Eigentlich wollte der Bursche, der diese Geschichte erzählt, nur einmal aufbrechen zu einer Reise um die Welt, hat alle Zelte hinter sich abgebrochen, nur die nötigste Habe noch im Koffer. Und dann fährt er los, mitten im Winter – und landet mitten im wilden Schneegestöber in Polen. Ist also noch gar nicht weit gekommen, als er auf einem eisigen Bahnsteig die Bekanntschaft der polnischen Polizei macht. Und die einer Frau namens Monica, die ihm aus seiner ersten Patsche hilft.

Losgefahren ist er übrigens in Leipzig, dort, wo auch der Autor Roman Israel lebt. Weitergehen soll es eigentlich nach Lwiw in der Ukraine. Und das Jahr, in dem das alles spielt, erfahren wir auch. Es ist das Jahr der Europa-Fußballmeisterschaft 2016. In Polen regiert noch die PiS und schürt mit allen Mitteln die Ressentiments gegen die Deutschen.

Aber um Politik geht es nicht, geht es eigentlich nie im Leben der Menschen. Geht es auch dem Erzähler nicht, der nach einer völlig verspäteten Zugankunft nächtens in Kraków landet, seine gebuchte Unterkunft ist weg. Die Straßen sind verschneit. Die ganze Weltreise beginnt also schon einmal mit einer Situation, in der scheinbar gar nichts mehr geht. Wäre da nicht die Polin, die er hier wieder trifft, die ihn am Ende in ihrer Wohnung übernachten lässt.

So, wie das Leben meist spielt. Nur spielt das Leben eben auch manchmal Streiche. So lernen wir einander kennen. Zufällig, unerwartet und unterwegs. Eigentlich mit den Gedanken ganz woanders – auf Weltreise zum Beispiel, auch wenn man schnell merkt, dass dieser Backpacker eigentlich gar nicht weiß, wo er wirklich hin will. Er wollte nur sein bisheriges Leben hinter sich lassen, Ballast abschmeißen und vielleicht beim Reisen einen neuen Faden finden.

Die Lebensgeschichten der Anderen

Und dann ist es erst der Schnee, der ihn am Weiterreisen hindert. Und dann entspinnt sich zwischen ihm und seiner Gastgeberin dann doch so etwas wie ein Verhältnis. Labil, gefährdet. Ein Spiel, bei dem immer im Raum steht, dass er morgen seinen Koffer packt und weiterzieht. Denn eigentlich war weder Kraków das Ziel seiner Reise, noch diese alte Neubausiedlung in Nova Huta, wo Monica lebt und von wo aus sie die alte polnische Königsstadt erkunden, meist mit Dackel Pawel dabei, der denselben Namen trägt wie Monicas Ex.

Also eine Art Liebesroman. Aber eben keiner mit Herzchen und Wonnemond. Denn die beiden sind keine Backfische mehr. Sie haben beide ihr Leben gelebt, auch wenn Monica deutlich älter ist als der gestrandete Reisende. Was ihn durchaus irritiert. Aber warum faszinieren uns andere Menschen eigentlich? Erst recht, wenn sie schon eine Geschichte mitbringen?

Eine Geschichte, von der sich dann nach und nach herausstellt, dass sie so, wie Monica sie erzählt hat, nicht stimmt. Das kommt immer dazu: Wir basteln uns unsere Lebensgeschichte zurecht. Erst recht, wenn es darin Niederlagen und Verluste gibt, die wir eigentlich vergessen wollen. Die gibt es auch in Monicas Leben, auch wenn gerade ihr Selbstbewusstsein den Reisenden beeindruckt. Sie spielt mit ihm. Das merkt er auch.

Und immer wieder gibt es Situationen, da ist er drauf und dran, einfach weiterzuziehen, gerade wenn sie sich verweigert, ihn regelrecht schneidet oder gar tagelang verschwindet. Sodass er nicht mehr weiß, ob er tatsächlich eine Rolle in ihrem Leben spielt oder doch nur ein Spielzeug ist. Oder ob das, was sie nun wieder erzählt, überhaupt stimmt. Denn ob das, was er da abends im stillgewordenen Nova Huta hört, tatsächlich Eulen sind, bezweifelt er. Genauso wie deren Existenz im Haus unter der Eule, das Monica ihm zeigt.

