie sie immer wieder feststellen in ihrem ausführlichen Gespräch, das sie am 18. und 21. November in Erfurt führten, ist der Osten nur Vorläufer einer Entwicklung, in der autoritäre Kräfte zunehmend Wahlerfolge feiern und davon träumen, das ganze Land irgendwie zurückzubeamen in alte, glorreich vergoldete Zeiten. Demokratie- und Verfassungsfeinde sind überall auf dem Vormarsch.

Und es sieht ganz so aus, als wäre der Osten nur die Blaupause für eine ähnliche Entwicklung im Westen. Da war Bodo Ramelow noch geschäftsführender Ministerpräsident in Thüringen, der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk hatte gerade sein Buch „Freiheitsschock“ veröffentlicht.

Ein Buch, in dem er ähnlich argumentiert wie im Gespräch mit Bodo Ramelow. Denn in vielem gehen die Prozesse in Ostdeutschland denen im Westen voraus, kann man hier geradezu wie an einem Seismometer ablesen, wie Menschen in autoritären Politikangeboten Zuflucht suchen, während sich die Krisen über ihren Häuptern zusammenballen.

Freiheit ist eine Herausforderung

Freiheit ist etwas, was man aushalten muss und gestalten. Sie fordert Selbstverantwortung und die Bereitschaft, sich einzubringen. Genau das Gegenteil dessen, was der Obrigkeitsstaat DDR seinen Bürgern abverlangte. Die Friedliche Revolution 1989 war die Sache einer Minderheit. Die Mehrheit wählte das Versprechen, ihre Verantwortung gleich wieder abgeben zu können.

Dem kam die Überstülpung der Regeln des Westens 1990 nur entgegen. Nur halt verbunden mit dem Schock, dass die DDR-Wirtschaft schlicht nicht konkurrenzfähig war, Millionen Arbeitsplätze wegfielen, Millionen Menschen, die glaubten, für ihre alten Jobs nun in D-Mark bezahlt zu werden, auf einmal arbeitslos wurden. Ihr Beruf völlig entwertet, die 1990er Jahre eine Zeit der grundstürzenden Verunsicherung und der gebrochenen Biografien.

Eigentlich das Kernthema von Kowalczuk, der sich immer wieder bemüht, mit den gängigen Legenden über den Osten und die Ossis aufzuräumen. Legenden, die auch und gerade in westdeutschen Redaktionsstuben gepflegt werden. Es geht ja den Wessis wie den Ossis: Beiden stecken in ihren eigenen Vorurteilungen und Prägungen. Und sie kommen nicht heraus – wenn sie sich nicht endlich bemühen, die Perspektive zu wechseln.

Und besonders geht Kowalczuk das ganze Jammern auf den Keks, mit dem etliche Ostdeutsche sich zu Wort melden. Oft verbunden mit einer riesigen Kippe Ostalgie und Verklärung der DDR, die in der Rückschau immer wohliger und rosiger gemalt wird. Ohne Blick für die direkten Nachbarn im Osten, die noch heftiger zu kämpfen hatten.

Ohne einen Blick darauf, dass Ostdeutschland – trotz Deindustrialisierung – wirtschaftlich heute viel leistungsfähiger ist, als es die DDR je war. Man sieht nicht das Erteichte und am Ende auch Selbst-Erarbeitete, sondern vergleicht sich immer mit dem Westen, der natürlich auch 35 Jahre später immer noch die Nase vorn hat.

Dass Ostdeutschland heute zu den wohlhabendsten Regionen auf der Erde gehört, kommt da gar nicht vor. „Diese Ignoranz gegenüber den Geschichten der anderen trägt dazu bei, dass sich alles nur um einen selbst dreht“, stellt Kowalczuk im Gespräch mit Ramelow fest. „Und dann wird man schnell unzufrieden.“ Und egoistisch, darf man hinzufügen.

Die Verführung der Autokraten

Unterhalten habe sich die beiden am 18. und 21. November 2024 in Erfurt. Da war Ramelow noch geschäftsführender Ministerpräsident in Thüringen. Am 14. März trafen sie sich noch einmal in Berlin. Da war Ramelow schon als „Silberrücken“ in den Bundestag gewählt worden. Bei der Gelegenheit aktualisierten sie etliches von dem, was sie im November besprochen hatten.

Denn mittlerweile hatte es die Bundestagswahl gegeben, die seltsamen Eiertänze von Friedrich Merz und den Beginn der zweiten Präsidentschaft von Donald Trump mit all seinen wilden Winkelzügen.

