Am Freitag, 2. März, veröffentlichte die Stadt Leipzig ihre neueste Studie zu "Jugend in Leipzig". Parallel veröffentlichte das Statistische Landesamt die neuesten Zahlen zu den Schülern an Gymnasien und Mittelschulen. Und die Zahlen zeigen deutlich, dass die verschärfte Bildungsempfehlung einen langjährigen Trend gestoppt hat. Die politischen Interpretationen gehen logischerweise kräftig auseinander.

Für die sächsische FDP war es eine Bestätigung des gemeinsam mit der CDU gehegten Glaubens, die Mittelschule sei das Zukunftsmodell im sächsischen Bildungswesen.

“Mit der veränderten Bildungsempfehlung ab Klassenstufe 4 wurde die Mittelschule als Herzstück des sächsischen Schulsystems deutlich gestärkt. Dies verdeutlichen auch die aktuellen Daten des statistischen Landesamtes. Darunter waren auch zahlreiche Kinder, die trotz einer Bildungsempfehlung für das Gymnasium auf die Mittelschule wechselten. Dies zeigt, dass sich Eltern intensiv mit der Wahl der Schulart beschäftigen und die Arbeit der Mittelschulen schätzen”, meint zum Beispiel Norbert Bläsner, bildungspolitischer Sprecher der FDP-Landtagsfraktion. “Die Entscheidung für die Mittelschule ist dabei keine gegen ein Abitur, sondern für einen alternativen Weg hin zum bestmöglichen Abschluss, der auch zum Abitur führen kann. Es geht nicht darum, nach Klassenstufe 4 möglichst viele Kinder auf das Gymnasium zu schicken, sondern für jeden Einzelnen den richtigen Weg zu finden und den bestmöglichsten Abschluss zu erreichen.”

Das “bestmöglichsten” klingt nach unüberbietbarer Perfektion.

Ähnlich betrachtet auch Kultusminister Roland Wöller (CDU) die Lage: “Alle Eltern wünschen sich einen möglichst hohen Schulabschluss für ihr Kind. Das ist verständlich, denn Bildung ist der Schlüssel zum Erfolg.” Der Weg zu einer beruflichen Karriere über Abitur und Studium könne in Sachsen neben dem Gymnasium auch über die Mittelschule und das Berufliche Gymnasium beschritten werden. “Gerade für Kinder, die eher praktisch und handlungsorientiert lernen, kann die Mittelschule genau der richtige Weg zum späteren Berufsleben sein”, erklärte Wöller.

Nachdem im Vorjahr noch 13.028 Kinder von 29.124 (44,7 %) ans Gymnasium gewechselt waren, waren es diesmal nur 11.875 von 29.345 Kindern (40,5 %). Seit 2003 hatte der Prozentsatz stets über 43 Prozent gelegen. Dabei bekamen bei den Mädchen 42,3 Prozent die Empfehlung fürs Gymnasium – im Vorjahr waren es noch 46,9 Prozent gewesen. Bei den Jungen waren es 38,7 Prozent (Vorjahr: 42,6 Prozent).Für Dr. Eva-Maria Stange, bildungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, eindeutig eine Chancenverminderung für viele Kinder. “Mit der von CDU und FDP vorgenommenen Verschärfung der Bildungsempfehlung beim Übergang von der Grundschule zum Gymnasium werden wie erwartet immer mehr Jungen zu Bildungsverlierern. Weder nach Klasse 4 noch zu einem späteren Zeitpunkt schaffen sie den Sprung auf das Gymnasium”, stellt sie fest. “Die aktuellen Daten des Statistischen Landesamtes zum Schulwechsel im Schuljahr 2011/12 sind ein handfester Nachweis der verfehlten bildungspolitischen Entscheidung von Schwarzgelb: Seit der Einführung der Neuregelung 2010/11, dass nach Klasse 4 nur mit einem Notendurchschnitt von 2,0 statt 2,5 der Wechsel auf das Gymnasium möglich ist, sinkt der Anteil der Jungen kontinuierlich und liegt aktuell bei 38,7 Prozent.”

