Der Abschied fällt so schwer. Auch Gunter Böhnke, der sich auch als Kabarettist so sehr darum bemüht hat, das Sächsische als Dialekt am Leben zu erhalten, hadert mit der Vergänglichkeit, die niemand so deutlich benannt hat wie der Leipziger Sprachprofessor Dr. Beat Siebenhaar. Das Sächsische als Alltagsdialekt ist tot. Als Regiolekt ist es noch zu hören. So ist Böhnkes neues kleines Büchlein auch eine Art trotziger Abschied.

Beim Regiolekt geht es eigentlich nur noch um einen Nachklang des einstigen Dialekts, um diverse „uneinheitliche dialektale Eigenheiten“, die der Umgangssprache eine gewisse Färbung geben. Aber der eigentliche Wortschatz, der einmal den Dialekt prägte, verschwindet.

Weshalb es ja in Dresden seit 2008 einen regelrechten Wettbewerb um die schönsten, aber auch die bedrohtesten sächsischen Wörter gibt. Ein stark ostmeißnisch-lastiger Wettbewerb, schon deshalb, weil er wesentlich im Gebiet der „Sächsischen Zeitung“ vonstattengeht, die nun einmal in Dresden erscheint, wo Ostmeißnisch gesprochen wird bzw. wurde.

Magere Reste

Denn das Sächsische an sich gab es nie. 21 verschiedene Dialekte konnten die Erarbeiter des 1994 bis 2003 publizierten „Wörterbuchs der obersächsischen Mundarten“ ausmachen. Wer in Sachsen aufgewachsen ist, hört die Unterschiede heraus und merkt, ob jemand aus dem Erzgebirge kommt, aus Chemnitz oder aus Leipzig, wo nun einmal kein Ostmeißnisch gesprochen wird, sondern Südwestosterländisch.

Die dialektale Färbung ist noch da, der Dialekt aber zum Relikt geworden. Selbst ältere Sachsen, die bei ihren Eltern und Großeltern noch den ungezähmten Gebrauch ihrer Mundart erlebt haben – so wie Gunter Böhnke bei seiner Großmutter – haben nur noch Bruchteile des einstigen Wortschatzes parat. Da gibt es dann immer die bekannten Juchzer, wenn einer Hiddsche oder Modschegiebchen sagt und weiß, was gemeint ist.

Das sind quasi die beiden Signalwörter, bei denen der ganze Saal staunt: Schau mal an, der kann ja Sächsisch! –
Kann er meist nicht (mehr). Denn schon die Mitarbeiter am Wörterbuch der obersächsischen Mundarten liefen einer verschwindenden Sprache hinterher.

Eile tat Not, als sie in den 1950er Jahren (wieder) anfingen zu sammeln, denn die Grundbedingungen, unter denen Dialekte überleben, waren schon damals am Verschwinden. Die Massenmedien haben dem Ganzen den Rest gegeben, von der Verachtung für den „unbeliebtesten Dialekt Deutschlands“, die in diversen vor allem westdeutschen Medien gepflegt wird, ganz zu schweigen.

Auch wenn die Erklärung, die Gunter Böhnke bei Beat Siebenhaar gefunden haben will, dass das sächselnde Staatsoberhaupt Walter Ulbricht schuld daran war und das Sächsische quasi als Dialekt der „da oben“ begriffen wurde, so nicht stimmt. Die Sache ist ganz bestimmt komplizierter und hat auch mit deutsch-deutschen Wertungen und Abwertungen zu tun.

Und mit Akzeptanz. Auch gebürtige Sachsen gewöhnen sich ihren Heimatdialekt ganz schnell ab, wenn sie damit in ihrem Versuch, Karriere zu machen, anecken und Ausgrenzung erfahren.

Die Oma hatte es noch drauf

Denn Unbeliebtheit hat immer zwei Seiten. Und oft ist nicht der Unbeliebte schuld daran, dass er abgewertet wird. Das nur so am Rande. Weil Gunter Böhnke darauf nicht weiter eingeht, sondern in der Rückschau versucht zu ergründen, warum das Sächsische so aus der Mode gekommen ist und man heute keine älteren Frauen wie seine Oma Auguste Hedwig Liebe mehr findet, die den sächsischen Dialekt ungehemmt und in ganzer Pracht noch zu benutzen verstehen.

Da müssen Jüngere schon selbst ins Wörterbuch schauen – wenn sie denn eins haben. Böhnke hat sich 2012 gleich das von Gunter Bergmann im Lehmstedt Verlag herausgegebene „Sächsische Volkswörterbuch“ besorgt, das im Grunde eine kleine Auswahl dessen ist, was im großen Wörterbuch aus der Akademie der Wissenschaften zu finden ist.