Die Welt ist – so scheint es – noch irrer geworden. Und noch gefährlicher, weil augenscheinlich immer mehr Menschen bereit sind, durchgeknallte Möchtegern-Diktatoren zu wählen und alles, was mit der Demokratie errungen wurde, über Bord zu schmeißen. Und die Medien spielen diese Angstmache immer fleißig mit.

Auch das besprechen die beiden, die sich eigentlich nicht hätten vertragen dürfen, denn Kowalczuk hat in der 1989 gegründeten PDS immer die Nachfolgepartei der SED gesehen, die die DDR über 40 Jahre in eine schön verpackte Diktatur verwandelt hat. Er weiß, wie sich die DDR von innen anfühlte. Er hat das nicht vergessen.

Bodo Ramelow kannte die DDR nur von außen, war Gewerkschafter, als er 1990 nach Thüringen kam und da überhaupt erst einmal funktionierende Gewerkschaftsstrukturen mit aufbaute. Denn die kannte man in der DDR nicht. Der FDGB hatte mit einer richtigen Gewerkschaft ja nichts zu tun.

Für ihn war seine Arbeit dann ein erstaunliches Kennenlernen des Ostens, der in Vielem nicht so war, wie der Westen sich das vorstellte. Es war ein gegenseitiger Lernprozess. Und da er als Gewerkschafter auch direkt dabei war, als westdeutsche Bedingungen über den Osten gestülpt wurden, kennt er auch die Verwerfungen, die dadurch entstanden.

Alles hat eine Vor-Geschichte

Und das Erstaunliche ist: Die beiden brauchen gar nicht lange, um sich im Gespräch zu finden. Es ist nicht nur ein Gespräch zwischen zwei Akteuren, die miteinander respektvoll umgehen. Auch ihre Einschätzungen dessen, was im Osten falsch gelaufen ist, liegen nah beieinander.

Und so streifen sie bis heute wirkende Phänomene wie den (totgeschwiegenen) Rechtsradikalismus in der DDR, die Folgen der massiven Abwanderung nach 1990 in den Westen, das Schweigen der Generationen, den westdeutschen Paternalismus und die Illusionen über den ostdeutschen Antifaschismus. Nicht zu vergessen die wilden Vorstellungen von Frieden, die auch die Landtagswahlen von 2024 bestimmten, in denen sich ausgerechnet die kremltreuen Parteien AfD und BSW als Friedensparteien verkauften.

Man ahnt, wie viel eigentlich die ganze Zeit unter der Oberfläche köchelt. Gerade im Osten, auch wenn die verhängnisvollen Langzeitwirkungen mittlerweile auch den Westen erfassen. Das ist beiden nur zu bewusst und im Kapitel „Der Traum von einer gerechten Gesellschaft“ gehen sie ausführlich darauf ein, sprechen über den realen Verlust an sozialer Sicherheit und den Osten als neoliberales Versuchsfeld, über wachsende Ungleichheit und die Freiheitsverächter, die es auch im Westen gibt. Auch unter Linken. Und natürlich kommen sie da auf das Menschenbild zu sprechen, das im Land eigentlich gehegt und gepflegt wird.

Oder sollte man besser sagen: Wessen Menschenbild eigentlich Politik (und Medien) macht. Und was das mit Entmündigung, Ausgrenzung und Ungerechtigkeit zu tun hat. Ramelow hat da dutzende selbst erlebter Beispiele parat. Dass er letztlich bei der PDS andockte und der erste linke Ministerpräsident in Deutschland wurde, hat ja Ursachen.

Denn als Gewerkschafter hatte er gelernt, dass man gemeinsam kämpfen muss, sonst erreicht man nichts in einer Welt, in der die Reichen und ihre Stellvertreter immer am längeren Hebel sitzen. Da ist es fatal, wenn sich nicht nur rechte Parteien bemühen, den Frust dann gegen die noch Schwächeren zu kehren.

Und viele Leute glauben das tatsächlich, denn mittlerweile wird die Kommunikation im Land ja durch die „Social Media“ dominiert, wo Lüge, Verschwörung und Bullshit dominieren und Wut und Hass schüren.

Der Osten als Frühwarnsystem

Im Kapitel „Ostdeutschland als Frühwarnsystem“ kommen sie darauf zu sprechen. Es geht um das kommunikative Versagen von Politikern und Parteien und um gezielte Kampagnen, mit denen – na hoppla – vor allem grüne Politik (sprich: Klimapolitik) in den letzten Jahren massiv desavouiert wurde und die Grünen regelrecht zum Feindbild im Osten gemacht wurden.