Noch 2009/10 waren 44,2 Prozent der Jugendlichen, die das Gymnasium besuchten, Jungen. Im gleichen Zeitraum ist der Anteil der Mädchen von 54,1 Prozent auf 59,1 Prozent gestiegen. Zudem wechseln nach Klasse 5 viermal so viele Jungen vom Gymnasium zur Mittelschule. So betrachtet bekommt das Wort von den “praktisch und handlungsorientiert” lernenden Kinder, das der Kultusminister verwendete, einen ganz neuen Beiklang.

“Die schwarzgelbe Staatsregierung hat einen politisch verheerenden Kurswechsel eingeleitet”, stellt Stange fest. “Besonders betroffen sind davon Jungen, deren Weg zum Hochschulstudium über das allgemeinbildende Gymnasium weiter verengt wird. Ich fordere daher die Staatsregierung auf, diese Fehlentscheidung rückgängig zu machen und die Durchlässigkeit zum Gymnasium wieder zu verbessern. Dabei sollte der Elternwille eine deutlich größere Rolle spielen, als sture politische Quotenfestlegungen.”

Die Zahlen des statistischen Landesamtes bestätigen Stanges Einschätzung. Zwar können auch nach den neuen Regelungen die Schüler den nach der Klassenstufe 4 eingeschlagenen Bildungsweg ändern.

Norbert Bläsner scheint geradezu von diesem Umwehen zu schwärmen: “Zusätzlich wird mit der ab diesem Schuljahr verpflichtenden Bildungsempfehlung in der Klassenstufe 6 ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg zur Weiterentwicklung der Mittelschule zur Oberschule gegangen. Damit wird gerade für diejenigen Schüler, die den Sprung auf das Gymnasium nach Klassenstufe 4 noch nicht geschafft oder sich bewusst dagegen entschieden haben, eine zweite Chance eröffnet, auf das allgemeinbildende Gymnasium zu wechseln.

Dieser Schritt zur Weiterentwicklung der Mittelschule zur Oberschule wird im Schuljahr 2013/2014 weiter fortgesetzt. Dann werden Leistungsgruppen in Klasse 5 und 6 eingeführt und das Angebot der zweiten Fremdsprache ausgeweitet. Sie erhalten durch diese konkreten Angebote eine weitere echte Chance für den Wechsel auf das allgemeinbildende Gymnasium nach Klassenstufe 6. Zusätzliche Möglichkeiten, das Abitur zu erlangen, sind darüber hinaus beispielsweise Abendgymnasien oder berufliche Gymnasien. So wird die sächsische Oberschule als Kernstück des sächsischen Bildungssystems leistungsorientierter, durchlässiger und damit deutlich attraktiver.”

Aber was wie zusätzliche Chancen aussieht, wird vielen Betroffenen eher wie zusätzliche Hürden aussehen.

So entschieden sich zu Beginn des Schuljahres 2011/12 insgesamt zwar 412 Schüler für einen Wechsel von der Mittelschule an ein Gymnasium. Davon immerhin 232 Mädchen und 180 Jungen. Aber vom Gymnasium an eine Mittelschule wechselten gleichzeitig 1.349 Schüler – davon immerhin 743 Jungen und 606 Mädchen.

Wie sagt es doch der Kultusminister selbst so schön? – “Die Möglichkeit, über die Mittelschule zu höheren Abschlüssen zu kommen, ist bei Eltern und Schülern noch zu wenig präsent, obwohl im vergangenen Schuljahr rund 20 Prozent der Schüler mit einem guten Realschulabschluss am Beruflichen Gymnasium weitergelernt haben. An der frühzeitigen Information müssen wir weiter arbeiten.”

Kleine Hoffnung für alle Kinder (und deren Eltern), die jetzt knapp an der Empfehlung fürs Gymnasium vorbeigeschrammt sind: Erfüllt ein Schüler die Anforderungen für den Besuch des allgemeinbildenden Gymnasiums erst am Ende des Schuljahres, erhält er am 12. Juli 2012 eine zweite Bildungsempfehlung. Der Antrag auf Aufnahme am Gymnasium muss dann spätestens bis zum 23. Juli eingereicht werden.

Und auch diese Variante gibt es noch: Schüler, die keine Empfehlung für das Gymnasium erhalten, aber die Eignungsprüfung bestanden haben, müssen ihren Antrag bis zum 4. April 2012 stellen.

Zur Leipziger Studie “Jugend in Leipzig” und der Rolle von Bildung für die Lebenschancen junger Leute gibt’s morgen was an dieser Stelle zu lesen.

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