Hier findet man diese eigenartige Sprache noch in schöner alphabetischer Reihung, auch wenn nicht nur Böhnke so seine Kümmernisse mit der Schreibweise hat. Denn wer die sächsischen Gedichte Lene Voigts kennt, weiß, dass es sehr viele schöne weiche Konsonanten braucht, um die Aussprache des Leipziger Sächsisch, des Südwestosterländischen, tatsächlich schriftlich darzustellen.

Die Diskrepanzen beginnen ja schon, wenn einer dann in Wurzen aufgewachsen ist, also im Südostosterländischen, wie ein gewisser Hans Gustav Bötticher, den die Welt als Joachim Ringelnatz kennt. Da muss auch Böhnke extra dazuschreiben, dass ein Wort wie „thran’ger“ tatsächlich mit lauter weichen sächsischen Konsonanten ausgesprochen werden muss, sonst versteht’s keiner.

Die Seele des Volkes

Gar nicht groß anmerken muss man, was schon Goethe (gebürtiger Hesse) über den Dialekt wusste und was Böhnke umkreist, Kapitel um Kapitel: Dass sich im Dialekt die Seele eines Volkes manifestiert. Hier zeigt es Gefühle, kann es heftig sein, jemiedlich, hinterfotzig, kraftvoll und deutlich.

Womit man beim Deutschen wäre, in dem genau das ja steckt: die Sprache des Volkes, das sich immer schon traute, die Dinge genauer beim Namen zu nennen als die Herren Lateiner, Büroschimmel und Advokaten. Böhnke liefert Dutzende herrliche Bonmots aus dem Sprachschatz seiner Oma. Manche übersetzt er. Die meisten übersetzt er nicht.

Da muss sich dann jeder selbst einlesen und einhören.

Und er geht auf die Schicksale des sächsischen Dialekts in den vergangenen 90 Jahren ein. Denn nachdem erst der aus Thüringen stammende sächsische Gauleiter Mutschmann den sächsischen Dialekt regelrecht verbieten ließ und einer Lene Voigt das Veröffentlichen, bemüßigten sich auch die nachfolgenden Regierenden darum, die Dialekte im Osten zu verdrängen und den Arbeitern, Bauern und Genossen ein papiertrockenes Hochdeutsch einzupauken.

Bis sich dann in Leipzig ein paar Querköpfe diese Verordnung des Sprachgebrauchs nicht mehr gefallen ließen. Die Academixer nahmen Lene-Voigt-Texte mit in ihr Programm auf und feierten damit anhaltende Erfolge. Und Wolfgang U. Schütte wagte Anfang der 1980er Jahr die erste Veröffentlichung von Lene-Voigt-Texten nach fast 50 Jahren Ignoranz.

Nur im Westen waren ihre Texte weiterhin erschienen, all ihre „Glassigger“, die ein Mutschmann eh nicht begriff (wahrscheinlich genauso wenig wie die Klassiker-Vorlagen). Dabei sind gerade Lene Voigts „Bearbeitungen“ der klassischen Balladen voller Heimtücke, Hintersinn, Ironie und einem durch nichts verstellten Blick auf menschliche Schwächen, die Prinzen und Zauberlehrlinge genauso haben wie Führer, Lenker und andere gescheitelte Leute.

Dem Volk aufs Maul …

Und da kommt man dem Irrtum, den Gunter Böhnke bei Beat Siebenhaar gefunden haben will, ein ganzes Stück näher. Denn auch in der DDR wurde das Sächsische nie als Sprache der Herrschenden verstanden. Im Gegenteil: Es war ein Dialekt der einfachen Leute und damit immer auch subversiv (mit Hans Reimann, Joachim Ringelnatz und Lene Voigt sowieso).

Es war nicht einmal Herrschaftssprache, als Martin Luther 1521 auf der Wartburg die Bibel übersetzte – nicht ins Sächsische, auch wenn das oft so kolportiert wird. Sondern in eine sehr dichterische Variante der Meißner Kanzleisprache, die damals als die beste verfügbare Standardvariante des Hochdeutschen galt.

Das Volk, dem Luther zuhörte, eifrig „aufs Maul schaute“, sprach trotzdem ganz anders. Aber daher bezog er vor allem die vielen farbigen Redewendungen, die seine Bibelübersetzung so lebendig und einprägsam gemacht haben.