In fremden Sprachen nebeneinander

Man gerät in fremde Erzählmuster, wenn man sich auf andere Menschen einlässt. Das könnte auch so in Leipzig, Wien oder Bremen passieren. Oder auch nicht. Kraków ist, was das betrifft, poetischer. Und steht auch für die Tatsache, dass man völlig entwurzelt, wenn man sich auf einen anderen Menschen einlässt – von Zweifeln und Unsicherheiten geplagt.

Denn man weiß es ja von sich selbst, wie sehr man in seinen eigenen Lebensgeschichten steckt. Und hat auch seine Erfahrung gemacht mit den Menschen, auf die man sich eingelassen hat, die ihre eigenen Muster und Legenden mitbrachten. Und lebten und zelebrierten. Manche merken das gar nicht, lassen sich ein aufeinander und stecken doch nur in ihren angelernten Gewohnheiten und Regeln fest.

Man lernt eigentlich eine völlig neue Sprache, wenn man sich so begegnet wie diese beiden. Auch deshalb ist Polen eine passende Folie, so wie es das deutsch-polnische Verhältnis ebenfalls ist. Man lebt zwar seit 1.000 Jahren nebeneinander. Aber kennt sich trotzdem nicht, fremdelt und misstraut und pflegt eine innige Hass-Liebe. Wobei das, was sich zwischen den Beiden entwickelt, irgendwie keins von beidem ist.

Eher ein Tanz mit Regeln, die sich immer wieder gegenseitig ins Gehege kommen: die selbstbewusste Polin und der zutiefst verunsicherte Reisende, der selbst nicht weiß, ob sie ihn nun tatsächlich meint oder ob er einfach auswechselbar wäre gegen irgendwelche anderen beliebigen Männer.

Es ist auch ein starkes Bild. Aber genau so lernen wir uns ja kennen: als namenlose Reisende auf den leeren Bahnsteigen völlig fremder Orte. Es kann passieren, dass wre uns begegnen und aus einem Moment der noch völlig bedingungslosen Bekanntschaft etwas wird, was uns dann ein Jahr lang oder noch viel länger beschäftigt. Und eben einen Menschen kennenlernen lässt, der uns fasziniert und überfordert in einem.
Und zutiefst verstört, weil Nähe auch verletzlich macht.

Und eigentlich dazu animiert, alle Schotten hochzufahren und von sich selbst lieber nichts preis zu geben. Ein sehr, sehr deutsches Problem: ja nicht verletzbar erscheinen. Deswegen sind wir so oft grantig, unwirsch, abweisend und zurechtweisend. Das passiert auch dem Helden dieser verhinderten Welt-Reise-Geschichte. Obwohl er mit Monica mehr als genug erlebt. Da braucht man gar nicht erst um die Welt zu reisen. Denn auf der Reise des Lebens geht es letztlich immer wieder um das Sich-Draufeinlassen. Gerade auf Menschen.

Wie ernst meinen wir es eigentlich?

Wer sich nicht traut, sich auf andere Menschen einzulassen, erlebt niemals, wie intensiv Gefühle sein können. Wie sehr man sich betroffen fühlen kann durch den Menschen neben sich – und seine (oder ihre) Abweisung. Das gehört dazu: All diese schrecklichen Momente des Missverstehens, des Falschverstehens, des Nicht-Wissens, woran man gerade ist. Oder wer man gerade ist. Nur reine Zufallsbekanntschaft, ein geduldeter Verehrer, ein Gast ohne Rechte?