Denn natürlich greift hier die Diagnose, die die beiden schon früh in ihren Gesprächen getroffen haben: Dass die Sehnsucht nach autoritären Herrschaftsformen eng verknüpft ist mit der Angst vor Veränderungen. Einer doppelten Angst, weil gerade Ostdeutschen in ihrem Leben radikale Brüche hinter sich haben, verbunden mit den nie wirklich thematisierten Traumata aus dem Überwachungsstaat DDR, in dem nicht allein die Stasi munkelte.

Kowalczuk kann so einiges erzählen darüber, wie Menschen drangsaliert, aussortiert, behindert und zum Feind gemacht wurden, wenn sie nicht Ja und Amen zu allem sagten.

Aber was passiert, wenn die Eltern mit den Kindern nicht darüber reden? Das Trauma vererbt sich, wird nonverbal weitergegeben. Auch am Abendbrottisch. Man glaubt, es wären die eigenen Einstellungen und Werte, die man mit sich schleppt. Dabei gärt das Unausgesprochene der Altvorderen weiter mitten im Familienleben. Und schuld sind dann irgendwelche anderen, selbst wenn die gar nicht im eigenen Dorf wohnen.

Das trifft übriges auch auf den in der DDR propagierten Antiamerikanismus zu, der sich heute in der „Russlandliebe“ zweier Parteien wiederfindet, die sich den Wählern als Friedenspartei verkaufen. Obwohl das Stoppen der Hilfen für die Ukraine genau das Gegenteil bedeuten würden: eine Ermunterung für den Kriegsherrn Putin.

Natürlich sprechen die beiden auch darüber, welches falsche oder oft gar nicht existente Ukraine-Bild in den Köpfen steckt und wie das Putin-Russland heute geradezu verklärt wird. Aber das gehört dazu, wenn man verstehen will, warum bei so vielen Wählern überhaupt keine Vorstellung von Europa existiert – und damit auch kein Verständnis dafür, wie elementar Europa auch für den eigenen Wohlstand ist.

Ramelow macht es an 300 international agierenden thrüringischen Unternehmen deutlich, die zwar im deutschen Markt kaum Zugang gefunden haben, international aber gefragt sind. Und dasselbe Problem taucht beim Verständnis von Demokratie auf. Und das betrifft längst nicht mehr nur den Osten. Denn wenn man 35 Jahre bzw. 75 Jahre lang die Vorteile der Demokratie erlebt hat, nimmt man sie kaum noch wahr, hält sie für selbstverständlich. Oder entbehrenswert.

Und sieht nicht mehr, wie wichtig es ist, sie zu verteidigen gegen Leute, die letztlich nichts anderes vorhaben, als die Demokratie zu entkernen und eine korrupte Alleinherrschaft zu errichten.

Das stille Thema Umverteilung

Die Frage ist dann tatsächlich, wie die demokratischen Parteien damit umgehen, ob sie sich weiter gegenseitig zerfleischen oder endlich auch Klartext in eigener Sache sprechen: Dass es nämlich um unsere Demokratie geht, um Gerechtigkeit und Umverteilung. Das benennt natürlich Ramelow. Weil er weiß, dass eine Menge Frust und Unsicherheit aus der zunehmendenm sozialen Ungerechtigkeit kommen.

Da und dort wundert sich Kowalczuk darüber, dass Ramelow ausgerechnet in der Linken gelandet ist. Aber der Mann ist nicht die Partei. Und parteiintern hat Ramelow des Öfteren schon Gegenwind bekommen. Aber er diskreditiert das nicht: Er steht dazu. Selbst die Position einer Sahra Wagenknecht hat er noch vor 20 Jahren akzeptiert. Das ist lange her. Da sieht er inzwischen auch anders.

Aber Parteien leben eben auch von der parteiinternen Diskussion. Wer hier eine wohlbegründete Position nicht zu verteidigen bereit ist – wie will der das dann in einem politischen Amt tun? Man merkt schon: Das Gespräch berührt auch Ebenen, die in den Medien oft einfach ignoriert werden. Eigentlich fehlt nur noch ein Wort, bei dem man denkt, an der Stelle müsste Ramelow gequält aufschreien: „Geschlossenheit“.

Das Wort wird den Mediennutzern immer dann vor die Nase gepfeffert, wenn die Parteiköpfe keine Argumente mehr haben und den Wählern nicht mehr erklären können, was sie da tun. Und dass die Politik in weiten Teilen längst nichts mehr mit der Realität der meisten Wähler zu tun hat, auch das kommt zur Sprache. Ganz normale Arbeiter und Angestellte gehen nicht in die Politik.