Gunter Böhnke geht darauf ein, mag sich aber – als gestandener Kabarettist – nicht so gern trennen von der schönen Floskel, Luther hätte das Neue Testament ins Sächsische übertragen. Die Gläubigen hätten wahrscheinlich vor Lachen in den Kirchbänken gelegen, hätte er das tatsächlich getan.

Auch weil die Fallhöhe so hoch gewesen wäre. Denn auch wenn Luther immer die Verständlichkeit für das Volk im Auge hatte, war sein Maßstab dennoch eine Bibelübersetzung, die vor allem bei den Gelehrten seiner Zeit akzeptiert wurde, also bei den Eliten und Akademikern.

So wird der Bibeltext ja heute meist noch von der Kirche und den Theologen benutzt. Die Gleichnisse eignen sich ja so schön, sich dahinter zu verstecken und die Gläubigen schön im Unklaren zu lassen.

Frankreich im Herzen

Deutlich und volkstümlich geht anders. Und man ahnt, warum Gunter Böhnke nach all den jahrzehntelangen Mühen, das Sächsische zu retten, sich so grämt, dass so wenig dabei herausgekommen ist und der farbenreiche Sprachschatz verloren zu gehen droht.

Es sind ja nicht nur fest regional verortbare Begriffe, die verschwinden. Es sind auch viele liebevolle Anleihen an der französischen Sprache, zu der die Sachsen historisch immer eine ganz besondere Beziehung hatten. Warum, das hat noch niemand so richtig geklärt.

Die Besetzung durch französische Truppen nach der Schlacht von Jena und Auerstedt kann nur einen Teil, der vielen Übernahmen aus dem Französischen erklären. Böhnke geht hier insbesondere auf das Wort Fisimatenten ein. Aber vom Muggefugg über die Schäselongsch bis zum Dähds und der Rage finden sich Dutzende, wenn nicht hunderte Lehnworte aus dem Französischen, deren Herkunft man erst merkt, wenn man die Worte ausspricht.

Ein ganzes Kapitel widmet Böhnke dieser sächsischen Selbstbedienung. Vielleicht setzt sich ja auch mal ein Sprachforscher dran und untersucht einmal dieses ganz spezielle Gebiet eines Dialekts, der das Volkstümliche wie kein anderer mit einem gewissen Bildungsanspruch verbindet.

Und wäre es auch nur ein angemaßter, mit jeder Menge Ironie. Denn nirgendwo wird die sächsische Ironie deutlicher als in der Anwendung französischer Lehnwörter aus der Hochkultur auf die in der Regel kleinen und sparsamen Verhältnisse in sächsischen Haushalten.

Ganz gibt Böhnke seinen Kindheitsdialekt nicht verloren und baut auf „sächsische Sprachenthusiasten“, die ihre Muttersprache unermüdlich pflegen „und so lange hochhalten, bis man sie auch ‚drüben‘ wahrnimmt.“ An der Geduld sächsischer Sprachenthusiasten braucht man wohl nicht zu zweifeln.

Aber ob das hilft gegen seit Jahrzehnten festgemauerte Vorurteile in westdeutschen Medien und Versuchsanstalten, ist die Frage. Letztere haben sich seit 32 Jahren als resistent erwiesen gegen jede Änderung ihrer festgemauerten Ansichten zum Osten im Allgemeinen und zum Sächsischen im Speziellen.

Wobei sich Siebenhaar und Böhnke in einem einig sind: Der heimatliche Dialekt ist immer auch Teil der eigenen Identität und Identifikation. Es geht ans Eingemachte – und an die Würde – wenn das nicht akzeptiert wird und sogar lächerlich gemacht.

Ein ganz kleiner Nebenbeigedanke aus einem kleinen Buch. Aber nicht ganz von der Hand zu weisen, wenn andere sogar noch stolz darauf sind, dass sie alles können – außer Hochdeutsch.

Gunter Böhnke Säggs’sch. Fast vergessen Buchverlag für die Frau, Leipzig 2022, 5 Euro.

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Keine Kommentare bisher

Ich freue mich sehr auf Gunter Böhnkes Text.
Ich möchte allerdings darauf hinweisen, dass ich nie behauptet habe, die negative Einstellung zum Sächsisch sei auf Ulbrich und die DDR zurückzuführen. (siehe Siebenhaar, Beat (2011): “Der sächsische Dialekt”. In: Donath, Matthias und André Thieme (Hg.): Sächsische Mythen. Leipzig: Edition Leipzig: 91–99.). Ulbrich ist nur eine weitere Facette…
Beat Siebenhaar

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