Auf dem Südfriedhof offenbart es der Grabstein, der auch seine Unterschrift trägt: am 9. April 2002 starb Jürgen Hart. "....Ist das schon so lange her?", fragen sich Leipziger, von denen er ein Original war. Jürgen Hart. "Sing, mei Sachse, sing!" Werden Leute an dieses Lied, ach was, diese Hymne der Sachsen, erinnert, lachen sie. Wikipedia lässt die Einstufung als Volkslied gelten.

1942 in Treuen im Vogtland geboren, kam er 1963 nach Leipzig, wurde Diplomlehrer und unterrichtete von 1967 bis 1970. Im Jahre 1966 entstanden die academixer, damals nannte man es Amateurkabarett, Wikipedia gibt heute die Einstufung Freie Gruppe. Bis 1976 leitete Hart an der Karl-Marx-Universität das Poetische Theater “Louis Fürnberg”. Aber 1977 wurden die academixer Berufskabarett und Jürgen Hart ihr Chef, städtische Angestellte mit Planstellen – im Gewandhausorchester!

40 Kabarettprogramme hat Jürgen Hart für und mit seinen academixern geschrieben, herausgebracht, inszeniert, komponiert, gespielt! “Niemand konnte einen alten Kauz besser darstellen als er”, fand Meigl Hoffmann, Leipziger Kabarettist der nächsten Generation.

Als Jürgen Hart den jungen Studenten Bernd-Lutz Lange für das Kabarett warb, “da wusste er schon, wie so was geht”, erinnert sich Lange. “Universität und Partei ließen uns eigentlich in Ruhe, kontrollierten gelegentlich, aber sie wollten sich nicht noch einmal so etwas leisten, wie mit dem ?Rat der Spötter’!”, sagte Jürgen Hart einmal verschmitzt im Interview. Mit Peter Sodann und seinen Kabarettistenfreunden wie Ernst Röhl, Peter Seidel, Heinz-Martin Benecke hatte man 1961 kurzen Prozess gemacht und sie in den Knast gesteckt.
DDR-Mangelwirtschaft leistete sich Satiriker

Ein academixer-Gründungsmitglied, Christian Becher, würdigte nach Jürgen Harts Tod sein geniales Um-die-Ecke-Denken: “Als sich die Kabarett-Figuren 1990 auf der Bühne fragen: ?Sind wir nun gescheitert oder gescheiter?’ ließ der Texter Hart antworten: ?Beides.'”

In der DDR, deren Mangelwirtschaft nach Bilanzanteilen zugeteilt wurde, entstand plötzlich eine neue Kabarett-Spielstätte! In einem damals unbekannten Keller, dem früheren Empfangsräumen des Messehauses Dresdner Hof, mit art-deco-Ausstattung und nachgebautem Bauhaus-Gestühl, von Marcel Breuer entworfen. Kabarett war überaus beliebt. Am Beispiel von Gurkenbuden und Pflaumenkucheneinspritzmaschinen sezierten die Kabarettisten scheinbar unüberwindliche sozialistische Realitäten. Es war ein Glücksfall für das Ensemble, denn hier standen die bekannten Gesichter auf der Rampe, Jürgen Harts Ehefrau Katrin Bremer zählte auch dazu, gelegentlich ein neues dabei, ab und an Gäste. Astrid Bless kam vom Schauspielhaus herüber und genoss es, statt “undankbarer Tragödienrollen” ihrer Muttersprache dialektfein freien Lauf zu lassen.

Halbjährlich stellten sich Betriebs-Kultur-Obleute an der Kasse an, jeden Freitag gab es in der Leipzig-Information die Kabarett-Schlange, wer rechtzeitig da war, bekam vier Karten.

Als Mensch und Gesprächspartner war Jürgen Hart angenehm, als Journalist durfte man zu ihm nach Hause kommen, bekam vorab gesagt, wie viel Zeit er habe, und dann lobte er: “Schön, dass sie pünktlich sind!” Er sprach leise, mit Bedacht, fast immer druckreif. Und er grinste wie auf der Bühne, wenn man ihm Eindrücke von Gesehenem und Gehörtem schilderte oder seine Bühnentexte zitierte.
Gegen die Veränderungsunwilligen

“Der Hauptgegner ist eigentlich immer der Veränderungsunwillige gewesen. Der konnte von links genauso gut kommen wie von rechts, insofern ist die Positionsbezeichnung Linker oder Rechter völliger Humbug.” So sagte es Jürgen Hart, gemeint war das DDR-Kabarett, aufgezeichnet im Buch “Fünf Dialoge mit einem Freund, herausgegeben von Klaus Rendgen im Jahr 2002. “Das bedrückendste war, dass im Laufe der Jahre die DDR alle jene Züge hervorkramte, die in anderen Gesellschaftsformationen zu den bekämpfens- und hassenswertesten zählten. (…) ein rotes Tüchlein drüber und es ist sozialistisch.”