Auch weil es ein existenzielles Risiko ist, das man als Schlosser, Maurer oder Paketbote nicht eingehen kann. Ergebnis ist, dass der Bundestag voller Juristen sitzt. Und – auch das thematisieren die beiden auf amüsante Weise – dementsprechend nach Juristendeutsch klingen dann auch Gesetzte, Reden und Pressemitteilungen. Paragraphiertes Blabla, in dem das, worum es eigentlich geht, nur noch für Experten zu erkennen ist.

Und das sind dann dieselben Leute, die das Gendern verbieten. Wie schizophren kann man eigentlich im Kopf sein?

Nichts ist hier putzig

Aber das Resümee dieses intensiven Gesprächs mit Zustimmung und Widerspruch ist nun einmal, dass es so nicht weitergehen kann, wenn man den Rechtspopulisten nicht das Feld überlassen will. „Wir reden gerade über Ostdeutschland wie über Disney-Land“, sagt Kowalczuk, „alles recht putzig hier, aber lange her. Aber im Osten ist es nicht putzig, im Osten bündeln sich die Probleme. Manche lassen sich gleichzeitig auch woanders beobachten, andere werden hier nur vorweggenommen. Im Osten geschieht vieles politische Negative oder Reaktionäre früher, schneller und radikaler als anderswo.“

Am Ende kommen die beiden auch auf ein Grundproblem unserer heutigen Politik: Die Unfähigkeit vieler Politiker, die tatsächliche Probleme beim Namen zu nennen. Wozu die kaputtgesparte Bildung genauso gehört wie das kaputtgeflickte Sozialsystem oder der milliardenschwere Investitionsstau. „Man flickt immer nur an den Dingen herum“, sagt Ramelow.

Und Kowalczuk erinnert daran, dass sich viele Politiker benehmen, als wären sie die Weihnachtsmänner der Nation, und Politik so betreiben, als wären sie allein die großen Ermöglicher. Man gönnt sich nichts und verhindert gute Politik sogar, nur weil die Ideen mal von den Anderen kommen. Es ist ein Gespräch geworden, wie man es in deutschen Talkshows schon lange nicht mehr erlebt. Die beiden hören einander zu, begründen, was sie sagen, schütteln auch mal den Kopf und streiten.

Aber sie fallen sich nicht ins Wort. Denn im Kern wissen sie, dass es um unser alle Verständnis von Demokratie geht. Und eine Forderung kommt immer wieder: Wir brauchen endlich eine gemeinsame Verfassungsdebatte, die nicht nur im Osten das Gefühl nehmen würde, dass hier einfach nur das Modell West über den Osten gestülpt wurde und die Ossis nichts weiter mitzureden haben.

Denn dasselbe gilt auch für die Westdeutschen, die oft einfach nicht merken wollen, wie sehr sich auch der Westen verändert hat, weil sich der Osten änderte. Und dass das eine Menge Folgen für das Gemeinsame hat und wie wir alle darauf schauen.

Ilko-Sascha Kowalczuk, Bodo Ramelowr „Die neue Mauer“ C. H. Beck, München 2025, 24 Euro.

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Es gibt 2 Kommentare

Wieso finden Sie es “natürlich”, daß “der Westen … auch 35 Jahre später immer noch die Nase vorn hat”, lieber Autor?

Bodo „Putin hat vollzogen, was Hitler nicht geschafft hat“ Ramelow und Ilko-Sascha “Zeigt diesen Kremlknilchen, dass wir mehr, lauter und besser sind!” Kowalczuk sind sich so “spinnefeind” wie sich das der Autor herbeihalluziniert. “Alles hat eine Vor-Geschichte” – nur die Ukraine nicht möchte man den pro Waffenlieferungenbrüdern Ramelow & Kowalczuk zurufen. Garniert mit wilden Behauptungen , unter Einbeziehung des Konstrukts “Ostdeutschland” ist man bei Kowalczuk schonmal bei Disney- Land. Eine Auswahl der Behauptungen ohne Belege: “Ostdeutschland – trotz Deindustrialisierung – wirtschaftlich heute viel leistungsfähiger ist, als es die DDR je war.” oder “Ostdeutschland heute zu den wohlhabendsten Regionen auf der Erde gehört” oder “kremltreuen Parteien AfD und BSW”. Könnte glatt die Regierung (“beste BRD ever”) oder vom Arbeitgeberverband kommen. Linientreu wie eh und je.

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