Oder ist es eher Monica, die wissen will, ob der Gestrandete wirklich da bleiben will, und ob er tatsächlich sie meint. Und ob das eben doch nicht nur ein vergängliches Abenteuer ist. So begleitet man mit Roman Israel die beiden durch ein Jahr in Kraków, erlebt die intensivsten Szenen mit, stets aus der Perspektive des Reisenden, der dabei auch irgendwie in diesem Kraków heimisch wird und sich als Eis-Werbemaskottchen und Fremdenführer verdingt.

Denn Kraków ist natürlich auch ein beliebtes Touristenziel – augenscheinlich vor allem für Österreicher, die hier die alte, die Habsburger-Vergangenheit suchen. Noch so ein Moment der Fremdheit in der Fremde. Kann man da heimisch werden? Bleibt da nicht das Gefühl, dass die Menschen einen gar nicht als dazugehörig empfinden können?

Aber auch das ist komplizierter, als es einem die Boulevard-Blätter erzählen. Denn wenn wir uns einlassen auf andere Menschen und Orte, dann entstehen völlig andere Irritationen und Ungewissheiten. Dann landen wir in den Zwischenräumen, in denen jedes Signal anders gedeutet werden kann. So, wie es dem Erzähler am Ende geht, als er sich – wieder im Winter – in den Zug setzt, um endlich zu verschwinden. Doch jetzt gibt es in diesem Kraków eben etwas, das ihn nicht loslässt – und das ist nicht das Grab von Stanislaw Lem, das er auf der Suche nach einer Liebe aus seiner eigenen Vergangenheit zufällig entdeckt hat.

Was alles schiefgehen könnte

„Noch ein letzter Blick auf den Bahnsteig. Monica, da hinten, ist sie das? Nein, die ist viel zu groß. Wahrscheinlich taucht sie erst wieder auf, wenn du weg bist. Vielleicht ist es das, was sie bezwecken will, dass du gehst und sie sich nicht verabschieden muss, weil sie dich sonst nicht gehen lassen könnte.“

Da dürften sich viele Menschen wiedererkennen. In tausenden Situationen des Abschieds ohne Abschied, der ungesagten Worte, der Trennungen, die ein Rätsel bleiben. Aber auch in all den Momenten, in denen es einen zerreißt, weil man weiß, dass man eigentlich gar nicht wegfahren will. Aber muss.

Also wie im richtige Leben: eine ganz verflixte Geschichte. Die aber anders verläuft, als man dachte. Und anders endet. Natürlich. Sonst müsste das ja nicht erzählt werden. Und es ist bildhaft und intensiv erzählt. Hier meint es auch der Autor ernst mit seiner Geschichte und seinem Helden.

Und vielleicht auch mit der beiläufigen Botschaft, dass es wirklich völlig egal ist, ob man den mitgeschleppten Koffer nun im Zug vergisst, weil selbst die paar Habseligkeiten, die man noch hat, keine Rolle spielen, wenn wir in eine völlig neue Lebensgeschichte geraten. Wir sind so geeicht darauf, alles zu ordnen und sortiert zu haben, Buchhalter unseres eigenen Lebens, alles notiert auf Kreuzer und Heller – obwohl das mit Leben alles eigentlich nichts zu tun hat.

Was wir aber – darum geht’s hier ja nun einmal – erst erfahren, wenn wir uns tatsächlich in den Zug setzen und auf das Unbekannte einlassen. Mit all unserer anerzogenen Angst, was da alles schiefgehen könnte. Und natürlich geht es schief. Genau das ist ja das Leben. Wo alles in geordneten Bahnen läuft (ein Hoch auf Ordnung und Sicherheit!), passiert uns nichts. Und das ist tragisch, zutiefst tragisch. Denn Leben ist nur das, was uns passiert. Und was wir zulassen, dass es uns geschieht. Und wo Überraschungen auf uns lauern. „Womöglich wird es zwischen euch sogar wunderlich zugehen.“

Das wäre fast schon ein perfekter Schlusssatz. Aber da kommen noch ein paar. Wie das im Leben nämlich immer ist.

Roman Israel„Ein Jahr unter Eulen“ edition Überland, Leipzig 2024, 20 Euro.

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