Auf der “Messewelle” von Radio DDR Sender Leipzig hatte man den academixern einen Spielplatz gebaut. Mit den “Amessements” gab es nachmittags eine halbe Stunde Humor mit Sächsisch for you, neu geschriebenen Späßen und alten Texten von Lene Voigt und anderen Autoren der 20er Jahre, die gerade als “Kulturerbe” im “Sachsenbuch” des Zentralhauses für Kulturarbeit wachgeküsst worden waren. Vom Herausgeber Wolfgang U. Schütte muss auch Jürgen Hart wach geküsst oder angeregt worden zu sein, denn plötzlich kam das Programm “Dr Saggse – Mänsch un Miedos” heraus. Ein Aufarbeiten sächsischer Literatur, die gut und gern 50 Jahre vergessen worden war. Schlagartig wurde Sächsisch, unter dem Begriff “Klassiker” bühnenfähig. Diese Bühne betraten dann später Tom Pauls, Uwe Steimle und viele andere.

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In der “Sächsischen Hitparade” der “Amessements” hatte auch ein Lied namens “Sing, mei Sachse, sing!” in einer Art Kammermusik-Version seine Uraufführung. Arndt Bause machte daraus später einen Marsch – und Jürgen Hart berühmt! Zunächst als Single, dann auf der LP “Hart bleibt Hart” dröhnte der vermeintliche Faschingshit ganzjährig durch die sächsischen Stuben und die Stuben gebürtiger Sachsen in den Bezirken Leipzig, Dresden und Karl-Marx-Stadt, und überall da, wo Sachsen hingezogen waren. Also auch über die Grenze in den Westen.

Jürgen Hart hatte bis dahin Kabarettnummern über Schlagersternchen und ihre Probleme geschrieben und gespielt – und staunte, was nun um ihn herum passierte! “Da war er baff”, hat Arndt Bause – übrigens mit sächsischem Akzent – später mal zurückgeblickt, “dass er für sich und seine Familie plötzlich so ein Haus kaufen konnte!”

Jürgen Hart ohne Grimm und Groll in der Wichtelrepublik

Nach der friedlichen Revolution des Volkseigentums und der städtischen Finanzhaushalte räumte Jürgen Hart das Feld bzw. den Chefstuhl. Freilich blieb er dem academixer-Keller als Spielstätte treu. Seinen Humor hat er in der hereinbrechenden Neuzeit nicht verloren, seine genauen Beobachtungen und die satirischen Gegen-Vorschläge auch nicht. Davon erzählt das Buch “Aus der Wichtelrepublik – Märchen ohne Grimm und Groll”.

Er schrieb die “Geschichte der Sachsen” 1995 als Buch auf – und brachte sie unter dem Titel “Augen zu und durch” im Chemnitzer Schauspielhaus heraus. Eine sächsische Familie saß in ihrer Wohnküche und stellte einen Kartoffelsalat her, daneben liefen kurze, pointierte Szenen, beinahe perfekt eingekleideter Akteure ab, heute nennt man es Living History und Reenactment und es findet meistens auf der Straße oder in tatsächlich historischen Kulissen statt.

Jürgen Hart wollte seine Bühnenversion der sächsischen Geschichte noch einmal wiederholen, dann nur mit wenigen Darstellern – aber dazu kam er leider nicht mehr.

Er nahm anderen übel “wenn sie nur auf ihrem eigenen Müll herumtreten”, heute heißt das “Best of…”

Er genoss es, statt mit Luxusliner auf einem Frachtschiff mitzufahren. Sauer war er auf einen Kapitän, der ihm verbot, mit der Mannschaft Interviews für ein Radio-Feature zu machen.

In den Münchner Kammerspielen war er der Theaterdirektor Emanuel Striese im “Raub der Sabinerinnen”. Gucke mal an, da brauchten die Bayern einen echten Sachsen für den Quoten-Sachsen auf der Bühne!

Dass ein Sprachprofessor der Leipziger Universität im 21. Jahrhundert erst herausfinden musste, dass es den einen sächsischen Dialekt gar nicht gibt, weil von Ort zu Ort, Landstrich zu Landstrich große Unterschiede zu hören sind, hätte man sich sparen können, denn das wusste schon Jürgen Hart. Er stand auf der Leipziger Bühne mit dem gebürtigen Zwickauer Bernd-Lutz Lange und dem gebürtigen Dresdener Gunter Böhnke. Auf die Frage “Wo Sachsen am sächsischsten ist?” vermutete er, “in der Mitte: so die Gegend um Döbeln und Oschatz!”.

Im Buch “Fünf Gespräche mit einem Freund” hat Jürgen Hart auf der letzten Seite noch einen Wunsch, er will wieder mit einem Frachtschiff reisen und schreiben: “Australien, Neuseeland und die ganzen Inselstaaten dort im südlichen Stillen Ozean kurz anschauen, aber es ist eben tüchtig weit weg.”

Für sein Grab wünschte er sich den Platz neben der sächsischen Mundartdichterin Lene Voigt. Den hat er auch bekommen.

Seine Tochter Elisabeth ist längst Schauspielerin geworden, ein Teil der Trauerfeiern 2002 war im academixer-Keller, damals noch junges Mädchen und Jahre vor dem Studium sagte sie: “Ich bin stolz darauf, dass der Mann mein Vater war.”

Buchtipp:

“Die unglaubliche Geschichte Sachsens” wurde 2011 vom Eulenspiegel Verlag Berlin neu aufgelegt.

“Jürgen Hart: Fünf Gespräche mit einem Freund”, Herausgegeben von Klaus Rendgen, Leipziger Universitätsverlag 2002.

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